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# taz.de -- Chef der Hilfsorganisation IRC: „Eine leicht entflammbare Welt“
> Der britische Ex-Außenminister David Miliband sieht eine Zeit der
> Polykrisen. Der Chef der Hilfsorganisation IRC sagt, Lösungen würden
> schwieriger.
Bild: Krisen halten sich nicht an Landesgrenzen: Flüchtende aus dem Sudan komm…
taz: Herr Miliband, was ist herausfordernder: als Politiker politische
Lösungen für Konflikte zu finden oder bei einer Hilfsorganisation die
Folgen politischen Versagens zu mindern?
David Miliband: Wenn man in einer Regierung ist, kann man das große Ganze
angehen, läuft aber Gefahr, die Menschen zu vergessen. Als NGO kann man den
Menschen direkt helfen, aber vernachlässigt schnell das große Ganze.
Aktuell aber ist das System in beiderlei Hinsicht überfordert, sowohl was
die Bekämpfung der Ursachen angeht als auch die Behandlung der Symptome.
Wir haben es auf der Welt mit einer Vielzahl von Krisen und Bürgerkriegen
zu tun. Wir erleben eine Polykrise. [1][120 Millionen Menschen sind nach
jüngsten UN-Angaben auf der Flucht.]
Das ist ein historisches Hoch. Ihre Organisation hat zudem angegeben,
[2][dass viermal so viele Menschen in humanitärer Not sind wie noch vor
neun Jahren.] Woran liegt das?
Zum einen hat sich die Natur von Konflikten verändert. Es ist eine Zunahme
von internationalisierten internen Konflikten zu beobachten. Interne
Konflikte sind komplizierter als Konflikte zwischen Staaten. Denken Sie an
die derzeit größte humanitäre Katastrophe der Welt: Sudan. Dort gibt es
etliche Akteure im Land, aber auch viele Unterstützer außerhalb. Zweitens
verschärft die Klimakrise die Spannungen auf der Welt und schafft immer
mehr Zunder. Wir leben in einer sehr leicht entflammbaren Welt. Drittens
sehen wir eine Schwäche von internationalen Institutionen und Normen, was
ein Produkt von geopolitischer Fragmentierung und Wettbewerb ist. Der
Stillstand im UN-Sicherheitsrat und all die Blockaden des UN-System gehen
darauf zurück.
Inwiefern herrscht international mehr Wettbewerb?
Seit der Covid-Pandemie und insbesondere der russischen Invasion in der
Ukraine mit ihren Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise ist der
wirtschaftliche Kontext schwieriger geworden. 2023 war ein katastrophales
Jahr, weil die ärmeren Länder sehr hohe Zinsen für ihre Schulden zahlen
mussten und es zu einem Nettoabfluss von Geldern aus ärmeren Ländern an
internationale Gläubiger kam. Als Organisation beschäftigen wir uns mit
Menschen, deren Leben durch Konflikte zerstört wird. Wir haben es also mit
Menschen zu tun, die eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen
fliehen. Aber der wirtschaftliche Kontext wirkt sich auf die drei genannten
Faktoren aus: Konflikt, Klima und geopolitischer Wettbewerb.
Sie zeichnen ein düsteres Bild. Wie lässt sich in einem solch schwierigen
Umfeld Positives bewirken?
Zunächst brauchen Menschen im Fall einer Katastrophe Informationen. Unsere
[3][Signpost-Initiative] umfasst 25 länderspezifische
Informationsplattformen, auf denen Binnenvertriebene oder Geflüchtete
anderen Geflüchteten Informationen geben, wie sie Zugang zu Hilfe erhalten.
Zweitens halte ich unsere Arbeit gegen Unterernährung für zentral.
Unterernährung ist die Spitze der humanitären Pyramide. Wo Unterernährung
herrscht, läuft auch alles andere schief. Die Menschen werden krank, gehen
nicht in die Schule und so weiter. Drittens ist frühkindliche Entwicklung
wichtig, einer der Bereiche, in die am wenigsten humanitäre Gelder
investiert werden, obwohl die Hälfte der weltweit Vertriebenen Kinder sind.
Bevor Geld richtig investiert wird, muss es allerdings da sein. Macht Ihnen
der [4][Rechtsruck in vielen Ländern] Angst? Wirkt sich das auf die Budgets
für humanitäre Hilfe aus?
Es wäre kurzsichtig zu denken, je weniger man im Ausland ausgibt, desto
weniger Probleme hat man. In der modernen Welt bleiben die Probleme nicht
in dem Land, in dem sie entstehen. Mangelnde Investitionen im humanitären
Sektor werden zu einer Quelle politischer Instabilität. Das haben wir in
Afghanistan gelernt und in allen möglichen Zusammenhängen gesehen. Ich
weiß, dass in Deutschland eine große Haushaltsdebatte geführt wird darüber,
wie man mit den Belastungen durch die Ukraine und das geringere
Wirtschaftswachstum umgeht. Aber Entwicklungshilfe ist ein sehr kleiner
Teil der öffentlichen Ausgaben. Aus unserer Sicht ist sie die richtige
Investition.
Wer keine Migranten will, sollte Geld ausgeben?
Das habe ich nicht so gesagt, weil es keine 1:1-Beziehung zwischen
Auslandsinvestitionen und Migrationsströmen gibt. Zudem geht aus UN-Zahlen
hervor, dass 69 Prozent der Menschen, die emigrieren, ins Nachbarland
gehen. Die Menschen, die aus Sudan fliehen, landen zum Beispiel zu 69
Prozent im Tschad oder Südsudan, nicht in Düsseldorf.
Ihre Organisation hat eine Liste der schlimmsten Konflikte der Welt
veröffentlicht. Auf Platz eins und zwei stehen Sudan und Gaza …
… gefolgt von Südsudan, Burkina Faso und Myanmar.
Anders als der Gazakrieg generieren all diese Konflikte kaum Schlagzeilen.
Ist das für Hilfsorganisationen ein Problem?
Es ist wichtig, der Notwendigkeit zu folgen, nicht den Schlagzeilen. Denn
manchmal folgen die Schlagzeilen nicht dem Bedarf. Natürlich besteht in
Sudan die Gefahr, dass der Konflikt vernachlässigt wird. Andererseits führt
Aufmerksamkeit allein nicht zu Lösungen. Die Aufmerksamkeit für Gaza etwa
hat keine Lösung im weiteren Sinne gebracht.
Aber bestimmt Spenden.
So einfach ist es nicht. In der Ukraine vor zwei Jahren oder Afghanistan
vor drei Jahren gab es eine Menge Schlagzeilen, und das hat auch viel Geld
gebracht. Das ist aber leider weder für Gaza noch für Sudan der Fall.
Dabei beschäftigt Gaza doch die Menschen.
Je komplizierter ein Konflikt ist, desto schwieriger ist es, Geldmittel zu
beschaffen.
Bleiben wir bei Sudan und Gaza. Wie sieht es in beiden Fällen mit dem
Zugang für Hilfsorganisationen aus? Ermöglichen die Konfliktparteien Hilfe?
Es gibt in beiden Konflikten Zugangsprobleme, sehr ernste Probleme. Genau
wie der Schutz von Helfenden und Zivilisten ist humanitärer Zugang ein
Rechtsanspruch. Sowohl im Sudan als auch in Gaza ist der Zugang für
humanitäre Hilfe vielerorts sehr eingeschränkt, manchmal aufgrund der
Gefahr für die Helfenden, manchmal durch Blockaden.
Blockaden?
Das gesamte Hilfssystem hängt davon ab, ob die Hilfe die Menschen erreicht,
aber auch von der Fähigkeit von Zivilisten, sich Hilfe zu holen und sich in
Sicherheit zu bringen. Im Falle Sudans können die Menschen das Land
verlassen, im Falle Gazas können sie den Gazastreifen nicht verlassen.
Ist der Gazakrieg eigentlich ein außergewöhnlicher Konflikt?
Jeder Konflikt ist einzigartig. Die Herausforderung ist, humanitäre
Grundsätze, die global gelten, aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber
anzuerkennen, dass es unterschiedliche Kontexte gibt. In Gaza haben wir es
mit einer sehr eigenen Geschichte zu tun. Aber auch Sudan ist komplex,
weil die Geschichte des Konflikts weit in die Zeit reicht, als der Südsudan
noch Teil des Sudan war. Seit 2011 ist dies nicht mehr der Fall.
[5][Im Januar ordnete der Internationale Gerichtshof (IGH) Maßnahmen an, um
die Palästinenser in Gaza vor der Gefahr eines Völkermordes zu schützen,
indem ausreichend humanitäre Hilfe gewährleistet wird.] Hat Israel die
Anordnungen befolgt?
Wir sind eine Hilfsorganisation, kein Gericht, wir fällen keine Urteile.
Aber was wir sagen können, ist, dass Mai und Juni für Hilfsorganisationen
schwierige Monate waren, sehr schwierige sogar.
Sie sprechen von der Zeit seit Beginn der israelischen Militäroffensive auf
die Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen?
Ja. Wir hatten mehrere medizinische Notfallteams, die in Gaza gearbeitet
haben. Seit dem 6. Mai bis Anfang dieses Monats haben wir es nicht mehr
geschafft, ein weiteres dorthin zu bringen.
Welche Forderungen leiten Sie daraus ab?
Der beste Weg, um Mitarbeitende von Hilfsorganisationen nach Gaza zu
bringen und auch die Zivilisten zu schützen, ist die Unterstützung des
Waffenstillstandplans von Joe Biden sowie die Freilassung der Geiseln durch
die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen.
Nach einem baldigen Waffenstillstand sieht es aber weiterhin nicht aus. Ist
denn der [6][Pier, den die USA vor der Küste Gazas errichtet haben], eine
Zwischenlösung, um den humanitären Zugang zu erleichtern?
Jede Erweiterung der Hilfskapazität ist eine gute Sache. Aber es gibt
direktere Routen in den Gazastreifen, die nicht den Launen der windigen See
ausgesetzt sind. Landübergänge eben.
Seit Monaten warnen Hilfsorganisationen vor der Gefahr einer Hungersnot in
Gaza. Letzte Woche stellten Experten in einem [7][Bericht für das
internationale Klassifizierungssystem IPC fest], dass derzeit – anders als
vor Kurzem befürchtet – keine Hungersnot herrscht. Eine Entwarnung?
Die Nahrungsmittelhilfe hat nie das nötige Niveau erreicht, um das Problem
der Unterernährung flächendeckend zu bekämpfen. Die Auswirkungen in den
verschiedenen Teilen Gazas sind aber unterschiedlich. Anfangs betrafen die
Warnungen vor einer Hungersnot, wir sprechen von IPC-Stufe 5, den Norden
des Gazastreifens. Im Juni ging es dann weniger um den Norden, sondern um
das Zentrum und den Süden. Die UN haben berichtet, dass mehrere Dutzend
Kinder tatsächlich verhungert sind. Und das sind konservative Angaben.
Sagen Sie, dass es egal ist, ob eine Hungersnot offiziell erklärt wird oder
nicht?
Wir brauchen dringend mehr Nahrungsmittel in Gaza. Wenn man wartet, bis
eine Hungersnot ausgerufen wird, ist es zu spät. Wir dürfen weder IPC-Stufe
4 noch 3 normalisieren. Das wissen wir aus Somalia 2011. Damals war die
Hälfte der Hungertoten bereits gestorben, bevor eine Hungersnot ausgerufen
wurde. Man darf nicht auf eine Hungersnot warten, um das Problem der
Ernährungsunsicherheit anzugehen. Das gilt für Gaza, wo 2 Millionen in
humanitärer Not sind, genauso wie für Sudan, wo 19 Millionen Menschen
gefährdet sind.
5 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.unhcr.org/global-trends-report-2023
[2] https://www.rescue.org/de/report/irc-emergency-watchlist-2024
[3] https://www.signpost.ngo/
[4] /Erfolge-der-extremen-Rechten/!6015986
[5] /Internationaler-Gerichtshof/!5985388
[6] /-Nachrichten-im-Nahostkrieg-/!6010973
[7] https://www.ipcinfo.org/fileadmin/user_upload/ipcinfo/docs/IPC_Famine_Revie…
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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