# taz.de -- Wahrheitsuche im Glauben: Die Bibel? Fake News! | |
> Die Bibel ist kein Geschichtsbuch. Trotzdem wird in ihr immer wieder nach | |
> der Wahrheit gesucht. Wer das tut, kann eigentlich nur scheitern. | |
Bild: Wenn die Bibel so wahr ist wie ein Liebesbrief, sind Prozessionen dann Da… | |
„Was ist Wahrheit?“ Mit dieser wohl zynisch gemeinten Frage fertigt der | |
römische Statthalter Pontius Pilatus in seiner aufmüpfigen Provinz den | |
armen Wanderrabbiner Jesus von Nazareth ab, der sagt, er sei ein König. | |
Jesus unterminiert damit die Autorität Roms, auch wenn er zugleich betont, | |
sein Reich sei nicht von dieser Welt. Aber Jesu Worte reichen Pilatus. | |
Er lässt ihn kreuzigen, also zu Tode foltern. Der Evangelist Johannes | |
schildert diesen Dialog im Palast von Pilatus vor 2000 Jahren. Und auch die | |
Worte Jesu zuvor: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich | |
die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine | |
Stimme.“ | |
Die Frage nach der Wahrheit ist zentral im Neuen Testament – und sie ist | |
lebensgefährlich. Der Evangelist Johannes war nicht beim Verhör Jesu durch | |
Pilatus dabei, er schrieb diesen Dialog wohl rund sechzig Jahre nach dem | |
Geschehen, und ob es überhaupt einen Dialog zwischen dem römischen | |
Statthalter und Jesus von Nazareth gegeben hat, ist sehr fraglich. | |
Aber wenn wir Heutigen dem Evangelisten Johannes die Frage des Pilatus „Was | |
ist Wahrheit?“ stellen könnten, würde er sie wahrscheinlich gar nicht | |
verstehen. | |
## Adam und Eva haben nie gelebt | |
Denn die Bibel ist kein Geschichtsbuch. Und an sie die Frage zu stellen: | |
„Was ist davon wahr? Was ist wirklich, wahrhaftig davon passiert?“ –, die… | |
Frage ist eine sehr moderne. Die Evangelisten schrieben ihre Geschichten | |
von Jesus nicht als Historiker, sondern als Verkünder oder, böser | |
ausgedrückt: als Propagandisten. Und sie hatten einen anderen, sagen wir: | |
antiken Begriff von Wahrheit. | |
Wahrheit war das, was sie für wahr hielten, was dem Glauben und ihrer | |
Gemeinde diente. Sie hielten sich, was wieder ziemlich modern wäre, an | |
„alternative facts“. „Credo, quia absurdum est“ – „Ich glaube, weil… | |
unpassend (oder absurd) ist.“ So ähnlich haben es der antike christliche | |
Schriftsteller Tertullian vor etwa 1800 Jahren und davor schon Paulus | |
gesagt. | |
Wer also urteilt, die Bibel sei eine Ansammlung von Fake News, liegt nicht | |
völlig falsch. Zentrale Stellen des Alten und Neuen Testaments sind | |
schlicht nicht wahr, jedenfalls nicht im historischen Sinn: Adam und Eva | |
haben nie gelebt, Mose und der Exodus des Volkes Israel ins Heilige Land | |
sind am ehesten Narrative einer Priesterkaste, entstanden wohl in den | |
Jahrzehnten zwischen etwa 520 und 450 v. Chr., wie Jan Assmann nachgewiesen | |
hat – der historische Gehalt: minimal. Die Landnahme des Auserwählten | |
Volkes im heutigen Israel war offenbar weit unblutiger, als die heiligen | |
Bücher es schildern, Jesus wurde wahrscheinlich in Nazareth geboren, nicht | |
in Bethlehem (und schon lange nicht im Stall) etc. | |
Wer mit heutigen Augen die Bibel liest, wird vernünftigerweise nicht | |
glauben, dass Jesus genau das gesagt hat und genau dieses Wunder getätigt | |
hat. Schon 1941 hat der evangelische Theologe Rudolf Bultmann diese | |
Erkenntnis so zusammengefasst: „Man kann nicht elektrisches Licht und | |
Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und | |
klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und | |
Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ | |
## Sympathische Skepsis – sogar in der Bibel! | |
Wir hätten, so Bultmann, eben nicht mehr das mythologische Weltbild des | |
Neuen Testaments, sondern ein wissenschaftliches. Jesus sei (nur) „ins | |
Kerygma auferstanden“, das heißt: Wir können den historischen Jesus und | |
seine Taten nur durch den Spiegel oder Zerrspiegel des Glaubens der frühen | |
Christen erkennen, die die Evangelien aufgeschrieben haben. Mehr ist nicht | |
möglich. | |
Das ist natürlich ein Problem für alle, die glauben – und es betrifft nicht | |
nur Details, sondern auch den zentralen Glaubenssatz der Christen, die | |
Auferstehung Jesu. Als die Frauen in Jesu Gemeinschaft von ihr erzählen, | |
glauben ihnen die Apostel erst einmal nicht, das sei „Geschwätz“ (Lukas, | |
24,11). Eine durchaus sympathische Skepsis. | |
Aber dann ereignen sich, glaubt man den Evangelien, Begegnungen und | |
Erfahrungen, die die Apostel überrumpeln – und überzeugen. Der Apostel | |
Thomas wollte zunächst seine Finger in die Kreuzigungswunden Jesu legen, | |
ehe er an die Auferstehung glaubt, andere erkennen den Auferstandenen erst, | |
als er das Brot mit ihnen bricht: Manchmal erscheint der auferstandene | |
Jesus ihnen eher als geisthaft, manchmal als sehr leiblich, etwa als einer, | |
der isst und trinkt. | |
Das klingt ziemlich nach Fake News. Aber auch hier scheitert die Suche nach | |
der historischen Wahrheit. Dabei wäre gerade an dieser Stelle Sicherheit | |
aus der Sicht des Glaubenden so wichtig. „Ist aber Christus nicht | |
auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube | |
vergeblich“, schrieb Paulus vor gut 1950 Jahren. | |
## So wahr wie ein Liebesbrief | |
Die Apostel waren bereit, der Verbreitung des Glaubens an den Auferstanden | |
ihr ganzes Leben zu widmen, ja dafür notfalls in den Tod zu gehen. Das | |
spricht dafür, dass ihnen dieser Glaube ernst wahr. Erneut ist die Wahrheit | |
eine Sache von Leben und Tod. Aber beweisen tut dies nichts. Und die | |
Existenz Gottes ist noch weniger zu belegen. Dass man seine Nichtexistenz | |
nicht beweisen kann, ist nur ein schwacher Trost für die, die Glauben und | |
Vernunft miteinander in Verbindung bringen wollen. | |
Der Glaube ist keine sehr vernünftige Angelegenheit – und die Bibel und | |
ihre Geschichten sind den Fake News näher als der Wahrheit, wenn es die in | |
postmodernen Zeiten überhaupt noch gibt. Es gibt nur ein „Für-Wahr-Halten�… | |
Und das hat viel mit Gefühlen zu tun: ein Gefühl von Nähe, ein Gefühl von | |
Liebe, ein Gefühl von Kommunikation mit etwas, was Christinnen und Christen | |
Gott nennen. | |
Die Bibel ist am ehesten so wahr, wie ein Liebesbrief oder Lovesong wahr | |
sind. Natürlich ist meine Liebe zu diesem einen Menschen nicht so weit wie | |
der Ozean und so hoch wie der Himmel, und tausend Meilen würde ich | |
wahrscheinlich doch nicht gehen, um sie oder ihn zu sehen. | |
Aber es ist trotzdem Wahrheit in diesen Sätzen, und vielleicht nicht nur | |
ein Körnchen. So gesehen ist die Bibel keine Ansammlung von Fake News, | |
sondern der manchmal poetische, meistens stümperhafte Versuch vieler | |
Generationen von Menschen, das als Gottes Nähe Erlebte oder Gefühlte in | |
Worte zu fassen. | |
Wenn wir Gott als etwas begreifen, was unser kleines, beschränktes | |
Menschendenken bei weitem übersteigt (und nichts anderes wäre etwa | |
angesichts der Größe und Komplexität des Weltalls vernünftig), kann es | |
nicht verwundern, dass dabei auch die menschliche Rede von Gott in der | |
Bibel etwas Un-Vernünftiges oder gar Verrücktes hat. Gemäß dem bekannten | |
Satz: An einen Gott, den ich verstehen kann, kann ich nicht glauben. | |
Die Bibel mag deshalb für sehr viele nichts als Fake News sein. Aber es | |
sind göttliche Fake News. Sie sind so wahr wie die Liebe. | |
24 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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