# taz.de -- Wirtschaftssanktionen gegen Russland: Der Rubel rollt nicht | |
> Die Sanktionen gegen Russland haben die Wirtschaft zwar nicht zu Boden | |
> gebracht, aber angeschlagen. Nun orientiert sich das Regime in Richtung | |
> Osten. | |
Bild: Weil weniger Autos westlicher Hersteller produziert werden, steigt die La… | |
Stellen wir uns vor, die russische Wirtschaft sei ein großes Schiff. Noch | |
genauer und passender: ein großes Kriegsschiff. Stellen wir uns weiter vor, | |
die Wirtschaftssanktionen, die die Europäische Union und die USA gegen | |
Russland erhoben haben, seien Kanonenkugeln, mit denen auf das Schiff | |
geschossen wird. | |
Was haben sie bewirkt? Das Kriegsschiff ist noch längst nicht gesunken. Es | |
ist aber angeschlagen, Wasser ist eingedrungen und Rost hat bereits den | |
Rumpf angegriffen und die Mechanik beschädigt. Das System versagt langsam, | |
die Navigation wird ungenauer. Das Schiff wird zwar nicht morgen sinken, | |
aber seine Chancen, einen schweren Sturm oder eine Kollision mit einem | |
Eisberg zu überleben, schwinden von Tag zu Tag mehr. | |
Nach Ausbruch des Krieges weigerten sich Hunderte von internationalen | |
Unternehmen, darunter praktisch alle führenden Automobilhersteller der | |
Welt, in und mit Russland zu arbeiten. Die Auslieferung von Autos wurde | |
gestoppt und die Produktion in Russland eingestellt. | |
Firmen wie Mercedes-Benz verboten den russischen Vertragspartnern, ihre | |
Software für die Fahrzeugwartung zu nutzen. Es klingt wie eine kleine | |
Sache, das Beispiel zeigt aber gut, wie die mittlerweile elf | |
Sanktionspakete der Europäischen Union sowie diejenigen der USA sich auf | |
die russische Wirtschaft auswirken und ihre Entwicklung hindern. | |
## Rückbesinnen auf das Handwerk | |
Denn für Autohändler heißt das: Sie müssen auf in Russland produzierte | |
Lada, chinesische Chery und Haval setzen. Um Autos aus dem Westen zu | |
warten, müssen sie erfinderisch werden, neue Software einsetzen, sich aufs | |
Handwerk rückbesinnen. Das bedeutet mehr Kosten, einen Rückgang der | |
Produktion und damit sinkende Einnahmen. Was können sie tun? Die Preise für | |
ihre Kunden erhöhen. Damit wiederum tragen sie zur allgemeinen | |
Beschleunigung der Inflation in Russland bei. | |
Bereits 2019 lag die Produktivität Russlands [1][nach Angaben der | |
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] um | |
die Hälfte hinter dem Durchschnitt der EU und um das Zweieinhalbfache | |
hinter dem der USA zurück. Auf neue Technologien konnte sich die Wirtschaft | |
nur schlecht einstellen. Auch im Jahr 2021 [2][brachten nur wenige der | |
großen und mittleren russischen Unternehmen Innovationen hervor]. Die | |
Sanktionen werden die Bilanz weiter verschlechtern. | |
Je niedriger die Produktivität, desto geringer ist das Wachstumspotenzial | |
der russischen Wirtschaft. Bis 2022 wurde dies auf [3][1,5 bis 2 Prozent | |
pro Jahr] geschätzt. Durch den Krieg und die Sanktionen liegt das | |
Wachstumspotenzial nach Ansicht unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler | |
[4][nur noch bei 0,5 Prozent pro Jahr]. Damit wird der Rückstand Russlands | |
gegenüber den entwickelten Volkswirtschaften und vielen Schwellenländern | |
zunehmen. | |
## Trügerisches Wachstum durch Kriegsausgaben | |
Russische Wirtschaftsexperten erwarten für das Jahr 2023 ein Wachstum der | |
Wirtschaftsleistung von 1,5 Prozent. Hauptquelle für das Wachstum sind die | |
enormen Kriegsausgaben. | |
Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres beliefen sie sich auf rund | |
55 Milliarden Dollar, das sind 37 Prozent der russischen Staatsausgaben. | |
Bis zum Ende des Jahres könnten die Militärausgaben auf 100 Milliarden | |
Dollar anwachsen – mehr als das jährliche Bruttoinlandsprodukt von | |
Bulgarien (89,1 Milliarden Dollar im Jahr 2022) oder Luxemburg (82,3 | |
Milliarden Dollar). | |
Doch das durch Militärausgaben erzeugte Wachstum ist trügerisch: | |
Militärausgaben ermöglichen keine echte Wirtschaftsentwicklung. Sie | |
behindern sogar die zivile Industrieproduktion. Ein Beispiel: Der | |
Rüstungshersteller Uralwagonsawod hat vor Kurzem Mitarbeiter seiner zivilen | |
Geschäftsbereiche für die Rüstungsproduktion abgezogen. Das führte zu einem | |
Rückgang der Produktion von Güterwaggons, während gleichzeitig die | |
Nachfrage danach stieg: Russische Exporteure verlegen den Transport ihrer | |
Produkte in Richtung asiatischer Märkte nämlich verstärkt auf den | |
Schienenverkehr. | |
## Leben auf Reserve | |
Hinzu kommt, dass die Einnahmen des russischen Staates sinken. Einer der | |
Hauptgründe ist die [5][Preisobergrenze von 60 Dollar pro Fass für | |
russisches Öl], die die EU und die USA festgelegt haben. | |
Russland behauptet zwar, sein Öl zu mehr als 60 Dollar an die asiatischen | |
Märkte zu liefern, das stimmt aber vermutlich nicht. Die Exporteure | |
verlieren also Einnahmen, und so zahlen sie auch weniger Steuern. Von | |
Januar bis Juli 2023 lagen die Öl- und Gaseinnahmen des russischen Staates | |
um 41 Prozent niedriger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die | |
Gesamteinnahmen sind um 8 Prozent niedriger als im Vorjahr. | |
Derzeit lebt Russland von Reserven, die es in der Vergangenheit aufgebaut | |
hat. Um dem Haushaltsdefizit entgegenzuwirken, hat das Finanzministerium in | |
Moskau angekündigt, ineffiziente und aus Sicht der Behörden nicht | |
prioritäre Ausgaben zu kürzen. Militärische Posten sollen davon nicht | |
betroffen sein, aber beim Bau und der Reparatur von Straßen, bei der | |
Erneuerung der Energieinfrastruktur sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen | |
will die russische Regierung sparen. Das wiederum wird die Wirtschaft | |
zusätzlich schwächen. | |
## Auch der Rubel ist betroffen | |
Davon ist auch der Rubel betroffen. Durch die Kombination aus hohen | |
Haushaltsausgaben, einem wachsenden Haushaltsdefizit und verschärften | |
Sanktionen hat die russische Währung seit Anfang des Jahres gegenüber dem | |
Dollar um 25 Prozent an Wert verloren. Im Vergleich zum Sommer 2022 hat | |
sich sein Wert halbiert. Das ist die schlechteste Performance aller | |
Währungen der Schwellenmärkte (Stand August). | |
Der Rubel fällt aus mehreren Gründen. Die Nachfrage nach ausländischen | |
Währungen in Russland wächst. Die steigenden Haushaltsausgaben tragen zu | |
einer steigenden Nachfrage nach Importen bei. Unternehmen, die im Auftrag | |
des Staates arbeiten, kaufen Ausrüstung und Komponenten im Ausland. | |
## Kapital bleibt im Ausland | |
Die Verbraucher, deren Einkommen dank steigender Löhne und neuer | |
Sozialleistungen wachsen, nehmen leichter Kredite auf und sind bereit, Geld | |
für größere Anschaffungen wie Haushaltsgeräte, Elektronik und Autos | |
auszugeben, von denen viele immer noch aus dem Ausland kommen. | |
Gleichzeitig werden die Importe durch die Sanktionen teurer – den | |
Importeuren entstehen zusätzliche Kosten, wenn sie Waren über neue | |
Lieferwege einführen – teils im Graubereich der Legalität. Logistik und | |
Frachtversicherung werden ebenfalls teurer. | |
Mit der wachsenden Nachfrage nach ausländischen Währungen schrumpft auch | |
deren Angebot. Russische Exporteure bezahlen ihre Geschäftspartner | |
zunehmend in Rubel, mittlerweile betrifft das 39 Prozent der Exporte. Und | |
die Unternehmen, die weiterhin Fremdwährungen für ihre Waren erhalten, | |
haben es nicht eilig, diese nach Russland zurückzuführen. Ihr Kapital | |
behalten sie lieber im Ausland. | |
## Obligatorische Empfehlungen | |
Die sogenannte psychologische Marke hat der Rubel Mitte August erreicht, | |
als der Dollar auf 100 Rubel stieg. Die russischen Behörden hatten noch | |
versucht, der Abwertung entgegenzuwirken: Die Zentralbank erhöhte umgehend | |
den Leitzins von 8,5 Prozent auf 12 Prozent. Dadurch sollte erreicht | |
werden, dass Unternehmen und Verbraucher weniger Kredite aufnehmen. | |
Auch die Nachfrage nach Importen, das heißt nach Devisen, sollte verringert | |
werden. Selbst der russische Präsident, Wladimir Putin, reagierte darauf | |
und nahm die Kontrolle „in die eigene Hand“, [6][so die russische Zeitung | |
Wedomosti]. | |
Putin versammelte und warnte die großen Exportunternehmen auf einer | |
geschlossenen Sitzung: Sie sollten anfangen, Devisenerlöse freiwillig auf | |
den russischen Devisenmarkt zurückzuführen. Sollte diese „Empfehlung“ nic… | |
wirken, könnte sie obligatorisch werden. Außerdem drohten die Behörden mit | |
einer höheren Steuerlast. Kurz nach der Veröffentlichung dieser Nachricht | |
stieg der Rubel leicht von 100 auf 93 Rubel pro Dollar. Doch das wird nur | |
eine leichte Erholung sein. | |
## Eine neue Form der russischen Währung | |
Im August begann die russische Zentralbank damit, eine neue Form der | |
russischen Währung zu testen: Rein theoretisch könnte ein digitaler Rubel | |
Russland dabei helfen, die Nachfrage nach ausländischer Währung etwas zu | |
senken und den internationalen Zahlungsverkehr angesichts der Sanktionen zu | |
vereinfachen. | |
Bislang handelt es sich dabei nur um ein Experiment, an dem 15 russische | |
Banken beteiligt sind. Zukünftig könnte die russische Zentralbank eine | |
gesonderte internationale Plattform für den internationalen Zahlungsverkehr | |
in digitalen Währungen schaffen – so führen die chinesischen Behörden | |
beispielsweise auch derzeit den digitalen Yuan ein. | |
Dies sind jedoch nur theoretische Modelle. Bislang sind Auslandszahlungen | |
mit dem digitalen Rubel noch Zukunftsmusik. Das liegt vor allem daran, dass | |
Russlands Handelspartner, anders als Russland selbst, nicht vom globalen | |
Finanzsystem abgeschnitten sind. Damit sind sie weniger an einer neuen | |
Plattform für internationale Zahlungen interessiert. | |
Margarita Liutova ist Mitarbeiterin des russischen Onlinemediums Meduza. | |
Die taz präsentiert immer mittwochs die wichtigsten Texte des im Exil | |
produzierten Mediums unter [7][taz.de/meduza] | |
Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla | |
24 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=54563 | |
[2] https://issek.hse.ru/news/819415115.html | |
[3] https://econs.online/en/articles/opinions/labor-capital-and-technology/ | |
[4] https://thebell.io/chem-rossiyskaya-ekonomika-zaplatit-za-mobilizatsiyu-i-e… | |
[5] /Wirtschaftssanktionen-gegen-Russland/!5950928 | |
[6] https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2023/08/16/990533-vlasti-reshil… | |
[7] /meduza | |
## AUTOREN | |
Margarita Liutova | |
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