# taz.de -- Kinothriller „Girl on the Train“: Eine unzuverlässige Erzähle… | |
> Die Verfilmung des Romans „Girl on the Train“, eines Falls mit vielen | |
> blinden Flecken, setzt vor allem auf Großaufnahmen und Atmosphäre. | |
Bild: Die Kamera hält bevorzugt auf Rachels (Emily Blunt) von Trunkenheit stum… | |
Das Leben der anderen zu beobachten und sich darin hineinzuversetzen, das | |
ist nicht nur die Grundhaltung für Perverse oder NSA-Mitarbeiter, es ist | |
auch die des Lesers und Kinozuschauers. Wenn man also Rachel (Emily Blunt) | |
zu Beginn von „Girl on the Train“ in besagtem Zug sitzen sieht, so stellt | |
man als Zuschauer über sie ganz ähnliche Vermutungen an, wie sie selbst es | |
mit diesem Pärchen tut, vor dessen Haus ihr Vorortzug oft stehen bleibt. | |
Wer ist diese Frau, die da mit alkoholseligem Gesicht aus dem Zugfenster in | |
das Häuschen von Megan (Hailey Bennett) und Scott (Luke Evans) starrt? Ihre | |
„Schwärmerei“ für das schöne Paar, zu der sie sich aus dem Off bekennt, | |
weist sie als Sehnsüchtige aus, als eine, die etwas verloren hat. | |
Rachel ist „verliebt“ in den Anblick von Megan und Scott und stellt sie | |
sich als glückliches, harmonisches Paar vor, weil sie selbst allein ist. | |
Ihr Exmann Tom (Justin Theroux), so erfährt man bald, hat sie für eine | |
andere, für Anna (Rebecca Ferguson) verlassen. | |
Der Versuch, den eigenen Schmerz durchs Fantasieren über fremdes Glück zu | |
lindern, erscheint so verständlich, dass man dem Film die Gezwungenheit | |
nachsieht, wenn Scott und Megan sich ausgerechnet in dem Moment auf dem | |
Balkon umarmen, in dem Rachel sie vom Zug aus sehen kann. | |
## Megans Betrug | |
Und erst recht die, als Rachel just das eine Mal zur Stelle ist, als ebenda | |
Megan sich in die Arme eines fremden Mannes schmiegt. Und man merkt als | |
Zuschauer, wie sehr Emily Blunt als Rachel bereits in ihre Geschichte | |
hineingezogen und die Fantasie beflügelt hat, wenn man ihre Wut auf Megan | |
und ihren „Betrug“ besser versteht als deren Handeln. | |
Erst als Megan als vermisst gemeldet wird und Rachel bei sich zu Hause aus | |
einem Vollrausch mit blessiertem Kopf und Körper erwacht, wird das | |
Misstrauen gegenüber der „unzuverlässigen“ Erzählerin geweckt, in die wir | |
uns hineinversetzen. Hat sie vielleicht wirklich etwas mit Megans | |
Verschwinden zu tun? | |
Der Reiz des gleichnamigen Bestsellerromans von Paula Hawkins hängt | |
unmittelbar mit der Unzuverlässigkeit seiner Erzählerinnen zusammen, was | |
wiederum nichts anderes heißt, als dass Hawkins’ kleiner Krimi seine | |
Spannung weniger aus den überraschenden Wendungen seiner Geschichte als | |
vielmehr aus seiner raffinierten Konstruktion bezieht. | |
Gleich dreimal variiert die britische Autorin das Spiel mit Wissen, | |
Unwissen und dem Wissen um das Unwissen: Da ist Rachel, deren Perspektive | |
die Erzählung dominiert, obwohl sie wegen ihres Alkoholismus und ihren | |
Aussetzern die meisten blinden Flecken aufweist. Doch Rachel weiß um sie | |
und versucht sie aufzufüllen. | |
## Unwissen dem Wissen vorziehen | |
Megan dagegen, deren Stimme nur am Rande vorkommt, kennt ihre eigenen | |
„Unknowns“ gar nicht. Und Anna wiederum, in ihrem vermeintlichen häuslichen | |
Glück an der Seite von Rachels Ex, zieht mehr und mehr willentlich das | |
Unwissen dem Wissen vor, um ihre „Kleinfamilienblase“ zu erhalten. | |
Der Schauspieler Tate Taylor, der als Regisseur des seifigen, aber | |
Oscar-nominierten Südstaatendramas „The Help“ Berühmtheit erlangte (und | |
damit immerhin der großartigen Octavia Spencer zu einem | |
Nebendarsteller-Oscar verhalf), bemüht sich in seiner Verfilmung zwar | |
darum, die literarische Konstruktion beizubehalten. | |
Aber er versäumt es darüber, die eine filmische Stärke der Vorlage | |
auszunutzen: dass die Handlung von „Girl on the Train“ nämlich mehr von | |
einer topografischen Begebenheit als von einem Ereignis ausgeht. | |
Rachels tägliche Zugfahrt aus dem Vorort in die Stadt führt sie entlang der | |
Hintergärten einer Straße, in der nicht nur ihr „Traumpaar“ Megan und Sco… | |
wohnt, sondern in der auch das Haus steht, in dem Rachel mit Tom | |
zusammenlebte. Nun ist es das Haus von Tom und Anna und deren Neugeborenem. | |
## Auf dem Stadtplan verort | |
Die blinden Flecken der Geschichte lassen sich gewissermaßen auf einem | |
Stadtplan verorten. Von der Art der Anlage her – kleine Häuschen mit | |
Hintergärten entlang einer Bahnlinie – erscheint dieser darüber hinaus als | |
typisch englisch. | |
Was in Hawkins’ Romanvorlage den realistischen Hintergrund liefert, London | |
mit seinen Vororten und seinem teils veralteten Schienennetz, erhält durch | |
die Verlagerung des Films nach New York und Umgebung jedoch einen Touch ins | |
Unwirkliche. | |
Und statt sich mit Geografie abzugeben, setzt Taylors Film auf die | |
Entrücktheit von Großaufnahmen. Immer wieder hält die Kamera mit geradezu | |
dermatologischem Nachdruck auf Rachels von Trunkenheit stumpf gewordenes | |
Gesicht, in dem nach und nach erst der Schmerz über das erkennbar wird, was | |
sie durchlitten hat. | |
Wie das letztjährige „Gone Girl“ enttäuscht auch das verfilmte „Girl on… | |
Train“ seine vormals begeisterten Leser. In beiden Fällen jedoch vergrößert | |
die Verfilmung vielleicht auch nur die in den Romanen bereits angelegten | |
Schwächen. Und auch wenn die Verfilmung der postfeministischen Diskurslust | |
nicht genug Stoff liefert, so besitzt „Girl on the Train“ doch ausreichend | |
Atmosphäre und Spannung für ein angenehmes Kinoerlebnis. | |
27 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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Thriller | |
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Francois Ozon | |
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