| # taz.de -- Vor und nach dem 7. Oktober: Soll sein Schulem | |
| > Unser Autor wuchs als Kind jüdischer Eltern in München auf, das | |
| > Olympia-Attentat prägte ihn stark. Heute lebt er als Journalist in London | |
| > und fragt sich, wo sein Platz ist. | |
| Bild: „Soll sein Schulem“ ist Jiddisch für „Möge Friede sein“. Vater … | |
| Mit blutiger Lippe liege ich auf dem Kieselsteinboden, mitten in London. | |
| Mein Gesicht schmerzt, mein neues Jackett ist verdreckt. Ich frage mich, ob | |
| ich in der Lage bin, aufzustehen und ins Gemeindehaus zu gehen. Und was | |
| jetzt aus der Feier wird. | |
| Es ist ein Samstag im Oktober 2022, wir wollen die Bat-Mizwa meiner Tochter | |
| begehen. Wegen der Pandemie anderthalb Jahre verspätet. Lange hatten wir | |
| auf den Tag, der ihr religiöses Erwachsenwerden markiert, gewartet. Familie | |
| aus aller Welt war für die erste öffentliche Thora-Lesung meiner Tochter | |
| angereist, auch meine Mutter aus München. | |
| Das Auto ist voll beladen mit Häppchen für den späteren Empfang, vor dem | |
| Gemeindehaus suche ich nach einem Parkplatz. Ich steige aus und frage einen | |
| Mann mit Kleinlaster, wie lange er noch dort stehen würde. „Den ganzen | |
| Tag!“, antwortet er schroff, er habe gesehen, was für Leute in dem | |
| Gemeindehaus seien. „Für die fahre ich bestimmt nicht weg.“ Ich frage ihn | |
| ruhig, was er meint. „Das sind alles Mörder palästinensischer Kinder!“, | |
| sagt er. | |
| Ich will mit ihm reden, doch er wird zornig. „Hitler hatte recht!“, schreit | |
| er. Ich erkläre ihm, mein Vater habe die Schoah überlebt, ansonsten sei | |
| fast die ganze Familie von den Nazis ermordet worden. „Sie haben bestimmt | |
| etwas getan und hatten es verdient, ermordet zu werden“, entgegnet er. | |
| Der schlanke junge Mann mit Vollbart und Mütze läuft aufgebracht vor mir | |
| hin und her und hört nicht auf, Hitler zu beschwören. Ich schubse ihn von | |
| mir, will ihn fernhalten. Dann schlägt er mehrere Male zu. Ich versuche | |
| mich zu wehren, treffe ihn mit der Faust. Wie weit soll ich gehen, um mich | |
| zu verteidigen? Als ich das denke, schlägt er wieder zu. Da liege ich nun. | |
| Nachdem ich mich aufgerafft habe, laufe ich panisch ins Gemeindehaus. Ich | |
| will die anderen warnen. „Hier ist ein Antisemit, der mich angegriffen | |
| hat.“ Dann breche ich zusammen. Nur langsam begreifen die Anwesenden, die | |
| den Raum vorbereiten, was geschehen ist. Meine Tochter verständigt die | |
| Polizei und den Rettungsdienst, der Mann wird festgenommen. Als die Beamten | |
| ihre Gutachten fertig haben, wasche ich mir das Blut aus dem Gesicht und | |
| setze mich neben meine Tochter. Diese Bat-Mizwa lassen wir uns nicht | |
| nehmen. Trotz der Schmerzen, trotz des Aufruhrs. | |
| All das hat sich ein Jahr vor dem [1][7. Oktober 2023] zugetragen. Die | |
| propalästinensischen Proteste, die auf das schreckliche Massaker folgten | |
| und in meiner Wahlheimat Großbritannien besonders stark waren, kamen für | |
| mich nicht überraschend. Juden und Jüdinnen waren auch vorher schon ein | |
| Feindbild vieler Menschen in Großbritannien. | |
| Ich beschäftige mich bereits mein Leben lang mit Rassismus, Antisemitismus | |
| und Israelhass. Aus guten Gründen. Mein Vater, Jahrgang 1919, war ein | |
| jüdischer Schoah-Überlebender aus Polen. Er hat im Nationalsozialismus drei | |
| deutsche Arbeitslager und das Konzentrationslager Buchenwald durchleben | |
| müssen, wurde von der SS versklavt und geschunden. Seine Angehörigen wurden | |
| getötet, sein 12-jähriger Bruder und seine über 90 Jahre alte Großtante | |
| kamen nach Treblinka. Bei der Familie meiner Mutter sah es nicht besser | |
| aus. Mein Großvater, in München als Kind eines jüdisch-deutschen Vaters und | |
| einer deutschen Christin geboren, wurde bereits Anfang 1933 von der | |
| Politischen Polizei, den Vorgängern der Gestapo, fast zu Tode geprügelt. | |
| Monatelang war er im Konzentrationslager Dachau interniert, ehe er in die | |
| Niederlande fliehen konnte. Manchen aus seiner Familie gelang es ebenfalls, | |
| zu entkommen, andere wurden in Auschwitz und Trawniki ermordet. Ihr | |
| Eigentum wurde konfisziert und „arisiert“. | |
| Nach dem Krieg ging mein Vater zunächst nach Polen. Doch die christlichen | |
| Bewohner:innen seiner Heimatstadt Szczekociny wollten die überlebenden | |
| jüdischen Nachbar:innen nicht bei sich haben. Viele Jüdinnen und Juden | |
| zogen in die USA oder nach Israel, er aber ging nach München. Dort, im | |
| US-amerikanisch-besetzten Sektor Deutschlands, hatten Tausende Überlebende | |
| ein vorübergehendes jüdisches Viertel im Stadtteil Bogenhausen aufgebaut. | |
| Mein Vater eröffnete ein Geschäft, 1962 heiratete er meine Mutter, die im | |
| selben Viertel lebte. | |
| ## Wohnen im Olympischen Dorf: „Wie könnt ihr da leben?“ | |
| Sein Leben in Deutschland verstand mein Vater als eine Art Widerstand gegen | |
| die Mörder seiner Familie. Er ließ keine Gelegenheit aus, Deutsche an ihre | |
| Schandtaten zu erinnern. Anhänger:innen der bayerischen | |
| Republikaner:innen sagte er auf dem Marienplatz noch mit über 80 | |
| Jahren tapfer, was er von ihnen hielt. Wäre er noch am Leben, würde er | |
| heute wohl AfD-Sympathisant:innen die Meinung geigen. Bis zu seinem Tod im | |
| Jahr 2011 bestand sein Freundeskreis einzig aus jüdischen Überlebenden, für | |
| ihn wie eine Insel inmitten feindlicher See. Für mich, 1969 in München | |
| geboren, war die Situation anders: Ich bewegte mich zwischen seiner Welt | |
| und den nichtjüdischen Deutschen Nachkriegsdeutschlands – bis ich viele | |
| Jahre später nach England ging. | |
| Anfang der Siebziger, ich war ein Kleinkind, zogen wir in München | |
| ausgerechnet ins Olympische Dorf. Meine Eltern hatten dort vor den | |
| Spielen 1972 eine Wohnung gekauft. Das Dorf sollte der Ort des | |
| Internationalen, des Progressiven, der Zukunft werden. Doch am [2][5. | |
| September 1972], dem Geburtstag meiner Mutter, veränderte die | |
| palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September diese Vision und die der | |
| heiteren Spiele. Bei uns lief der Fernseher, daran erinnere ich mich noch. | |
| Terroristen drangen in das Haus des israelischen Olympiateams ein. Israel | |
| wollte daraufhin bestens ausgebildete Einheiten zur Befreiung nach München | |
| fliegen, doch die Bundesregierung und der bayerische Staat lehnten ab. Das | |
| Blutbad hätte womöglich verhindert werden können. | |
| „Wie könnt ihr da leben?“, fragen unsere israelischen Familienmitglieder | |
| bei Besuchen in den Wochen und Monaten danach immer wieder. Sie meinen | |
| sowohl das Olympiadorf als auch Deutschland. Dabei hat meine Kindheit im | |
| Olympiadorf viele positive Aspekte. Es ist autofrei, mit bunten | |
| Ziegelsteinen gebaut, voller junger Familien mit Kindern, so alt wie ich. | |
| Eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Opfer wird noch im Jahr des | |
| Anschlags vor dem ehemaligen Haus der israelischen Olympiamannschaft | |
| errichtet. Die steinerne rechteckige Tafel mit dem Staatsemblem Israels und | |
| den fünf olympischen Ringen in der Mitte listet die Namen der Ermordeten | |
| auf Hebräisch und auf Deutsch auf. Mittlerweile liegt dort eine über | |
| Jahrzehnte gewachsene Sammlung kleiner Steine, die Besucher:innen zu | |
| Ehren der Toten daraufgelegt haben wie auf ein Grab. | |
| Die Gedenktafel und die Steine sind lange Zeit das Einzige, das an diesem | |
| Ort an den Terror erinnert. Als Teenager pinsele ich den Schriftzug | |
| „Vergesst nicht 5. 9. 72!“ an mehrere Wände im Olympiadorf. Beim letzten | |
| Mal erwischt mich ein Passant und kippt wütend den Eimer Farbe über mich. | |
| Erst Mitte der Neunziger wird der sogenannte Klagebalken eingeweiht. Als | |
| einige Jahre später eine Gedenkstätte entstehen soll, protestieren | |
| Anwohner:innen dagegen. Ich setze mich in der Jüdischen Allgemeinen für | |
| den Bau ein. 2017, ganze 45 Jahre nach dem palästinensischen Terror, ist | |
| die Gedenkstätte fertig. | |
| Die Planer:innen hatten die geniale Idee, die Gedenkstätte mit einem | |
| begrünten Dach als eine Art „unterbrochenen“ Hügel in die wellige | |
| Landschaft zu bauen. Die Station beinhaltet Ausstellungsobjekte, Bilder und | |
| Lebensläufe der Ermordeten, Lerntafeln und audiovisuelle | |
| Hintergrundinformationen. Man wird im Zeitraffer durch die Ereignisse | |
| geführt. Die Botschaft ist eindeutig: Der Terror brachte den | |
| Palästinenser:innen überhaupt nichts und führte nur dazu, dass | |
| unschuldige Menschen starben. | |
| Das Olympiadorf, das Attentat, das Gedenken sind in mir, bis heute. Im | |
| Laufe meines Erwachsenenlebens werde ich immer wieder mit meinem | |
| Jüdischsein konfrontiert, sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien. | |
| Ob im Gymnasium, wo ein Lehrer schamlos von seinen Einsätzen mit einem | |
| Sturzkampfbomber erzählt, in der Südkurve des FC Bayern, wo Fans Spieler | |
| der gegnerischen Mannschaft als „Saujuden“ beschimpfen, oder auf | |
| Friedensdemos, wo Zionismus und Israel immer wieder die Hauptfeinde sind. | |
| Israel ist ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Meine Familie und ich | |
| besuchen Tel Aviv häufig, als ich klein bin. Ich erlebe dort die gleiche | |
| jiddisch sprechende Welt, die meinen Vater in München umgibt – eine Welt | |
| von Schoah-Überlebenden. 1979 gibt es den Friedensschluss mit Ägypten, wir | |
| verfolgen das von zu Hause aus wie gebannt. Mit dem verheerenden | |
| Libanonkrieg folgt 1982 ein Rückschlag, ehe sich das Land im Eiltempo auf | |
| weitere Friedensprozesse zubewegt. Auch die PLO ändert ihre Strategie. | |
| Als 15-Jähriger entschließe ich mich, München zu verlassen und nach Israel | |
| zu gehen. Ich will mehr über jüdische Geschichte und Religion lernen, | |
| meinen Schulabschluss machen. Ich glaube nicht mehr, dass alle Araber | |
| hinterhältig und böse sind. 1986, ein Jahr vor Ausbruch der ersten | |
| Intifada, wandere ich von meinem Internat aus ins nächstgelegene | |
| palästinensische Dorf Kafr-Qara, obwohl es uns verboten ist. Dort gehe ich | |
| in Cafés, treffe Männer, die mit mir über die Qualität deutscher Autos | |
| sprechen. Ich suche nach Kontakten zur palästinensischen Community und zu | |
| israelischen Friedensaktivist:innen wie Tuli, eine der jungen | |
| Jugendbetreuer:innen in meinem Internat, die mir sagt: Daniel, wir | |
| brauchen Leute wie dich in Israel. Nach Begegnungen wie diesen verstehe | |
| ich, warum ich in Israel bin: Ich suche nach Frieden. | |
| Spätestens, als [3][Jitzhak Rabin 1992] zum zweiten Mal Ministerpräsident | |
| wird, glaube ich auch an diesen Frieden, an ein Land, in dem Milch und | |
| Honig fließen. Ein jüdischer nationalistischer Rechtsextremist beendet | |
| diesen Traum 1995. Ich habe nie vergessen, dass Benjamin Netanjahu vor | |
| Rabins Tod eine der lautesten Gegenstimmen des Ministerpräsidenten ist. | |
| Meine persönliche Antipathie ihm gegenüber geht zurück in diese Zeit. Mein | |
| Abitur mache ich schließlich in Israel. Studieren will ich eigentlich in | |
| Bayern, weil ich dort verwurzelt bin und einen Job in Aussicht habe. Doch | |
| es gibt Probleme mit der Zulassung: Ein bayerischer Ministerialbeamter | |
| fordert ein Zeugnis meiner Deutschkenntnisse. Dabei bin ich gebürtiger | |
| Münchner, habe zehn Jahre an bayerischen Schulen gelernt und in Israel den | |
| Abi-Leistungskurs Deutsch belegt. | |
| Es verschlägt mich dann zum Studium an die SOAS University of London, die | |
| zu den besten der Welt gehört für Studien zum Nahen und Mittleren Osten, | |
| Afrika und Asien. Es dauert nicht lange, bis ich von der dortigen | |
| Studentenvertretung – die meisten harte, linke Engländer – als zweifacher | |
| Nazi klassifiziert werde: Ich bin ja nicht nur Deutscher, sondern habe auch | |
| noch Verbindungen nach Israel. Als ich ein deutschsprachiges | |
| Student:innenmagazin gründen will, werde ich angegiftet: „Wir | |
| unterstützen keine Nazibewegungen.“ Gaststudent:innen einer Universität | |
| in Gaza werden aufgefordert, nicht mit uns, den Jüdinnen und Juden und den | |
| Israelis an der Uni, zu sprechen. An den Wänden wird die Intifada | |
| gepriesen, die Student:innenvertretung lädt einen Sprecher der | |
| Hisbollah ein. Keiner hier ist an den Friedensverhandlungen interessiert. | |
| ## Kein Deutsch mehr sprechen | |
| Ende der Neunziger beginne ich ein Promotionsstudium in London. Thema: Wie | |
| legitim ist Gewaltanwendung in jüdischen und schwarzen nationalistischen | |
| und militanten Bewegungen? Ich habe mich selbst dabei immer als jemand | |
| gesehen, der sich gegen Gewalt positioniert. Auch deshalb angele ich mir | |
| schließlich einen Job als Presse- und Erziehungsbeauftragter für das | |
| israelisch-palästinensische, jüdisch-muslimisch-christliche und drusische | |
| Friedensdorf Wahat-al-Salam/Newe Schalom. Ich versuche, britische Medien | |
| auf das Dorf aufmerksam zu machen, bin verantwortlich für ein Lehrprogramm | |
| für englische Schüler:innen über Konfliktarbeit. Sonderlich groß ist das | |
| öffentliche Interesse an einer israelisch-palästinensischen | |
| Friedensinitiative nicht. | |
| Meine Doktorarbeit bringe ich nicht zu Ende, aus finanziellen Gründen. | |
| Bereits während meines Magisterstudiums habe ich mir geschworen, kein | |
| Deutsch mehr zu sprechen. Der industrialisierte Massenmord im „Dritten | |
| Reich“, Thesen wie jene von Daniel Goldhagen zur Mitschuld von | |
| Mitläufer:innen haben mich dazu gebracht. Schon in Israel hatte ich aus | |
| Deutschland stammende Juden kennengelernt, die kein Deutsch mehr sprechen | |
| wollten. Jetzt, in England, denke auch ich, dass ich mich mit diesem Land | |
| und der Sprache nicht mehr beschäftigen muss. | |
| Doch als ich 2008 Vater werde, ist Deutsch die einzige Sprache, in der ich | |
| Kinderlieder und -ausdrücke kenne. Das erste Wort meiner Tochter auf | |
| Deutsch ist „Hund“. Gemeinsam mit ihr entdecke ich die antiautoritären | |
| Kindersendungen der siebziger Jahre wieder, bestelle ganze DVD-Sammlungen | |
| von Löwenzahn, Rappelkiste und Kli-Kla-Klawitter. Sie hatten schon mich als | |
| Kind begeistert. Später absolviert meine Tochter erfolgreich die mittlere | |
| Reife, GCSE, im Fach Deutsch. | |
| 2012 beginne ich als Korrespondent für die taz und die Jüdische Allgemeine | |
| zu arbeiten. Anlass sind ausgerechnet [4][die Olympischen Spiele in | |
| London]. Ich will die olympischen Athlet:innen Israels besuchen, sie | |
| porträtieren. Der gesamte Olympiakomplex ist militärisch abgesichert, ich | |
| muss für diesen Besuch zahlreiche Sicherheitskontrollen passieren. 40 Jahre | |
| nach dem Attentat sind israelische Teilnehmer:innen zwar sicherer bei | |
| diesem internationalen Fest der Begegnung, aber weniger frei als alle | |
| anderen Sportler:innen. | |
| Ende September 2019 findet in Brighton im Süden Englands ein | |
| Labour-Parteitag statt, von dem ich berichten soll. In dem Saal herrscht | |
| Begeisterung für Labour-Chef Jeremy Corbyn. Ein Meer voller | |
| palästinensischer Fahnen und Farben empfängt mich. Die Abzeichen sind nicht | |
| im Sinne einer Zweistaatenlösung, gemeint ist ein „Free Palestine“ ohne | |
| Israel. In der englischen Linken heißt es in dieser Zeit oft, der | |
| Antisemitismusvorwurf gegenüber Labour sei nur eine Kampagne und vom | |
| rechten Blair-Flügel in der Partei gesteuert. Die Jewish Voice for Labour | |
| (JVL) stützt diese Erzählung, sie ist vergleichbar mit der Jüdischen Stimme | |
| für gerechten Frieden in Nahost in Deutschland. Die Mitglieder sind also | |
| sehr palästinafreundlich gesinnte Juden. „Ich habe noch nie Antisemitismus | |
| in der Partei erlebt“, behauptet ein JVL-Mitglied. 5.000 Besucher:innen | |
| applaudieren frenetisch. Dabei waren kurz zuvor Mitglieder wegen | |
| Antisemitismus ausgeschlossen worden. Das Jewish Labour Movement, eine | |
| andere Strömung in der Partei, hatte Beschwerde wegen des parteiinternen | |
| Antisemitismus eingelegt. Es gab einen Untersuchungsausschuss. | |
| Meine Frau, meine Tochter und ich sind damals Mitglieder einer | |
| liberal-progressiven Synagoge in Ostlondon. Auch dort treffe ich auf | |
| Vertreter:innen der Jewish Voice for Labour und auf Antizionist:innen. | |
| Als ich nach der Berichterstattung über zahlreiche Terrorangriffe in | |
| England und mit Gedanken an 1972 dem damaligen Vorsitzenden der Synagoge | |
| vorschlage, Sicherheitspersonal einzustellen, lautet seine Antwort: „Die | |
| Mehrheit der Mitglieder glaubt, dass das nicht notwendig ist.“ Die Gemeinde | |
| hat den Kirchenraum zum jüdischen Gottesdienst nur gemietet, die Mitglieder | |
| sind größtenteils progressiv links. Deshalb würden Terrorist:innen und | |
| Antisemit:innen die Synagoge meiden, glaubt er. Ich frage mich: Waren | |
| denn die jungen Fans der US-amerikanischen Sängerin Ariana Grande in | |
| Manchester im Mai 2017 und die Besucher:innen eines Rockkonzerts in | |
| Paris klare Zielobjekte für Terror? Ich bin skeptisch, behalte meine | |
| Bedenken aber für mich. | |
| An jenem Samstag im Oktober 2022 vor der Bat-Mizwa meiner Tochter werde ich | |
| auf brutale Weise an diese Bedenken erinnert. Kurz darauf wechseln wir in | |
| eine andere Gemeinde. Eine mit Sicherheitsvorkehrungen und weniger JVLern, | |
| aber mit einem Rabbiner, der sich trotz allem stark für den Frieden und | |
| interreligiösen Austausch einsetzt. Dort bin ich selbst inzwischen | |
| regelmäßig einer der Freiwilligen, die zur Sicherheit in Schutzkleidung vor | |
| der Synagoge stehen. Bei meinen Einsätzen bin ich nie alleine. | |
| Der 7. Oktober 2023 ist Schabbat, der jüdische Ruhetag. Schon morgens in | |
| der Synagoge höre ich von einem Angriff auf ein Musikfestival in Israel, | |
| doch das Ausmaß ist nicht annähernd klar. Am nächsten Tag wollen wir | |
| eigentlich Simchat Thora feiern, den Tag, an dem die Heilige Schrift geehrt | |
| wird. | |
| Es wird ein furchtbares Simchat Thora. Wir alle in der Gemeinde haben die | |
| Berichte gehört und gelesen. Der 7. Oktober offenbart sich als das größte | |
| und brutalste Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Schoah, den Köpfen | |
| der perversen Führung der faschistisch-militant-islamistischen Hamas | |
| entsprungen, die von Iran und Katar freundlich unterstützt werden. Der Wahn | |
| hat vor niemandem Halt gemacht, nicht vor Kindern, nicht vor Frauen, nicht | |
| vor Greisen, nicht vor Friedensaktivist:innen, nicht vor Haustieren. Die | |
| Opfer müssen unglaubliche Qualen erlitten haben. Ada Sagi, die Mutter eines | |
| Gemeindemitglieds, lebt im Kibbuz Nir Oz und ist eine der Geiseln. 53 Tage | |
| wird sie in Gefangenschaft bleiben. | |
| Und was passiert nach diesen barbarischen Taten? Mehr als 100.000 Menschen | |
| demonstrieren wenige Tage später in London – gegen Israel. Mir versagt da | |
| die Sprache. Kaum ist das Massaker vorbei, zeigen Leute offen ihren Hass | |
| auf Israel, Zionist:innen, Jüdinnen und Juden. Es gibt sogar Freudenfeiern. | |
| In Berlin, in London. Die antiisraelischen Großdemonstrationen in London | |
| ziehen sich über Wochen. Sie beginnen noch vor dem Rückschlag der | |
| israelischen Streitkräfte. Ich überlege, ob es sicher ist, weiter in die | |
| Synagoge zu gehen, und entscheide mich dafür. Der Gemeinde wird geraten, | |
| keine erkennbar jüdischen Kopfbedeckungen zu tragen. In vielen Gegenden der | |
| Stadt sieht man antiisraelische Slogans, Geiselposter werden von den Wänden | |
| gerissen. Der [5][prominente Israelhasser Roger Waters] legitimiert kurz | |
| darauf die Taten der Hamas. Es sei „gerechtfertigt, sich der Besatzung zu | |
| widersetzen“. | |
| ## Linkssein und Israelsolidarität schließen sich in Großbritannien | |
| größtenteils aus | |
| Mitte November kontaktiert mich das ZDF, in einem Beitrag soll ich die | |
| Perspektive eines deutsch-jüdischen Journalisten in London schildern. Ich | |
| sage: „In den Demonstrationen höre ich die Echos der Rufe von 1933.“ Das | |
| ist nicht übertrieben. Ich besuche die Demonstrationen selbst. Es geht | |
| dabei niemandem um eine Zweistaatenlösung oder eine Einstaatenlösung, die | |
| beide Seiten beinhaltet. Zahlreiche Teilnehmer:innen wollen überhaupt | |
| keinen Frieden. Sie wollen den Untergang Israels. | |
| Auf den Demos wird Israel als völlig weißer Apartheid- und Kolonialstaat | |
| dargestellt, der People of Colour drangsaliert. Eine Bastion des den | |
| sogenannten Globalen Süden unterdrückenden Nordens. Zionist:innen werden | |
| als genozidale Verbrecher hingestellt. Die alte Leier, ganz nach | |
| Hitler-Playbook, erlebt ebenfalls ein Revival: von den Rothschilds bis zur | |
| jüdischen Weltverschwörung. Jüdinnen und Juden werden als Hauptgefahr für | |
| muslimische Menschen bezeichnet, die Queers for Palestine beginnen, ein | |
| Regime zu verteidigen, unter dem LGBTQIA+-Menschen wenig zu lachen hätten. | |
| Gruppen wie Amnesty International, manche UN-Organe und | |
| Staatsführer:innen verlieren ihre Glaubwürdigkeit. | |
| Im März 2024 berichte ich von einer Nachwahl in Rochdale in der Nähe von | |
| Manchester. Linkspopulist George Galloway will hier mit Palästina-Parolen | |
| die Stimmen der großen muslimischen Community gewinnen. Galloway erklärte | |
| einst als Abgeordneter im nordenglischen Bradford seine Stadt zur | |
| „israelfreien“ Zone – knapp vorbei an „judenfrei“. In einem Viertel in | |
| Rochdale, in dem viele einen muslimisch-pakistanischen Hintergrund haben, | |
| hängen Poster, auf denen groß die palästinensische Flagge mit Galloway | |
| darauf abgebildet ist. Bäcker, Restaurantbesitzer, Optiker und Juweliere: | |
| Alle preisen ihn hier. Ein Friseur zeigt mir auf seinem Handy ein Foto | |
| Galloways, das ihn in seinem Salon zeigt. In Galloways Parteizentrale | |
| treffe ich zwei ältere Engländer, die ihn als wahren Helden und Retter des | |
| Landes bezeichnen. Als Journalist habe ich über die Jahre gelernt, Ruhe zu | |
| bewahren, die Dinge zu beobachten, aufzuschreiben. Wenn ich in Gegenden | |
| fahre, wo Menschen feindlich auf mein Jüdischsein reagieren könnten, trage | |
| ich den Davidstern unter dem Hemd und verzichte auf eine Kippa. Dass mich | |
| solche Tage belasten, merkt oft erst meine Frau, wenn ich abends nach Hause | |
| komme. | |
| Linkssein und Israelsolidarität schließen sich in Großbritannien | |
| größtenteils aus: Die englischen Grünen, bei deren Parteitagen ich oft | |
| einer der ganz wenigen Auslandskorrespondenten bin, erklären zu den | |
| Nationalwahlen 2024, ein Ende aller Waffenexporte an Israel sei ihr Ziel. | |
| Es ist die einzige außenpolitische Positionierung ihres gesamten | |
| Wahlprogramms. | |
| Ende August 2024 besuche ich Sheik Ibrahim Hussein, den Imam von | |
| Southport. Er ist mit seiner Gemeinde ein paar Wochen zuvor von | |
| Rechtsextremen angegriffen worden. Nun hat die Moschee ein neues | |
| Überwachungssystem installiert und Sicherheitsleute vor der Tür. Hussein | |
| zeichnet mir gegenüber ein Bild, in dem Muslime Juden immer gut behandelt | |
| hätten. Nach dem Massaker des 7. Oktober, nach Pogromen in Nordafrika, | |
| Irak, Iran, Syrien oder Ägypten gegen Juden so etwas zu behaupten, kann ich | |
| nicht nachvollziehen. In der Empfangshalle seiner Moschee liegen Flyer der | |
| Southport Friends of Palestine, die Israel als kolonialen Apartheidstaat | |
| beschreiben, dessen Einwohner selbst Tiere schlecht behandeln würden. Gerne | |
| hätte ich Hussein in diesem Moment mit meiner Lebenserfahrung konfrontiert, | |
| aber erstens bin ich alleine unterwegs und zweitens eigentlich für eine | |
| andere Story hier. Um professionell zu bleiben, halte ich mich zurück. | |
| Doch nicht ganz England ist israelfeindlich gesinnt. Im Herbst 2024 fahre | |
| ich an einem verregneten Tag nach Manchester. Dort findet der Parteitag der | |
| Torys statt. Er ist weniger stark besucht als sonst, die Torys sind nicht | |
| mehr Regierungspartei. Fast alle Parteimitglieder, mit denen ich spreche, | |
| erwähnen ungefragt den wachsenden Antisemitismus und den Angriff auf | |
| Israel. Sie geben sich solidarisch. Ich gebe mich offen als Jude zu | |
| erkennen, bin allerdings auch derjenige, der die Sorge über die israelische | |
| hart rechte Regierungskoalition, die sinkende Hoffnung auf Frieden und eine | |
| Zweistaatenlösung erwähnen muss. | |
| Die Solidarität, die ich hier erfahre, ist das eine. Dann ist da noch die | |
| auffällige Diversifizierung der britischen Konservativen, es gab bisher | |
| einen Parteiführer indischen und eine Parteiführerin nigerianischen | |
| Hintergrunds, insgesamt vier Frauen an der Spitze. Ich frage mich in | |
| Manchester, ob ich nach zwölf Jahren bei der linken taz plötzlich den | |
| Konservativen nahestehe, ob sich mein Weltbild gerade ändert. Fast bin ich | |
| erleichtert, als ich merke, dass ich vieles andere ablehne: die | |
| Umweltpolitik und die Rhetorik, wenn es um Fragen der Migration, der | |
| LGBTQIA+-Community oder der Folgen des Kolonialismus geht. | |
| Wo ist Platz für einen progressiven Juden wie mich heute in Großbritannien? | |
| Im liberal-grünen Spektrum fühle ich mich immer noch am ehesten zu Hause. | |
| Eigentlich aber bin ich parteilos. Ich fühle mich wie der letzte | |
| Dinosaurier einstiger israelischer zivilrechtlicher und friedensbemühter | |
| Parteien am linken Flügel, wie Ratz und Meretz, die beide nicht mehr | |
| existieren. Fernab meiner Rolle als Journalist, in der ich sowieso kritisch | |
| über alle Parteien und Gruppen berichte. | |
| Um den besonderen Status Israels zu verstehen, bedarf es eigentlich nicht | |
| viel: Jüdische Menschen sind eine über zwei Jahrtausende verfolgte | |
| Minderheit, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten und im Globalen | |
| Süden. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass sich genug Menschen | |
| unserer Geschichte bewusst und bereit sind, sich für uns und einen | |
| jüdischen Mehrheitsstaat einzusetzen. Was wiederum nicht bedeutet, dass | |
| ultrarechte nationalistische Israelis nicht zur Verantwortung gezogen | |
| werden sollten oder dass der militärische Einsatz in Gaza nicht kritisiert | |
| werden darf. Israel hat ein Recht, sich zu verteidigen, doch wie weit das | |
| geht, bleibt in jedem Konflikt wichtig. | |
| Vor dem 7. Oktober gingen die Menschen in Israel und anderswo auf die | |
| Straße. Sie demonstrierten gegen den Ausverkauf der israelischen Demokratie | |
| unter der ultrarechten Koalitionsregierung Netanjahus. Auch ich zählte zu | |
| diesen Menschen. Bis zum Tag der Massaker war mein Mantra immer, dass auf | |
| beiden Seiten die moderaten und Frieden suchenden Stimmen gestärkt werden | |
| müssten. Leider geschah das viel zu wenig. Das Friedensdorf, für das ich | |
| einst arbeitete, ist nur eine der vielen Initiativen, die Jahr für Jahr | |
| trotz hervorragender Arbeit knapp bei Kasse waren, weil sie nicht genug | |
| gefördert wurden. | |
| Ich habe fast 13 Jahren lang an zwei teils autobiografischen Büchern | |
| gearbeitet. „Soll sein Schulem“ habe ich sie genannt. Zu Deutsch: „Möge | |
| Frieden sein“. Der Ausdruck bedeutete für Überlebende der Schoah, wie | |
| meinen Vater oder meine Tante Ruszke, die im KZ Bergen-Belsen war, nicht | |
| nur eine Hoffnung in Bezug auf jüdische Menschen oder den Staat Israel. Das | |
| Wort Schulem stand auch für die Sehnsucht nach Ruhe und einem friedvollen | |
| Leben, ohne die alles überwiegenden Ängste, Nöte und Albträume. 80 Jahre | |
| nach der Schoah, nach der versuchten Zerstörung Israels 1948 und | |
| zahlreichen Terrorangriffen, nach dem 5. September 1972 und dem 7. Oktober | |
| 2023, nach Krieg, nach Hass, nachdem ich mit den Worten „Hitler hatte | |
| recht“ zu Boden geschlagen wurde, muss es heißen: „Soll sein Schulem.“ I… | |
| bettele nicht darum, ich fordere es. | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski arbeitet aktuell an der englischen | |
| Übersetzung seiner Buchserie. Sie ist im BoD-Verlag erschienen. | |
| 3 Mar 2025 | |
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| Trauer in Manchester: „Es gibt hier keinen Platz für Hass“ | |
| Nach dem Terroranschlag auf eine Synagoge trauert die jüdische Gemeinde und | |
| erfährt viel Zuspruch. Wie der Anschlag passieren konnte, wühlt auf. | |
| Buch „Soll sein Schulem“: Möge Frieden sein | |
| Streben nach Menschlichkeit nach der Shoa: taz-Korrespondent Daniel | |
| Zylbersztajn-Lewandowski schreibt in seinem Buch über die Geschichte seiner | |
| jüdischen Familie. | |
| Rücktritt bei Reform UK: Geschäftsführer weg, Wahlergebnis enttäuschend | |
| Am Donnerstag ist Zia Yusef von seinem Amt in der rechten Partei | |
| zurückgetreten. Die Ergebnisse der schottischen Nachwahl am Freitagmorgen | |
| heben kaum die Laune. | |
| Olympia-Attentat 1972: Es gab gar keinen Fernseher | |
| Historiker fanden über den Anschlag auf israelische Sportler 1972 heraus: | |
| Die Terroristen haben den Polizeieinsatz nicht live im TV verfolgt. | |
| Offener Brief gegen Netanjahu: Streit in der britischen Pessachwoche | |
| Einige Delegierte des „Board of Deputies of British Jews“ verurteilen die | |
| israelische Kriegsführung in Gaza. Der Präsident des Dachvereins stellt | |
| sich dagegen. | |
| Londons Fleischmarkt wird geschlossen: Ein Juwel aus Fleisch | |
| „Es ist klar, dass der Markt weiterleben wird“, beteuert Greg Lawrence, | |
| Sprecher der Händler. Aber wo? Aus dem Zentrum soll Londons Fleischmarkt | |
| weg. | |
| Nahostkonflikt: Ringen um Gaza und Geiseln | |
| Israelische Opferfamilien fordern eine staatliche Untersuchung des 7. | |
| Oktobers. Arabische Länder präsentieren einen Gaza-Plan. | |
| Judenhass an Unis: „Neue Dimension“ des Antisemitismus | |
| Ein neuer Bericht zeigt, wie Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 an | |
| deutschen Unis um sich griff. Viel mehr Vorfälle gab es aber abseits des | |
| Campus. | |
| Judenhass im Kunstbetrieb: Weitgehend ohne Konsequenzen | |
| Nach dem Angriff der Hamas auf Israel brach auch in der Kultur der | |
| Antisemitismus durch. Der Sammelband „Judenhass im Kunstbetrieb“ klärt auf. | |
| Offener Brief jüdischer Intellektueller: Sie verharmlosen Antisemitismus | |
| Über 100 in Deutschland beheimatete jüdische Intellektuelle haben die | |
| Verbote propalästinensischer Demonstrationen kritisiert. Eine Erwiderung | |
| unserer Autorin. |