# taz.de -- Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg: Gleiche Logik, gleicher Schr… | |
> Bei Menschen, die die Belagerung von Sarajevo erlebten, wecken die Bilder | |
> aus der Ukraine schlimme Erinnerungen. Auch sie lebten lange in | |
> Ungewissheit und Angst. | |
Bild: Die Container boten den Menschen Schutz vor Heckenschützen, Sarajevo 1993 | |
In Sarajevo, der Hauptstadt Bosniens und Herzegowinas, ist es schwierig, | |
den Blick nicht nach oben zu richten. Hin zu den umliegenden Bergen, wo | |
sich im Winter die Sonne schwertut, aufzusteigen und der Stadt etwas Wärme | |
und Licht zu bringen. | |
Seit dem 24. Februar, dem Tag, als der völkerrechtswidrige russische | |
Angriff auf die Ukraine begann, halten die Leute selten nach der Sonne | |
Ausschau. Vielmehr blicken vor allem Ältere mit Sorge nach oben. Sie | |
blicken dorthin, von wo die serbischen Belagerer die Stadt 1992 bis 1995 | |
drei Jahre lang mit Artillerie beschossen. | |
Die Bilder aus der Ukraine, [1][vor allem die aus Mariupol], haben viele | |
Bewohner:innen Sarajevos in Schrecken versetzt. Es erinnert sie an das, | |
was sie vor 30 Jahren erlebten. Wird es jetzt wieder Krieg geben?, fragen | |
sie. Nicht nur die Situation in der Ukraine beunruhigt, weil da Angst ist, | |
dass der Krieg auf angrenzende Länder überschwappt. Auch die Nachrichten | |
aus der serbischen Teilrepublik Bosniens und Herzegowinas, der Republika | |
Srpska, und aus deren Hauptstadt Banja Luka sind beunruhigend. Denn Putins | |
Obsession eines russischen Großreichs [2][hat, übertragen auf Serbien, auch | |
Unterstützer.] | |
Milorad Dodik, der „starke Mann“ der bosnischen Serben, hat sich kürzlich | |
damit gebrüstet, dass er in den vergangenen Jahren Wladimir Putin mehr als | |
20 Mal getroffen hat. Dodik macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für den | |
russischen Diktator. Die Russen haben schon 2017 Militärs und | |
Geheimdienstleute nach Banja Luka geschickt und sind dabei, serbische | |
Männer als „Sonderpolizisten“ auszubilden. | |
Dodik will den serbischen Teilstaat von Bosnien und Herzegowina abtrennen, | |
was die Bevölkerungsmehrheit des Landes nicht hinnehmen könnte. Kommt | |
hinzu, dass auch der kroatische Nationalistenführer Dragan Čović sich mit | |
Dodik verbündet hat und sich ebenfalls als Putin-Unterstützer outet. | |
„Wenn Putin gewinnt, dann hat er einen Stützpunkt in unserem Land“, sagt | |
Meho Alićehajić, ehemaliger Deutschlehrer und Historiker. Das sei sehr | |
gefährlich und müsste die Nato auf den Plan rufen. Die EU aber sei sehr | |
schwach und verhandele mit diesen Politikern, anstatt sie in die Wüste zu | |
schicken. | |
Für Meho Alićehajić, der als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebte und den | |
gesamten letzten Krieg in Sarajevo mit seiner Frau ausharrte, taucht mit | |
dem Ukrainekrieg das Trauma von damals wieder auf, „dieses Leben unter der | |
ständigen Gefahr, ohne Wasser und Heizung, ohne Strom, kaum Essen, nur ein | |
bisschen humanitäre Hilfe“. Der jetzt 89-Jährige wurde damals beim | |
Wasserholen bei dem Brunnen der Brauerei von Granatsplittern getroffen. | |
„Die Serben haben bewusst in die Schlange geschossen, so wie jetzt die | |
Russen in eine Brotschlange in Charkiw.“ | |
Abertausende Gebäude wurden damals in der 300.000 Einwohner zählenden Stadt | |
Sarajevo zerstört, über 11.000 Erwachsene und 1.500 Kinder getötet, 55.000 | |
Menschen zum Teil schwer verwundet. „Hinzu kommt, dass niemand jene als | |
Kriegstote gezählt hat, die krank waren, keine Medikamente mehr bekamen“, | |
sagt Meho Alićehajić. Es seien viel mehr Menschen in dem Krieg gestorben | |
als offiziell bekannt. „Und das ist auch in den Kampfgebieten der Ukraine | |
jetzt so.“ | |
Am Morgen des 5. April 1992 war alles noch friedlich, erinnern sich Meho | |
Alićehajić und seine Nachbarn. „Alle Leute aus der Nachbarschaft machten | |
sich damals auf den Weg.“ Sie gingen zur Demonstration für den Frieden, die | |
nahe dem Parlament und dem Hotel „Holiday Inn“ stattfand, wo die serbischen | |
Abgeordneten tagten. Sie waren dort zusammengekommen, weil zwei Drittel der | |
Bevölkerung am 2. März 1992 bei der Volksabstimmung für die Unabhängigkeit | |
des Landes gestimmt hatte. Die serbische Führung aber wollte die | |
Unabhängigkeit verhindern. Am 6. April sollte das Land von der EU | |
diplomatisch anerkannt werden. | |
Sollte Bosnien und Herzegowina sich für unabhängig erklären, dann werde das | |
Land im Blut versinken, hatte Radovan Karadžić, der politische Führer der | |
bosnischen Serben und Vorsitzende der Serbischen Demokratischen Partei | |
(SDS), gedroht. Deshalb gingen Hunderttausende für den Frieden | |
demonstrieren; es kamen Busse aus dem ganzen Land. Plötzlich fielen | |
Schüsse. Die ersten Kugeln trafen zwei junge Frauen auf einer Brücke über | |
den Miljacka-Fluss; der Krieg hatte begonnen. | |
Meho Alićehajić und weitere Nachbarn meldeten sich dann freiwillig bei den | |
Verteidigungskräften aus Polizei und Reservisten, die sich nach und nach | |
zur Bosnischen Armee (Armija BiH) formierten. Die gesamte Bevölkerung war | |
mobilisiert; „No pasarán“, dieser Schlachtruf aus dem Spanischen | |
Bürgerkrieg, war in aller Munde. Der Widerstandsgeist war erweckt. Genau | |
wie jetzt in der Ukraine. | |
## Die Stadt unter sich aufteilen | |
Mitte März 1992, also drei Wochen vor dieser Demonstration, war es mir und | |
einem ukrainischen Kollegen gelungen, den Serbenführer Radovan Karadžić in | |
seinem Hauptquartier im Holiday Inn zu interviewen. Sarajevo, so sagte er, | |
solle in drei Teile aufgeteilt werden: In einen muslimischen Ostteil, die | |
Altstadt. Novo Sarajevo und die angrenzenden modernen Stadtviertel wiederum | |
seien der serbische Teil. Und im Westen um Rajlovac könnten die Kroaten ein | |
Gebiet erhalten, sagte er. Wie solle das gehen? Das hieße Umsiedlungen, | |
viel Leid für die Bevölkerung, intervenierten wir. Karadžić antwortete | |
nicht. Sein Plan für Bosnien und Herzegowina war bereits entschieden. | |
Stipe Mesić, der letzte Präsident Jugoslawiens und ab dem Jahre 2000 | |
Präsident Kroatiens, erklärte vor zwei Jahren auf einer Konferenz im | |
Tito-Bunker von Konjic, was hinter dem Bosnienkrieg steckte. Im März 1991 | |
hatten sich die Präsidenten Serbiens und Kroatiens unter vier Augen | |
getroffen und vereinbart, dass Bosnien territorial zwischen den beiden | |
Staaten aufgeteilt werden solle. Bosnien und Herzegowina habe kein | |
Existenzrecht. | |
Nach dem Treffen hatte Mesić dann Tudjman gefragt: Was passiert dann mit | |
Alija Izetbegović, dem Führer der Muslime Bosniens? „Nema Alije“, es wird | |
keinen Alija mehr geben. Gemeint war, es werde keine bosnischen Muslime | |
mehr geben. | |
Karadžić sollte von serbischer Seite diese Strategie umsetzen und hatte mit | |
[3][Ratko Mladić] einen Oberkommandierenden, der als „Schlächter des | |
Balkans“ in die Geschichte einging. Die in sich verwobene multinationale | |
Gesellschaft sollte auseinandergerissen werden. | |
Auch die kroatischen Nationalisten machten sich bereit: Mate Boban, ihr | |
Führer, traf sich mehrmals mit Karadžić, um die territorialen Ansprüche | |
abzustecken. Ab Mai 1993 stellten beide Seiten die Kämpfe gegeneinander | |
ein. Die Nationalisten beider Seiten machten sich daran, die letzten Reste | |
der traditionellen bosnischen Gesellschaft zu zerschlagen. | |
Von der Fensterfront des von Österreichern am Ende des 19. Jahrhunderts | |
errichteten Gebäudes nahe dem Nonnenkloster, der Sufimoschee und der | |
katholischen Schule in Sarajevo, wo Meho Alićehajić wohnt, erscheint die | |
Silhouette des Bergzuges Vraca zum Greifen nah. Von dort oben, von dem | |
weitläufigen Gelände des Partisanendenkmals, ist im Gegenzug auch das | |
Gebäude mit bloßem Auge zu erkennen. Von Vraca aus konnte jedes Haus in der | |
Stadt beschossen werden. | |
Oben auf dem Gelände des Partisanendenkmals wird es gegen Abend still. Die | |
Besucherinnen und Besucher mit ihren spielenden Kindern sind weggegangen. | |
Die lange Reihe der Stelen mit den Namen der im Zweiten Weltkrieg getöteten | |
Männer und Frauen erscheinen in der Dämmerung fast unheimlich. „Schau mal�… | |
sagte wenige Monate vor seinem Tod am 8. April 2021 Ex-General Jovan | |
Divjak, indem er auf die Namen der Getöteten deutete, „hier kannst du die | |
Geschichte der Stadt kennenlernen.“ Auf diesen Stelen gebe es keine | |
ethnischen Trennungen. | |
Jovan Divjak war bosnischer Serbe und entschied sich, seine Stadt zu | |
verteidigen. Er wurde als Vizekommandeur der bosnischen Armee zum | |
Hassobjekt der serbischen Extremisten um Radovan Karadžić und Ratko Mladić. | |
Divjak verkörperte in seiner Person die bürgerliche und multiethnische | |
Identität Sarajevos. Divjak sah im Nationalismus eine primitive und | |
zerstörerische Denkform, die letztendlich in den Faschismus führe. Die | |
Partisanen hätten mit der Parole „Brüderlichkeit und Einheit“ vor allem d… | |
Menschen in Bosnien und Herzegowina zusammengeführt. 40 Prozent der | |
Familien waren gemischt. Die Nationalisten wollten diese Gesellschaft | |
auseinanderreißen und die gemeinsame Kultur zerstören. | |
Vor dem Angriff hatte Karadžić Briefe an alle Serben Sarajevos geschickt | |
und sie aufgefordert, die Stadt für ein paar Tage zu verlassen. Er | |
rechnete, wie Putin heute in der Ukraine, nicht damit, dass die Menschen | |
Widerstand leisten. Er glaubte, die serbischen Truppen würden die Stadt | |
schnell einnehmen, dann sollten die Serben in die „gesäuberte“ Stadt | |
zurück. Viele folgten dem Ruf; einige aber blieben. | |
## Die Serben glaubten an den schnellen Sieg | |
Von Seiten der Angreifer hatte niemand den Verteidigern so viel Mut | |
zugetraut. Vor allem die bosnischen Muslime, die Volksgruppe der Bosniaken, | |
hatten in den Augen der nationalistischen Serben wenig Kampfgeist. | |
Anfangs lief es ja auch für die serbische Seite nach Plan. Indem es den | |
Serben gelungen war, die Jugoslawische Volksarmee, die damals zu den | |
größten Armeen Europas gehörte, unter ihre Kontrolle zu bringen, gingen sie | |
zunächst im Osten des Landes gegen die wehrlose muslimische | |
Mehrheitsbevölkerung in die Offensive. Mladić’ Truppen nahmen das Tal der | |
Drina ein, töteten viele Menschen in Višegrad und Foča, steckten Frauen in | |
Vergewaltigungslager, zwangen alle, die sich retten konnten, in die Flucht. | |
Serbische Truppen, verstärkt von Freischärlern, stießen entlang der Sava | |
nach Westen vor. Die westbosnischen Städte Banja Luka und Prijedor fielen | |
ihnen ohne Kampf in die Hände. Dort wurden „Krisenstäbe“ tätig, die | |
Nichtserben zwangen, weiße Binden zu tragen, um sie schließlich in | |
Konzentrationslagern zu internieren. Allein in Prijedor starben im Sommer | |
1992 über 3.200 Menschen in den Lagern Omarska und Keraterm. | |
Die serbischen Truppen besetzten im Herbst 1992 über 66 Prozent des | |
Territoriums von Bosnien und Herzegowina. Zehntausende Menschen verloren | |
dabei ihr Leben. 2 von 4,5 Millionen Einwohnern flohen in die noch von der | |
bosnischen Armee gehaltenen Gebiete oder ins Ausland. Allein Deutschland | |
hat damals mehr als 300.000 Menschen aufgenommen. | |
Und dann noch das: Die kroatische Seite fing im Mai 1993 an, das | |
verbliebene Restbosnien anzugreifen und Gebiete für ihren Parastaat | |
Herceg-Bosna zu erobern. Die kroatisch-bosnische Armee HVO schoss mit | |
Artillerie auf die von Muslimen bewohnte historische Altstadt von Mostar. | |
Sie zerstörten die berühmte Alte Brücke, das Wahrzeichen der Stadt, das | |
zudem die Verbindung der Kulturen symbolisiert. | |
Die Zerstörung war umfassend, die meisten Gebäude waren nur noch Skelette, | |
Scharfschützen schossen auf alle Menschen, die sie sehen konnten. Die | |
Menschen überlebten fast 9 Monate lang in den Kellern, die durch Gänge | |
miteinander verbunden wurden. 5.000 Menschen sollen damals umgekommen sein. | |
Doch Ost-Mostar hielt dem ständigen Beschuss stand. Die Kroaten konnten die | |
Altstadt nicht einnehmen. | |
Die Bilder aus Mariupol wecken für Leute, die diese Hölle überlebt haben, | |
Erinnerungen, an den Hunger, den Durst. Indem die kroatisch-bosnische Armee | |
HVO die Zufahrtswege nach Zentralbosnien abriegelte, waren zwei Millionen | |
Menschen fast ein Jahr lang von der Außenwelt abgeschnitten. Die gering | |
bemessene humanitäre Hilfe durch die UN erreichte zwar die Städte Zenica | |
und Tuzla, doch sie konnte nur an Kinder und Alte verteilt werden. | |
Das von der bosnischen Regierung gehaltene Territorium bestand im Sommer | |
1993 eigentlich nur noch aus von Feinden eingekreisten Enklaven. Im Winter | |
1993/94 glaubten viele Menschen, sie würden nicht überleben. | |
Doch langsam konsolidierte sich der Widerstand. Die bosnische Armee | |
organisierte sich trotz aller Widrigkeiten, hielt die Frontlinien. Nach dem | |
Kriegsverbrechen in dem Dorf Ahmići nahe Vitez, als Kroaten über 20 Häuser | |
mitsamt den Bewohnenden anzündeten und über 100 Menschen, die meisten | |
Frauen und Kinder, elendiglich verbrannten, wurden alle Kräfte mobilisiert. | |
Die kroatische HVO wurde Stück für Stück aus Zentralbosnien vertrieben, | |
kroatisch dominierte Städte wie Vitez und Kiseljak wurden von bosnischen | |
Truppen umzingelt. | |
## Jeder Krieg geht einmal zu Ende | |
Den USA gelang es zudem, den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman zu | |
einer Umkehr seiner Strategie zu bewegen. Im März 1994 wurde das | |
Washingtoner Abkommen beschlossen, die Blockade Zentralbosniens wurde | |
beendet, es kamen wieder Lebensmittel in die umkämpften Gebiete. Die | |
bosniakisch und kroatisch kontrollierten Gebiete wurden in diesem Abkommen | |
in der Föderation Bosnien und Herzegowina zusammengefasst, der kroatische | |
Parastaat Herceg-Bosna aufgelöst. | |
Jeder Krieg geht einmal zu Ende. Der Weg dahin aber war in Bosnien sehr | |
schmerzlich. Die Vereinten Nationen haben in Bosnien versagt. In Sarajevo | |
zählten UN-Truppen lediglich die Granateinschläge. Ihr Mandat verbot es | |
ihnen sogar, bei schreienden Kriegsverbrechen einzugreifen. Dass die | |
UN-Truppen im Juli 1995 nicht in der Lage waren, die als „sicheren Hafen“ | |
deklarierte von Serben belagerte Enklave Srebrenica zu schützen, gehört zu | |
den dunkelsten Kapiteln der UN-Geschichte. Über 8.000 Menschen wurden | |
ermordet. Die UN-Kommandierenden in Bosnien, der französische General | |
Bernard Janvier und der Brite General Michael Rose, hatten den Einsatz von | |
Nato-Flugzeugen, die schon in der Luft waren, um die vorrückenden | |
serbischen Truppen anzugreifen, verhindert. | |
Nach dem Genozid von Srebrenica allerdings sollte nach dem Willen der USA | |
und auch Europas endlich Frieden geschaffen werden. Endlich trat die Nato | |
auf den Plan. Serbische Artillerie-Stellungen um Sarajevo wurden | |
beschossen. Die Menschen in Sarajevo atmeten auf. „Die verstehen nur eine | |
Sprache, die der Gegengewalt“, war die Meinung in der Stadt. | |
Die aus der Enttäuschung gewachsene antiwestliche Stimmung drehte sich | |
wieder. Endlich kam Hilfe von dort. Kroatische und bosnische Truppen | |
rückten vor, die Serben verloren im August 1995 binnen zehn Tagen alle | |
Eroberungen in Kroatien und mussten sich nach Bosnien zurückziehen. Im | |
September 1995 dann gelang es bosnischen und kroatischen Truppen, die | |
Serben auch in Bosnien zu schlagen. Doch sie kontrollierten immer noch 50 | |
Prozent des Landes. | |
Den schließlich im November 1995 in Dayton, Ohio ausgehandelten | |
Friedensvertrag aber konnten die serbischen Nationalisten unter den Jahre | |
später als Kriegsverbrechern verurteilten Karadžić und Mladić durchaus als | |
Sieg ansehen. Ihre Strategie, Bosnien und Herzegowina und damit die | |
gemeinsame multinationale Gesellschaft zu zerschlagen, wurde von der | |
internationalen Gemeinschaft akzeptiert. Und wird von ihren Nachfolgern in | |
der serbischen Führung fortgeführt. | |
Die Grenzen zwischen der serbischen Teilrepublik, der sogenannten | |
„Republika Srpska“, und der „Föderation Bosnien und Herzegowina“ wurde… | |
Dayton festgelegt. Beide Seiten kontrollieren seither rund 49 Prozent der | |
Fläche des Landes, 2 Prozent macht die Sonderzone Brčko aus. Und die | |
serbische Teilrepublik kann in allen Belangen der Politik die Geschicke des | |
Landes mitbestimmen. | |
Die bosnische Journalistin Aida Cerkez, die während des bosnischen Krieges | |
und danach für die amerikanische Presseagentur AP berichtete, hat kürzlich | |
einen bewegenden Brief an die Menschen in der Ukraine verfasst. Sie | |
beschreibt darin eindringlich die Lage während der 1.425 Tage langen | |
Belagerung Sarajevos ohne Wasser, Essen, Strom, Heizung und dem von den | |
internationalen Mächten auferlegten Waffenembargo. Sie fragte sich, was sie | |
heute in ein Hilfspaket für die Ukraine packen soll, und fand schließlich | |
ihr altes T- hirt von vor 30 Jahren. „Sarajevo will be“, steht darauf. Das | |
habe ihr damals Halt gegeben. | |
Aida Cerkez will keinen gekünstelten Trost verbreiten, sie schreibt mit | |
Empathie, ohne unrealistische Hoffnungen für die Leute zu wecken. Ihr müsst | |
da durch, es wird viele Opfer geben, ihr werdet widerstehen müssen, ihr | |
werdet neuen Mut finden, ihr werdet auch erkennen, dass es am meisten | |
schmerzt, wenn die Wahrheit über eure Lage verdreht wird, ist ihre | |
Botschaft. „Das Schlimmste sind die Lügen.“ Wie jene, die Verteidiger | |
würden sich selbst beschießen. | |
## „Sarajevo will be“ und „Ukraine will be“ | |
Aber immerhin bekomme die Ukraine Waffen, die wurden den Verteidigern | |
Sarajevos damals vorenthalten. „Ukraine will be“ schrieb sie – in | |
Anlehnung an „Sarajevo will be“. Ihr Brief fand seinen Weg in die | |
internationalen Medien und wurde in der Ukraine weit verbreitet. | |
Mitten durch das Gelände des Partisanendenkmals verläuft heute die | |
unsichtbare und doch allgegenwärtige Grenze. Die serbisch-bosnische Führung | |
will „ihren“ Landesteil mit Serbien vereinigen. Dahinter steht neuerdings | |
das Konzept der „serbischen Welt“; alle Gebiete, wo Serben leben, sollen in | |
einem Staat vereinigt werden. Das ähnelt dem Konzept Putins, die Ukraine | |
wieder in die „russische Welt“ zurückzuführen. | |
Am Partisanendenkmal vorbei führt eine Straße hinunter nach „Ost-Sarajevo�… | |
wie das moderne Neubaugebiet dort genannt werden will. Hier haben sich | |
viele Serben, die früher in Sarajevo lebten, angesiedelt. Die Wohnungen | |
sind neu und preiswert. Im Café neben dem Gavrilo-Princip-Denkmal aber | |
wollen die jungen Leute nicht über Politik sprechen, schon gar nicht über | |
Putins Krieg. Sie haben andere Probleme. | |
Der 19-jährige Dragan will in Belgrad studieren, doch weiß er nicht, wie er | |
das finanzieren soll. Die Unis in der Republika Srpska hätten keine | |
Reputation. Und in Sarajevo? Alle lachen, auf so eine Idee könne nur ein | |
Ausländer kommen. | |
Eine andere junge Frau, Vesna, hat ein bisschen Angst, denn ihr Vater | |
arbeitet in Sarajevo. „Wenn wir uns abtrennen, wäre hier eine Grenze und er | |
verlöre seine Arbeit.“ Das ginge dann vielen Serben so. | |
Jobs gäbe es keine, „wir alle müssen hier weg, nach Serbien, in die EU oder | |
England“. Das unterscheidet diese Jugendlichen nicht von jenen auf der | |
anderen Seite. | |
5 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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