# taz.de -- Umgang mit Breaking News: „Mut zur Langsamkeit“ | |
> Terror, Amok – wie geht man in Zeiten von Social Media mit Nachrichten | |
> um? Drei PlanerInnen von der „Tagesschau“ erzählen. | |
Bild: Amoklauf in München. Die TagesschauplanerInnen wollen erst wissen, was g… | |
taz.am wochenende: Herr Gniffke, nach dem Amoklauf in München gab es Kritik | |
an der ARD-Berichterstattung. Im „Tagesschau“-Blog schreiben Sie, dass | |
nicht immer alles „gut gelingt“. Was würden Sie heute anders machen? | |
Kai Gniffke: Ein Punkt, den wir kritisch sehen, ist, dass wir unsere beiden | |
Social-Media-Redakteure abgezogen haben, um für die Fernsehsendung die | |
sozialen Netzwerke auszuwerten. Darunter haben unsere Social-Media-Kanäle | |
gelitten. | |
Anna-Mareike Krause: Es führte dazu, dass unser erster Post auf Facebook | |
erst um 19.46 Uhr kam, fast 1,5 Stunden nach der ersten Meldung – das ist | |
eine Stunde zu spät. | |
Wie haben die User reagiert? | |
Gniffke: Mit Flucht. | |
Krause: Wir sind auch an diesem Abend gewachsen, wie immer in | |
Breaking-News-Situationen, und zwar stärker als die meisten unserer | |
Konkurrenten – mit einer Ausnahme. Grundsätzlich habe ich kein Problem | |
damit, wenn wir mit dem ersten Posting später kommen als die anderen, | |
solange die Meldung nicht sicher ist. Andere haben zu einer Zeit gepostet, | |
als man noch gar nicht genug wusste. | |
Nach den Schüssen im Olympiazentrum haben sich schnell Falschmeldungen in | |
den sozialen Netzwerken verbreitet, wie die angeblichen Schüsse am Stachus, | |
die es nie gegeben hat. Derartige Gerüchte aufzugreifen heißt, ihnen | |
Bedeutung zu verleihen, sie aber zu ignorieren heißt, dass sie sich | |
ungestört verbreiten. Wie gehen Sie mit dem Dilemma um? | |
Krause: Es reicht nicht zu sagen: Das ist nur ein Gerücht. Sobald es bei | |
der „Tagesschau“ stattfindet, nehmen es viele für bare Münze. Deshalb | |
müssen wir sorgfältig auswählen, was wir überhaupt verbreiten. | |
Gniffke: Mut zur Langsamkeit ist nötig. Wir haben den Stachus erst im | |
Programm gehabt, als die Polizei die Meldung dementiert hatte. Wäre am | |
Stachus wirklich etwas passiert gewesen, dann hätten wir es erst viel | |
später als die anderen gemeldet. Das Risiko muss man eingehen. | |
Wäre Transparenz ein Kompromiss? Mal zu sagen: Wir recherchieren die | |
Meldung noch. Oder: Eine Reporterin ist unterwegs – die ZuschauerInnen an | |
dem teilhaben lassen, was hinter den Kulissen abläuft. | |
Gniffke: Wir haben es hier mit Grenzsituationen zu tun, in denen vieles | |
nicht so funktioniert wie gewohnt. Eine Kollegin vom BR saß in einer | |
Eisdiele in München, als das Gerücht aufkam, draußen passiere etwas. Sie | |
hat sich zusammen mit anderen verbarrikadiert – dabei war gar nichts los. | |
Es handelt sich hier um eine kluge, rationale Journalistin, aber auch sie | |
wurde von der Panik erfasst. In derartigen Situationen die Arbeitsabläufe | |
offenzulegen halte ich nicht für sinnvoll. | |
Bei den Anschlägen in Paris im November ließ die ARD sichtlich überforderte | |
Sportmoderatoren aus dem Stadion berichten, während ein CNN-Reporter auf | |
der Straße mit dem Handy die Situation einfing. | |
Gniffke: Kein Mensch weiß, was für Bilder CNN da gesendet hat, ob sie | |
überhaupt von diesem Abend waren. Außerdem: Einfach nur laufen lassen und | |
mal gucken, was passiert, ist nicht die Lösung – und auch kein | |
verantwortungsvoller Umgang mit Bildern und Informationen. | |
Noch mal zu München: Zwischen der ersten Eilmeldung und Ihrer ersten | |
Sondersendung kurz nach 19 Uhr ist knapp eine Stunde vergangen. Was ist in | |
dieser Zeit passiert? | |
Oliver Hähnel: Zuerst ist zu bewerten: Ist das hier wirklich ein schlimmes | |
Ereignis? Und gleichzeitig alles vorzubereiten, damit man im Ernstfall | |
schnell senden kann. Und dann ist noch die Entscheidung abzuwarten, wann | |
wir auf Sendung gehen. | |
Wer trifft diese Entscheidung? | |
Hähnel: Wir selbst sind meistens der Meinung, dass das sehr schnell gehen | |
muss. Letztlich entscheidet das aber die Programmdirektion für Das Erste. | |
Gniffke: Konkret ist das der Programmdirektor Volker Herres in München. | |
Wenn weder er noch sein Stellvertreter erreichbar sind, entscheiden wir | |
selbst. | |
Am Abend des Putschversuchs in der Türkei wurde ein „Tatort“ gesendet, der | |
später für ein Update unterbrochen wurde. Hätte ein solches Ereignis in | |
einem Nato-Land nicht erfordert, den „Tatort“ ausfallen zu lassen und auf | |
Sendung zu bleiben? | |
Gniffke: Wir haben uns dagegen entschieden, um dem Korrespondenten Zeit zur | |
Recherche zu geben. Der hätte sonst für uns die ganze Nacht zur Verfügung | |
gestanden, wäre aber für den Folgetag ausgefallen. Das ist eine banale | |
Kosten-Nutzen-Überlegung: Nachts haben wir vielleicht 30.000, am Folgetag | |
wollen mehrere Millionen vernünftig informiert werden. | |
Claus Kleber hat kürzlich in der SZ geschrieben, es sei nicht immer leicht, | |
die Programmverantwortlichen zu überzeugen, das laufende Programm für | |
Liveberichterstattung zu unterbrechen. | |
Gniffke: Im letzten Jahr konnten wir immer, wenn wir es für notwendig | |
hielten, auf Sendung gehen. Bei Charlie Hebdo haben wir den ganzen Tag | |
gesendet, ebenso bei Germanwings und als Helmut Schmidt gestorben ist. Für | |
die verantwortliche Programmdirektion war klar, dass unsere Zuschauerschaft | |
diese Berichterstattung von uns erwartet. | |
Hähnel: Der Programmchef muss ja noch andere Sachen abwägen als wir – so | |
ein „Tatort“ ist eben nicht unwichtig. Natürlich: Wenn wir so weit sind, | |
wäre es schön, wenn wir selbst entscheiden könnten, wann und wie lange wir | |
senden. | |
Nachrichtensender wie CNN senden ununterbrochen durch. Bräuchte es bei den | |
deutschen Öffentlich-Rechtlichen nicht auch eine solche | |
24-Stunden-Liveberichterstattung? | |
Gniffke: In der Diskussion danach hieß es immer wieder: Ja, aber CNN hat | |
doch … – Hat jemand sich das mal genau angesehen? Was CNN macht, ist nicht | |
immer meine Idee von Nachrichten. | |
Warum nicht? | |
Gniffke: Weil es gelegentlich eine Illusion von Nachrichten ist – | |
Als-Ob-Berichterstattung ohne inhaltlichen Wert. Wir können natürlich 24 | |
Stunden senden, es ist immer ein Studioteam, ein Redakteur und ein | |
geschminkter Moderator im Haus. Aber deshalb die Ressource Korrespondent | |
verschleißen? | |
Hähnel: Und lasse ich Bilder flattern, von denen ich noch gar nicht weiß, | |
was da zu sehen ist – nur um dem Zuschauer das Gefühl zu geben, ich bin vor | |
Ort? Wir wollen erst wissen, was man auf den Bildern sieht, die wir den | |
Leuten zeigen. | |
Und das Programm anders zu füllen? Mit Einschätzungen von Experten etwa, | |
wie in der Nacht von München, als der Journalist Georg Mascolo in der ARD | |
befragt wurde? | |
Hähnel: Im konkreten Fall hätte das nicht viel genutzt, weil die Fakten | |
fehlten. Herr Mascolo musste zum Teil mit nicht gesicherten Annahmen | |
umgehen. Zum Beispiel hat er wiederholt von Terror gesprochen, weil das die | |
Polizei nahegelegt hat – während sich später herausgestellt hat: Das war | |
keiner. | |
Gniffke: Hinterher ist man natürlich immer schlauer. So wie bei München: | |
Hätten wir gewusst, es ist ein Amoklauf, dann hätten wir nicht viereinhalb | |
Stunden gesendet. | |
Warum diese Unterscheidung zwischen Terror und Amoklauf? | |
Gniffke: Ein Amokläufer ist ein Einzeltäter mit psychologischer | |
Prädisposition, der über das Ereignis hinaus keine Wirkung entfaltet. | |
Außerdem wissen wir, dass gerade bei Amoktätern das Ziel ist, | |
Aufmerksamkeit zu erregen. Deswegen zeigen wir nie ein Bild des Täters, | |
jedenfalls nicht unverfremdet. Denn da besteht die Gefahr der Ikonisierung. | |
In München war der Täter noch ein bis zwei Stunden flüchtig – wäre es da | |
nicht legitim, das Bild zu zeigen, weil es darum geht, die Bevölkerung zu | |
informieren? | |
Gniffke: Im Nachhinein wurde gesagt, man hätte den Täter ja so | |
identifizieren können. Das überzeugt mich nicht. Wir sind da vielleicht | |
konservativ, aber wir versuchen auch im Chaos, vorsichtig mit Bildern | |
umzugehen. Es gibt dann Anweisungen an die Redaktionen. Damals habe ich zum | |
Beispiel entschieden, dass wir bestimmte Bewegtbilder vom Parkdeck nicht | |
zeigen. Da lief der Täter rum wie Django – reine Inszenierung. | |
In den sozialen Medien sind die Bilder trotzdem unterwegs. Wie gehen Sie | |
auf Ihren Plattformen damit um: ignorieren oder relativieren? | |
Krause: Diese Zurückhaltung, die im Fernsehen richtig ist, ist auch in den | |
sozialen Medien richtig. Es stimmt, dass die Bilder trotzdem kursieren. | |
Aber in so einer Nachrichtenlage muss man das aushalten. Das ist nicht | |
einfach. Aber genau das ist dann unser Job. Eine Woche nach München gab es | |
diesen Fall in Saarbrücken. Da hatte sich ein Betrunkener in einem | |
Restaurant schlafen gelegt und daraus wurde ein Terroralarm. Ein | |
Bild-Reporter hat das sogar live vom Handy gestreamt. Und wir haben | |
trotzdem still gehalten. Am Ende stellte sich heraus, dass genau das die | |
richtige Entscheidung war. | |
Angenommen, jemand gibt Ihnen in der Kommentarspalte einen Hinweis auf ein | |
Ereignis, wie gehen Sie damit um? | |
Krause: Wenn jemand schreibt: „Ich habe gehört, am Stachus schießt einer“, | |
würde ich sofort den Chef vom Dienst der „Tagesschau“ anrufen. | |
Gniffke: Oder wenn jemand schreibt: Das, was ihr da gezeigt habt, kann | |
nicht sein. | |
Hat die Berichterstattung also durch Social Media gewonnen? | |
Krause: In solchen Fällen ja. Aber die große Mehrheit unserer Kommentare | |
ist nicht zielführend. | |
Hähnel: Social Media sind auch wunderbare Wege für Falschinformationen. Die | |
Perlen rauszupicken, die wirklich wahr und wichtig sind, ist eine | |
unglaubliche Herausforderung. Es sind oft genug bei Anschlägen Bilder | |
gepostet worden, die von einem anderen Ereignis stammten. | |
Krause: In den letzten Wochen haben wir täglich Hunderte Nachrichten | |
bekommen, es würden am Köln-Bonner Flughafen heimlich Flüchtlinge ins Land | |
gebracht. So etwas kommt viel häufiger vor als die Perlen. Nach denen | |
müssen wir richtig tauchen. | |
10 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Amna Franzke | |
Peter Weissenburger | |
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