# taz.de -- Highschoolfilm mit Social Media: Du traust dich wohl nicht? | |
> „Nerve“ ist einerseits eine Highschoolintrige. Andererseits kritisiert | |
> der Film Online-Games und die Mobstruktur von Social Media. | |
Bild: Emma Roberts in „Nerve“ | |
So neu sie auf den ersten Blick daherkommen, sind viele Onlinespiele in | |
Wahrheit doch alte Klamotten. „Nerve“, das titelgebende Online-Game im Film | |
der „Catfish“-Regisseure Henry Joost und Ariel Schulman, ist dafür ein | |
gutes Beispiel. Im Grunde ist es eine Variante von „Wetten, dass . . ?“, | |
nur eben ohne Gottschalk, dafür mit Smartphones und natürlich als App | |
verfügbar. | |
„Wetten, dass Sidney sich nicht traut, als Cheerleader ihren nackten | |
Hintern zu zeigen“, das wäre die Old-School-Variante, um den Vorfall zu | |
beschreiben, bei dem Filmheldin Vee (gespielt von Julia Roberts’ Nichte | |
Emma Roberts) von dem Spiel erfährt. Ihre beste Freundin Sidney ist bereits | |
ein Star darin – bemessen an den zigtausenden „Watchern“, die ihr folgen | |
und deren Anzahl wieder einmal steigt, als sie tatsächlich während der | |
Cheerleading-Performance vor dem freitäglichen High-School-Football-Spiel | |
unterm kurzen Rock den nackten Hintern entblößt. | |
Die brave Vee, die neben der extrovertierten Sidney als nerdiges | |
Mauerblümchen eingeführt wird, ist zuerst schockiert. Aber wie das so ist | |
im Genre High-School-Film, braucht es nur ein bisschen peer pressure und | |
„Trau dich doch!“-Provokation, und schon lädt auch Vee die „Nerve“-App | |
herunter. Man kann sich dort als „Watcher“ oder als „Player“ anmelden, … | |
Entscheidung, die der Film aus der „Point-of-View“-Perspektive des | |
Smartphones zeigt: Vee drückt auf „Player“. | |
Die Wetten gehen mit gebotenen Geldsummen einher, aber es gelingt dem Film | |
am Anfang ganz gut, zu zeigen, dass es nicht die Verdienstmöglichkeiten | |
sind, die Vee zum Spielen anstiften. Dass das Geld auf dem Konto ihrer | |
alleinerziehenden Mutter landet, dient als Vorwand, um Juliette Lewis und | |
damit einer der wenigen „Erwachsenen“ in diesem Film ein paar Szenen zu | |
verschaffen. | |
Ansonsten inszenieren Joost und Schulman mittels elegant eingesetztem | |
Digitalschnickschnack gekonnt den Thrill der Versuchung und der | |
Herausforderung, den das Spiel auf die schüchterne Vee ausübt. Die am | |
Bildrand eingeblendeten Social-Media-Kommentare zeigen Vee auf einmal als | |
Mittelpunkt einer „Konversation“, Luftaufnahmen vom nächtlichen New York | |
mit farbigen Leucht-„Stecknadeln“ markieren die Standorte der Player und | |
lassen die Stadt als zu eroberndes Spielfeld erscheinen, und die ebenfalls | |
am Rand eingeblendeten, stets steigenden „Watcher“-Zahlen vermitteln das | |
Machtgefühl der Popularität. | |
Der Spielverlauf als solcher beginnt einigermaßen harmlos: Als erahnten die | |
„Watcher“ die typische Unsicherheit einer 16-Jährigen, stellen sie Vee als | |
erstes die Aufgabe einen Fremden zu küssen. Mit ihrem geekigen Verbündeten | |
Tommy (Miles Heizer) macht sie sich auf, einen geeigneten Kandidaten für | |
die Aktion zu finden. | |
Gemäß dem Handbuch für High-School-Filme kommt Tommy mit, weil er für Vee | |
etwas empfindet; er selbst schaut auf so was wie „Nerve“ herab, denn seine | |
Sphären sind, so lässt er durchblicken, die des ominösen „Darknet“. Dann | |
wird Vee in Ian (Dave Franco) fündig. Der junge Mann in Motorradfahrerkluft | |
fällt ihr auf, weil er Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ liest, eines | |
ihrer Lieblingsbücher. | |
Statt ob dieses Zufalls misstrauisch zu werden (überhaupt erscheint Vee für | |
ihr Alter eigentümlich wenig medienerfahren) oder mit dem versprochenen | |
spontanen Kuss nur die Wette zu erfüllen, ergibt sich ein Flirt zwischen | |
Vee und Ian, und weil sie das Gegenteil von unbeobachtet sind, fordern die | |
„Watcher“ mehr davon und verwickeln Vee gemeinsam mit Ian in weitere | |
Herausforderungen. | |
## Games, Internet und soziale Medien als Drogenvarianten | |
Vom unbedarften Designerklamottenanprobieren über | |
Damit-aus-dem-Laden-Laufen bis zum Partycrashen und dem ersten Hochseilakt | |
steigert sich das Risiko der Wetten dann in schneller Folge. Es stellt sich | |
heraus, dass das Virginia-Woolf-Buch in den Händen eines Bikers natürlich | |
kein Zufall war, sondern dass Ian gewissermaßen eine Falle für Vee | |
darstellt, aber vielleicht ist er auch selbst ein Opfer eines Spiels, | |
dessen Macher im Hintergrund sich mehr und mehr als Finsterlinge | |
herausstellen. | |
Und was eben noch eine überraschend fesselnde und charmante Erforschung von | |
High-School-Milieu und Online-Gaming unter dem Druck von Social Media war, | |
wird plötzlich zum düsteren Thriller über das Mob-Verhalten der sich zu | |
Tode amüsieren wollenden Massen. | |
Interessanterweise empfindet man als Zuschauer die Handlung im letzten | |
Drittel des Films nicht deshalb vorhersehbar, weil man so etwas schon oft | |
gesehen hätte, sondern weil die darin enthaltene Kritik einem | |
festgefahrenen Muster mit den immergleichen Reflexen folgt. Games, Internet | |
und soziale Medien – das sind in dieser Perspektive nur Drogenvarianten, | |
folglich warnt man vor dem Suchtpotenzial, davor, dass es „falsche | |
Illusionen“ nährt und dass es besonders die Jugend gefährdet und | |
schließlich das Schlechteste aus den Mitmenschen herausholt. Und als wär | |
das nicht schon schlimm genug, steht hinter dem Spiel im Zweifelsfall eine | |
Organisation, die James-Bond-Film-mäßig nach Weltherrschaft strebt. | |
So macht „Nerve“ im Gegenschluss darauf Lust, auch mal einen Film zu sehen, | |
der die neue digitale Welt und ihre Vernetzungs- und Spielmöglichkeiten | |
feiert statt verurteilt. Denn am Ende ist es im Grunde das Vernetztsein, | |
das Vee aus dem Schlamassel hilft. Und es sind wieder die „Hacker“ (die wie | |
im Kino üblich ihrem Namen durch eifriges Tastaturbehacken alle Ehre | |
machen), die mit derselben Simplizität, mit der die einen kurz vor der | |
Weltbeherrschung stehen, diese per allmächtigen „Code“ auch wieder zu Fall | |
bringen. | |
Es braucht wohl einfach mehr Filme, mehr Bücher und mehr Forschung zu dem, | |
wie die digitale Revolution unseren Alltag verändert hat, um dann auch | |
differenzierter zeigen zu können, ob die App-Version von „Wetten, dass . . | |
?“ nur alter Inhalt im neuen Container ist oder doch neues Verhalten und | |
neue Machtgefüge schafft. | |
8 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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