# taz.de -- Konzert Karamasi Washington: Epische Grooves | |
> Mit seinem Debütalbum „The Epic“ machte er im vergangenen Jahr | |
> international Furore. Am Dienstag ist Karamasi Washington mit seiner Band | |
> im Astra | |
Bild: Der kalifornische Musiker studierte unter anderem auch Musikethnologie | |
Ich gebe unumwunden zu: Von Jazz habe ich wenig Ahnung. „A Love Supreme“ | |
von John Coltrane oder Miles Davis finden sich zwar auch in meinem | |
CD-Regal, aber viel mehr ist da nicht. Jazz kenne ich vor allem in Gestalt | |
von Samples in HipHop-Tracks. Und das liegt nicht daran, dass ich Jazz | |
nicht mag. | |
Genres jenseits der Musik, mit der man aus welchen Gründen auch immer | |
autobiografisch verbandelt ist – in meinem Fall ist das die Popmusik –, | |
scheinen zwar oft theoretisch interessant. Aber wo anfangen auf einem so | |
weiten Feld wie dem des Jazz oder der Klassik? | |
Bei Jazz kommt dazu eine gewisse Schwellenangst, in Anbetracht des Milieus, | |
mit dem man das Genre jahrzehntelang assoziierte, seit Akademiker und | |
Rotwein trinkende Connaisseure den Jazz von den ursprünglichen Hipstern der | |
Nachkriegsjahre übernommen hatten. | |
Was vermutlich der Grund dafür war, dass Frank Zappa, selbst musikalischen | |
Anleihen beim Jazz gar nicht abgeneigt, bereits vor über vierzig Jahren bei | |
einem Konzert den legendären Spruch machte, Jazz sei zwar nicht tot, aber | |
er rieche komisch. | |
Vor diesem Hintergrund ist umso bemerkenswerter, welche Überraschung Kamasi | |
Washington im vergangenen Musikjahr gelungen war: Der Tenorsaxofonist, | |
mit 34 Jahren fast schon ein Veteran der Livemusikszene seiner Heimatstadt | |
Los Angeles, hatte mit dem unbescheiden betitelten Debütalbum „[1][The | |
Epic]“ Jazz zum heißen Scheiß gemacht. | |
Das Album tauchte auf Jahresbestenlisten auf und sorgte für Raunen im | |
Popbetrieb. Das fast dreistündige Werk hatte er übrigens bereits 2011 mit | |
seinem Ensemble und einem 32-köpfigen Orchester plus Chor eingespielt. Da | |
war die Welt vielleicht noch nicht bereit für dieses wirklich epische | |
Album. | |
„The Epic“ kommt mal aufbrausend, mal meditativ daher. Dann wieder macht | |
sich eine fiebrige Atmosphäre breit. Oft erinnern die Kompositionen an den | |
eingangs erwähnten John Coltrane, manchmal greift Washington Sun Ras | |
flimmernde Space-Fantasien auf. | |
Für jede Stimmung gibt es eine klangliche Entsprechung. Es ist wütend und | |
warm, düster und triumphal, in wechselnden Gewichtungen. Zwischendurch | |
schafft Washington soulige Inseln, auf denen man sich von der Wucht dieses | |
Albums erholen kann. | |
Das Faszinierende an dem Hype um „The Epic“ ist, dass das Album bei aller | |
Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit weit weg von dem hippen | |
Bindestrich-Jazz ist, wie er heute auf vielen Tanzflächen zu hören ist. | |
Dieses Album hätte wohl genauso vor vierzig Jahren erscheinen können. | |
Ob Kamasi Washington, der mit seinen wallenden Gewändern, seinem Afro und | |
seinen handtellergroßen Amuletten selbst aussieht wie ein Zeitreisender aus | |
den 1970er Jahren, mit diesem Album nun etwas Singuläres geschaffen hat | |
oder ob vielleicht sogar öfter tolle Alben im Jazz herauskommen und die | |
Schwarmintelligenz ausnahmsweise einmal hingeguckt hat, weil Washington auf | |
einem angesagten zeitgenössischen Label veröffentlicht und vor seinem Debüt | |
schon im Umfeld des Westküsten-HipHops in Erscheinung getreten war, ist da | |
fast sekundär. | |
Aufgewachsen ist Washington in Inglewood, einer Vorstadt von Los Angeles, | |
in der sich in den neunziger Jahren Gangs bekriegten und die naheliegende | |
Artikulationsform der Gangster-Rap war. Man wurde allerdings in Ruhe | |
gelassen, wenn man Besseres zu tun hatte, erzählte er in einem Interview | |
mit dem Online-Magazin [2][Pitchfork]. Und er hatte Besseres zu tun. | |
Als er sich mit 13 für das Tenorsaxofon entschied, spielte er schon einige | |
andere Instrumente. Washington studierte zunächst an einer Musikakademie, | |
später dann noch Musikethnologie. Mit den Musikern, mit denen er „The Epic“ | |
aufnahm, spielt er teils schon seit der Highschool zusammen. | |
Eher zufällig kam es dazu, dass er mit dem Rapper Snoop Dogg auftrat. | |
Fortan brachte er immer wieder den Jazz zum HipHop. Er bastelte | |
Arrangements für Kendricks Llamars Album „To Pimp A Butterfly“, einem | |
anderen großen Konsensalbum des vergangenen Jahres. | |
Seine eigene Musik veröffentlichte er nicht, wie sein Sound nahelegt, bei | |
einem Traditionslabel, sondern auf Brainfeeder, dem Label des | |
Avantgarde-HipHoppers Flying Lotus. Vielleicht erklärt sich der Erfolg von | |
„The Epic“ so, dass für Kamasi Washinton selbst alles Jazz ist. Obwohl er | |
Traditionspflege betreibt, lässt er sich offenbar nicht von Genregrenzen | |
abschrecken. Er übersetzt einfach alles in Jazz. | |
Jenseits aller Besonderheiten von „The Epic“ gibt es vielleicht einen | |
weiteren Grund für die gegenwärtige Jazz-Renaissance, der mit dessen Form | |
ganz allgemein zu tun hat: In Anbetracht der endlosen Reproduzierbarkeit | |
digitaler Inhalte boomen offenbar Kunst- und Lebenspraktiken, die ein | |
singuläres Erlebnis versprechen: ein gutes Essen, eine Performance und | |
damit eben auch alles, was mit Improvisation zu tun hat. | |
Natürlich wird in allen möglichen Genres improvisiert, doch im Jazz ist es | |
ein konstituierendes Merkmal. Live klingt ein Stück immer anders als auf | |
einer Platte. Einen Eindruck, wie das bei Washington ist, kann man sich auf | |
dem sehenswerten Videomitschnitt auf der Webseite des National Public Radio | |
verschaffen. | |
Das werde ich zumindest in aller Ausführlichkeit tun. Zum Konzert kann ich | |
nämlich leider nicht in Berlin sein. Ich werde mich mit „The Epic“ in den | |
Ohren auf eine windige Klippe legen und in den Himmel gucken. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
15 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Jazz-Shootingstar-Kamasi-Washington/!5200330/ | |
[2] http://pitchfork.com/features/interview/9659-a-new-standard-kamasi-washingt… | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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