# taz.de -- Weltflüchtlingsbericht des UNHCR: Fast 120 Millionen auf der Flucht | |
> Der Bericht des UNHCR konstatiert für 2023 erneut stark gestiegene Zahlen | |
> von Geflüchteten. Die Weltgemeinschaft hat keine Strategie, um diese | |
> Zustände zu überwinden. | |
Bild: Flüchtlinge im Mittelmeer | |
BERLIN taz | Die höchsten Wachstumsraten auf der Welt haben nichts mit der | |
Weltwirtschaft zu tun. Es sind die Zunahmen der Zahlen von Geflüchteten und | |
Vertriebenen. Der neue Weltflüchtlingsbericht des | |
UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, der die Lage zum Jahresende 2023 | |
analysiert [1][und an diesem Donnerstag veröffentlicht wurde], nennt die | |
Zahlen: Acht Prozent mehr Flüchtlinge Ende 2023 als Ende 2022, zehn Prozent | |
mehr Binnenvertriebene, die meisten davon in den ärmsten und | |
gewalttätigsten Ländern der Welt, wo Menschen buchstäblich um ihr Überleben | |
kämpfen. | |
Insgesamt waren Ende 2023 laut UNHCR weltweit 117,3 Millionen Menschen auf | |
der Flucht, rund doppelt so viele wie neun Jahre zuvor. In den ersten | |
Monaten 2024 dürfte die Zahl 120 Millionen überschritten haben, was vor | |
allem an der immer weiter zunehmenden Massenflucht Verzweifelter aus der | |
Hölle des Krieges in Sudan liegt – 12 Millionen Menschen, ein Viertel der | |
Bevölkerung, sind dort jetzt inner- und außerhalb des Landes auf der | |
Flucht. | |
Die Wachstumsraten von annähernd zehn Prozent verschleiern eigentlich das | |
Ausmaß des Horrors, denn sie beziehen sich auf die Nettozahl – also | |
Neuflüchtlinge, die vorher keine Flüchtlinge waren, abzüglich derjenigen, | |
die den Flüchtlingsstatus überwinden konnten. Allein sechs Millionen | |
Flüchtlinge und Vertriebene konnten 2023 in ihre Heimat zurückkehren, viele | |
weitere erlangten einen anderen Aufenthaltsstatus – oder starben. Umgekehrt | |
gibt es viele Neuvertriebene, die schon vorher Flüchtlinge waren, also in | |
der Gesamtstatistik bereits gezählt waren. Zählt man einfach diejenigen, | |
die im Jahr 2023 neu zur Flucht gezwungen wurden, wird laut UNHCR die | |
horrende Zahl von 27,2 Millionen Menschen erreicht. | |
Das sind mehr als zwei Millionen im Monat oder annähernd 75.000 am Tag, die | |
im Jahr 2023. Statistisch gesehen wurde also im vergangenen Jahr jeden Tag | |
das Äquivalent der Bevölkerung von Bayreuth zur Flucht gezwungen. Und man | |
wundert sich, dass das Elend, der Hass und die Verteilungskämpfe auf der | |
Welt zunehmen, in den ärmsten wie in den reichsten Ländern. | |
## Jeden Tag 75.000 Vertriebene mehr | |
Über die Hälfte der Neuvertriebenen kam aus gerade mal vier Ländern auf der | |
Welt: [2][Sudan] (7,2 Millionen), [3][Demokratische Republik Kongo] (3.9 | |
Millionen), Somalia (2,3 Millionen) und Myanmar (1,3 Millionen). Dazu | |
kommen 1,7 Millionen Neuvertriebene im Gazastreifen. Somalia ist ein | |
Sonderfall, da zwei Millionen der Neuvertriebenen Katastrophenflüchtlinge | |
waren – das Land erlebte beispiellose Wetterextreme. Aber diese hätten | |
nicht solche Folgen gehabt, wenn Somalia einen Staat hätte, der für seine | |
Bevölkerung sorgt. | |
Insgesamt ist die Lehre klar: Krieg und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung | |
sind die größten Treiber von Fluchtbewegungen auf der Welt. Seit 2021, sagt | |
das UNHCR, ist die Zahl von Neuvertriebenen jedes Jahr deutlich höher n den | |
Jahren davor. Getrieben vor allem von den Kriegen [4][in der Ukraine] und | |
[5][in Sudan], bei gleichzeitiger Intensivierung der älteren Konflikte in | |
anderen Ländern, hat das Ausmaß der Fluchtbewegungen damit eine neue | |
Qualität erreicht. Diese hat die Weltpolitik bisher nur unzureichend | |
begriffen. | |
Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss dort ansetzen. Die vier genannten | |
Länder haben eines gemeinsam: Überall gab es einmal Hoffnung auf | |
Stabilisierung und Demokratisierung, gefördert von der internationalen | |
Staatengemeinschaft. | |
Sudan erlebte eine für den arabischen Raum beispielhafte friedliche | |
Revolution gegen die Militärdiktatur, Kongo hat eine Demokratisierung und | |
Reihe von Friedensprozessen unter Schutz der größten UN-Blauhelmmission der | |
Welt hinter sich. Somalia erhält intensive internationale Unterstützung | |
beim Aufbau eines Staatswesens. Es gab einmal einen Nahost-Friedensprozess. | |
Myanmar war einst unter Aung San Suu Kyi auf dem Weg zur Demokratie. | |
Überall zerschlug sich diese Hoffnung, zerstört von den lokalen Machthabern | |
und Kriegsherren, die von Gewalt und Rechtlosigkeit leben und vom | |
millionenfachen Leid profitieren. | |
## Neu entfachte Konflikte | |
Sudans Militärherrscher haben erst mit ihrem Putsch und dann mit ihrem | |
Machtkampf gegeneinander ihr Land in den Abgrund gerissen. Kongos | |
politische Elite schürt Kriege und Elend zum eigenen Machterhalt. Somalia | |
findet keine Grundlage für eine allseits anerkannte legitime politische | |
Struktur. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im palästinensichen | |
Gazastreifen hat nicht nur die Lebensgrundlagen der gesamten Bevölkerung | |
dort zerstört, sondern auch politische Friedenshoffnungen vorerst zunichte | |
gemacht. Myanmars Militär hat mit seinem Putsch die Demokratisierung | |
beendet und Gewaltkonflikte im Land neu entfacht. | |
Nirgends gibt es auch nur den Ansatz einer Strategie seitens der | |
Weltgemeinschaft, wie man diese Zustände überwinden könnte. Lokale Akteure, | |
die sich den Gewaltherrschern mutig entgegenstellen, enden meist selbst als | |
Flüchtlinge. | |
Die Weltpolitik muss erkennen: Flucht ist kein Ausnahmephänomen mehr. Es | |
ist ein Dauerzustand und ein integraler Bestandteil der modernen Welt. Die | |
staatliche Ordnung der meisten Länder ist nicht dafür geschaffen, damit | |
umzugehen. Nirgends haben Geflüchtete und Vertriebene die gleichen Rechte | |
wie die Bevölkerungen, bei denen sie leben. | |
Das ändert sich auch nicht im Laufe der Jahre. Millionen Kinder werden als | |
Flüchtlinge geboren, sind also vom ersten Lebenstag an Außenseiter in der | |
Gesellschaft, in die sie hineinwachsen. Wer schon bei der Geburt | |
Außenseiter ist, dem kann man später nicht mangelnde Integration vorwerfen. | |
## Rechtsfreie Räume | |
Daran etwas zu ändern, ist derzeit vor allem [6][in Europa] nicht | |
mehrheitsfähig, wie die jüngsten EU-Wahlergebnisse zeigen. Aber Schutz | |
fehlt nicht nur an den Zielorten der Flucht. Der Weltflüchtlingsbericht | |
betont dieses Jahr vor allem den mangelnden Schutz auf den Flucht- und | |
Migrationsrouten: aus Afrika nach Europa, aus Südamerika nach Nordamerika, | |
aus asiatischen Bürgerkriegsländern in sichere Gebiete – überall müssen d… | |
Menschen rechtsfreie Räume durchqueren, in denen Gewalt an der Tagesordnung | |
ist und viele spurlos verschwinden. | |
Das Mittelmeer birgt Zehntausende Leichen von Afrikanern, denen Europa den | |
Rücken kehrte. Die Routen der Binnenvertriebenen in den Bürgerkriegsländern | |
der Welt sind allesamt lebensgefährlich. Die Welt ist voller unbekannter | |
Massengräber jener, die ihre Suche nach einem besseren Leben mit dem Leben | |
bezahlt haben. 120 Millionen Menschen auf der Flucht? Die Zahl erscheint | |
unfassbar hoch. Aber es sind nur die Wenigen, die es bis an ein Ziel | |
geschafft haben. | |
13 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.unhcr.org/global-trends-report-2023 | |
[2] /Krieg-in-Darfur-eskaliert/!6009101 | |
[3] /Kriegsfolgen-in-der-DR-Kongo/!5970087 | |
[4] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[5] /Schwerpunkt-Krieg-in-Sudan/!t5930698 | |
[6] /Europaeische-Asylrechtsreform-Geas/!6003865 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
UNHCR | |
Geflüchtete | |
Schwerpunkt Krieg in Sudan | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Somalia | |
Schwerpunkt Myanmar | |
GNS | |
Social-Auswahl | |
IG | |
Schwerpunkt Krieg in Sudan | |
Migration | |
Schwerpunkt Krieg in Sudan | |
Geflüchtete | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hungerkatastrophe im Sudan: Wie viel ein Menschenleben wiegt | |
Die Lage in Sudan ist katastrophal. Die Staatengemeinschaft tut sich mit | |
Desinteresse hervor, sie hat vermeintlich andere Sorgen. | |
Rettung auf dem Mittelmeer: Umkämpftes Gewässer | |
Die italienische NGO Emergency rettet Geflüchtete auf dem Mittelmeer. Ihre | |
Arbeit wird zunehmend eingeschränkt. Unterwegs auf einem Rettungsboot. | |
Humanitäre Krise in Sudan: UN fordert Ende der Belagerung | |
Die Kämpfe zwischen der RSF-Miliz und sudanesischen Regierungstruppen in | |
Al-Faschir dauern an. Der UN-Sicherheitsrat fordert ein Ende der | |
Belagerung. | |
Migrant:innen in Tunesien: Abschiebung um jeden Preis | |
Tausende Migrant:innen und Geflüchtete harren nahe der tunesischen | |
Küstenstadt Sfax in Lagern aus. Nun sind Gewaltvideos im Netz aufgetaucht. | |
Geflüchtete auf Lesbos: Mahnmal im Mittelmeer | |
Auf der griechischen Insel Lesbos blickt man ratlos auf den beschlossenen | |
europäischen Asylpakt. Derweil wird ein Friedhof zum Symbol für | |
Menschlichkeit. |