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# taz.de -- Offener Brief jüdischer Intellektueller: Sie verharmlosen Antisemi…
> Über 100 in Deutschland beheimatete jüdische Intellektuelle haben die
> Verbote propalästinensischer Demonstrationen kritisiert. Eine Erwiderung
> unserer Autorin.
Bild: Mahnwache nach versuchtem Brandanschlag auf eine jüdische Gemeinde in Be…
In einem am 22. Oktober in der taz [1][veröffentlichten offenen Brief]
appellieren über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler:innen,
Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen für
Meinungsfreiheit und fordern, Proteste von Palästinenser:innen und
ihren Unterstützer:innen zu erlauben. Während die Forderung, das
Versammlungsrecht für alle gelten zu lassen, berechtigt ist, scheinen die
Unterzeichnenden die Realität vieler Proteste schlicht zu verleugnen. Sie
verharmlosen damit Antisemitismus und verhöhnen dessen Opfer.
Mahnwachen und Proteste sind – sofern sie friedlich verlaufen – im
Grundgesetz verbrieft und gehören damit zur freiheitlichen demokratischen
Grundordnung. Gedenkveranstaltungen für die israelischen Opfer der Hamas
kommen weltweit ohne antimuslimische Hetze aus. Während die Verhaftung
friedlich Demonstrierender und wahllose Repressionen unabhängig vom Anlass
des Protests aufs Schärfste zu verurteilen sind, geht die Behauptung der
Unterzeichnenden, es gäbe „keine glaubwürdige Verteidigung“ für aktuelle
Versammlungsverbote völlig an der Realität vorbei.
Bei ähnlichen Kundgebungen, sei es nun in New York, London oder Sydney
(„gas the Jews“), waren immer wieder antisemitische Parolen zu hören.
Weltweit gibt es eine Explosion antisemitischer Delikte. Auch bei Protesten
in Deutschland ist nicht erst seit dem 7. Oktober Sympathie für die Hamas
und antisemitische Hetze zu vernehmen. Wurden antisemitische Vorfälle auf
Protesten gegen Israel hierzulande bislang meist geduldet, sollen –
angesichts des größten Massakers an Juden nach 1945 – derzeitige Verbote
Vergleichbares verhindern.
Perfide kehren die Unterzeichnenden das Ganze jedoch um. Sie
instrumentalisieren die Gefahr einer Wiederholung der deutschen Geschichte
und behaupten, das Problem bestehe nicht in antisemitischen Vorfällen,
sondern im Versammlungsverbot. Klar ist: Das Versammlungsverbot darf
niemals diejenigen treffen, die ihre Ansichten friedlich kundtun wollen.
## Auch Kulturschaffende in Israel kritisieren die Regierung
Gewaltlose Proteste sind aber kaum zu erwarten, wenn Aufrufe titeln: „Wir
werden Neukölln zu Gaza machen. Zündet alles an.“ Den Unterzeichnenden sind
mögliche Beweggründe für zu beklagende [2][antisemitische Straftaten] wie
den Brandanschlag auf eine Synagoge oder das Markieren von Wohnorten
jüdischer Menschen mit Davidsternen allerdings „unbekannt“. Wer die
Gleichsetzung von „jeglicher Kritik“ an Israel mit Antisemitismus
zurückweist, wird noch lange über die Ursache des derzeitigen Anstiegs
antisemitischer Taten grübeln.
Sicherlich ist es grundsätzlich möglich, die Gräueltaten der Hamas zu
verurteilen und auch Israel zu kritisieren. Viele Kulturschaffende in
Israel und auch viele der Unterzeichnenden sind seit Jahren vehemente
Kritiker:innen der dortigen Regierung und prangern zurecht Missstände
an. Nicht selten jedoch erweckten die reflexartigen Erwiderungen auf die
brutalen Morde des 07. Oktober, die häufig mit Verweisen auf die
israelischen „Besatzer“ gespickt waren und ein Selbstverschulden
suggerierten, den Eindruck, hier würden Morde legitimiert und die
Motivation der Mörder rationalisiert.
Auffällig, aber nicht gerade verwunderlich ist, dass sich unter den
Unterzeichnenden kaum post-sowjetische oder Nachkommen post-sowjetischer
Jüdinnen und Juden finden, die jedoch einen Großteil der jüdischen
Bevölkerung Deutschlands ausmachen.
## Viele Israelis sind nach Deutschland ausgewandert
Die Kontingentflüchtlinge ließen zwischen 1990 und 2003 die jüdischen
Gemeinden hierzulande um ein Dreifaches anwachsen. Sie und ihre Nachfahren
haben die Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland überhaupt erst
ermöglicht, sie nachhaltig geprägt und damit dazu beigetragen, dass seit
2010 unter anderem auch immer mehr Israelis nach Deutschland ausgewandert
sind.
Viele der Unterzeichnenden sind Expats, die ihre Heimatländer nicht aus Not
verlassen haben, sondern um in Deutschland zu arbeiten. Mag sein, dass sie
sich aufgrund des Privilegs, nicht vor Antisemitismus geflohen zu sein, a
priori als Unterdrücker sehen und in vorauseilender Selbstkritik die Seite
der vermeintlich Unterdrückten ergreifen.
Ihre Äußerungen zeugen von einer Lebensrealität, die mit der eines
Großteils postsowjetisch-deutscher Jüdinnen und Juden jedoch wenig zu tun
hat. Ihre Haltung, nach der Israelkritik nichts mit Antisemitismus zu tun
hat, ist nicht repräsentativ. [3][Marginalisiert ist sie dennoch nicht,
bisweilen ist sie so willkommen] – man erinnere sich an die Causa Wolff –
dass sie über jeden Zweifel erhaben ist.
Dass man für den Brief das wohl bekannteste und mittlerweile doch recht
abgedroschene Zitat von Rosa Luxemburg, „Freiheit ist immer die Freiheit
der Andersdenken“, gebraucht, zeugt nicht bloß von der Banalität dessen,
was sich als Argument geriert.
## Trauer sollte friedlich kundgetan werden
Luxemburg, die beim Anblick eines ausgepeitschten Büffels ihre Tränen nicht
zurückhalten konnte über das Leid des „liebsten Bruder[s]“, ist wohl kaum
eine gute Kronzeugin für Menschen, von denen es einigen offensichtlich
schwerfiel, die auf brutalste Weise ermordeten Jüdinnen und Juden ebenso
unmissverständlich und ohne reflexartige Relativierungen zu betrauern wie
die Toten auf palästinensischer Seite. Von der Disproportionalität der
Trauer zeugt auch, dass die israelischen Geiseln in dem Brief mit keinem
Wort erwähnt werden.
Es bleibt zu hoffen, dass in Deutschland Trauer um palästinensische Opfer
friedlich kundgetan werden kann – und auch, dass die Trauernden dabei in
Zukunft nicht des Zuspruchs privilegierter jüdischer Intellektueller
bedürfen.
* Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Version dieses Briefes wird
in der Printversion der taz gedruckt.
26 Oct 2023
## LINKS
[1] /Offener-Brief-juedischer-Intellektueller/!5965154
[2] /Antisemitische-Straftaten-in-Deutschland/!5967456
[3] /Staatsleistungen-an-juedische-Gemeinschaft/!5930699
## AUTOREN
Larissa Smurago
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