# taz.de -- Weißrusslands Umgang mit Corona: Väterchen droht und lässt feiern | |
> Der Preis für den zynischen Umgang von Weißrusslands Staatschef | |
> Lukaschenko mit Corona könnte furchtbar werden. Seine Priorität: die | |
> Präsidentenwahl. | |
Bild: 27. März 2020, Fans jubeln bei einer Fußballmeisterschaft in Zhodino, W… | |
Soviel Freiheit war nie in Weißrussland. Während die Welt unter der | |
Corona-Pandemie ächzt und auf unabsehbare Zeit [1][in den Krisenmodus | |
geschaltet] hat, heißt das Motto in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Staat: | |
Business as usual und bloß keine Panik, alles halb so schlimm. | |
[2][Dauerherrscher Alexander Lukaschenko] – bereits mehr als ein | |
Vierteljahrhundert im Amt – tut gerade so, als würde das Virus ausgerechnet | |
um sein Reich einen großen Bogen machen. | |
Der ehemalige Kolchos-Chef von etwas schlichtem Gemüt, der gerne als | |
letzter Diktator Europas gescholten wird, oppositionelle Stimmen zum | |
Schweigen bringen und immer noch die Todesstrafe vollstrecken lässt, hat | |
vor allem in Zeiten wie diesen seine ganz persönliche Sicht auf die Dinge. | |
So [3][rollt der Fußball] in weißrussischen Stadien – vor gut gefüllten | |
Publikumsrängen versteht sich. Der Herrscher selbst gibt sein Können auf | |
Schlittschuhen und am Puck zu besten. Gearbeitet wird weitgehend normal. | |
Eine Verlängerung der Schulferien bis Mitte April kam erst auf Druck von | |
Eltern zustande, die sich weigerten ihre Kinder in die Lehranstalten zu | |
schicken. | |
Um Corona dennoch in Schach zu halten, was für Lukaschenko offensichtlich | |
kein Widerspruch ist, gibt er seinen Landsleuten gleichzeitig „wertvolle“ | |
Ratschläge an die Hand: Viel Feldarbeit an frischer Luft, regelmässige | |
Nahrungsaufnahme, Saunagänge und ab und an ein Wässerchen. Überhaupt habe | |
man es derzeit mit einer veritablen Psychose zu tun, wird er nicht müde zu | |
betonen und zieht über die Nachbarstaaten her, die ihre Grenzen zu | |
Weißrussland geschlossen haben. | |
Besonders gerne arbeitet sich Lukaschenko an Russlands Staatpräsidenten | |
Wladimir Putin ab. Der versuchte seinen Untertanen bereits in der | |
vergangenen Woche den Ernst der Lage in einer Fernsehansprache | |
nahezubringen, [4][verordnete Zwangsurlaub] bis Ende April sowie Quarantäne | |
und Selbstisolation, deren Nichtbeachtung auch ins Gefängnis führen kann. | |
Doch das Verhalten Lukaschenkos zu belächeln und als Marotte eines aus der | |
Zeit gefallenen, realitätsentrückten Staatschefs abzutun, greift zu kurz. | |
Vielmehr haben wir es hier mit der Wiederauferstehung des Homo sovieticus | |
zu tun – jener seltsamen Spezies eines neuen Menschen, der jetzt – wieder | |
einmal – sein hässliches Gesicht zeigt. | |
In diesem Kontext lohnt ein Blick zurück. Wir schreiben das Jahr 1986 – | |
genauer gesagt den 26. April. Im vierten Block des ukrainischen | |
[5][Atomkraftwerks Tschernobyl] kommt es zu einer schweren Explosion – das | |
Ergebnis eines kühnen Experiments. Doch anstatt die Bevölkerung ins Bild zu | |
setzen, übt sich die sowjetische Staatsführung in größtmöglicher | |
Geheimhaltung und verschleiert so zunächst das wahre Ausmaß der | |
Katastrophe. Es braucht mehrere Tage, bis die Menschen aus den verstrahlten | |
Gebieten evakuiert werden. In Kiew marschieren Tausende Fähnchen schwenkend | |
und ein verordnetes Lächeln auf den Lippen bei der Siegesparade am 9. Mai | |
im Zentrum von Kiew auf – so, als sei rein gar nichts geschehen. | |
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 macht sich Moskau einen | |
schlanken Fuß und überlässt es den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, allen | |
voran Weißrussland und der Ukraine, mit den Folgen des Atomunfalls fertig | |
zu werden. | |
Auch heute gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen | |
dem GAU tatsächlich zum Opfer gefallen sind. So manche(r), der schwer | |
erkrankt ist, kämpft immer noch um eine Anerkennung und den lächerlich | |
kleinen finanziellen Obulus, der damit verbunden ist. | |
Jenseits allen menschlichen Leids und persönlicher Tragödien hat sich den | |
Menschen in der ehemaligen Sowjetunion jedoch eine Erkenntnis ins | |
kollektive historische Gedächtnis tief eingebrannt: 1986 und in den Jahren | |
danach belogen und bewusst im Unklaren gelassen worden zu sein. | |
Genau dieser zynische und menschenverachtende Umgang mit einer | |
Ausnahmesituation ist auch jetzt wieder in Weißrussland zu besichtigen – | |
einem Land, wo auch in normalen Zeiten ein Leben so gut wie nichts zählt. | |
Derzeit ist von 1981 Corona-Infizierten die Rede, angeblich gibt es bislang | |
„nur“ 19 Tote zu beklagen. Kritische Geister haben an diesen Angaben so | |
ihre Zweifel – und das zu Recht. Genaue Statistiken des | |
Gesundheitsministeriums, die nach Städten und Regionen aufgeschlüsselt | |
wären, gibt es nicht. | |
Der Geheimdienst KGB läuft, auf Anordnung von Lukaschenko, zu Hochform auf. | |
Nicht nur ÄrztInnen, die für das Regime unangenehme Wahrheiten öffentlich | |
machen könnten, werden bedroht, sondern auch Erkrankte und Angehörige von | |
jüngst in Krankenhäusern Verstorbenen. Eine NGO hat mehrere solcher Fälle | |
dokumentiert. | |
Massivem Druck sehen sich auch BloggerInnen ausgesetzt, die kritische | |
Fragen stellen: Einschüchterungen, Festnahmen und Verurteilungen zu | |
Arreststrafen sind an der Tagesordnung, wobei der Vorwurf stets | |
„Verbreitung von Falschmeldungen“ lautet. Ende Februar wurde Sergej Sazuk, | |
Chefredakteur der Onlinepublikation Tagesjournal in Minsk festgenommen. | |
Kurz zuvor hatte er einen Beitrag veröffentlicht, in dem er die offiziellen | |
Zahlen infrage gestellt und von Bedrohungen seiner Person durch korrupte | |
Mitarbeiter des Gesundheitsministerium berichtet hatte. Wegen Bestechung | |
könnte er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt werden. | |
So sieht es also aus, das große Krisenmanagment von Alexander Lukaschenko. | |
Er scheint allen Ernstes zu glauben, die Mehrheit seiner Landsleute würde | |
ihm noch abkaufen, alles im Griff zu haben und zugleich noch das | |
Corona-Virus in die Schranken weisen zu können. Aber warum sollte ihn auch | |
gerade jetzt das Schicksal der Bevölkerung umtreiben, warum sollte er | |
gerade jetzt plötzlich auf ein paar menschliche Kollateralschäden Rücksicht | |
nehmen? | |
Es gibt für ihn andere Prioritäten. Derzeit trainieren in Minsk tausende | |
Soldaten für die Feierlichkeiten am 9. Mai aus Anlass des Kriegsendes vor | |
75 Jahren. Und dann kommt ja auch noch die Präsidentenwahl im August, bei | |
der Lukaschenko – wer hätte es gedacht, – noch einmal antreten will. Die | |
Veranstaltung wäre entbehrlich, da das Ergebnis ohnehin schon vorher fest | |
steht. | |
Besonders dieser Tage dürfte den Menschen in Weißrussland ein Satz ihres | |
„Väterchens“ in den Sinn kommen. „Ich will nicht, dass mein Staat zu ein… | |
Teil dieser sogenannten zivilisierten Welt wird“, gab Lukaschenko vor | |
einigen Jahren einmal zu Protokoll. Vielleicht wird es ihm das auch dieses | |
Mal gelingen, das zu verhindern, doch der Preis dafür könnte furchtbar | |
sein. Entrichten werden ihn die WeißrussInnen. | |
11 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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