# taz.de -- US-Gitarrist Harvey Mandel: Ausgebuffter Multitracker | |
> Keiner gniedelt besser als der Gitarrero Harvey Mandel. Auf seinem Album | |
> „Snake Pit“ spricht er mit seinem Instrument in vielen Zungen. | |
Bild: Harvey Mandel im Jahr 2013 | |
Von allen Ideen aus der Welt des Punkrock, erweist sich das Dogma, dass | |
Gitarrensolos doof sind, erstaunlicherweise als besonders langlebig. | |
Eigentlich geht ja alles wieder, was seinerzeit auf die schwarze Liste | |
geraten war: lange Haare und Bärte, aufwändige Prog-Inszenierungen, | |
peaciges Songwriting, „Yacht Rock“, ja sogar Fusion mit hypervirtuosen | |
Basssolos. Alle diese Dinge fanden im Hipsteruniversum irgendwie und | |
irgendwann wieder Gnade und erhielten schließlich die Ehrenplätze, die | |
verdienten Senioren zustehen. Nicht so das Rockgitarrensolo. Zumindest | |
nicht in Europa. | |
In den USA war das zwar anders. In der dortigen Punk-Variante konnten | |
Gitarreros wie Robert Quine (Richard Hell & The Voidoids) oder Curt | |
Kirkwood (Meat Puppets) ihre Virtuosität problemlos ausleben. In der | |
Restauration der Neunzigerjahre erreichte das Jam-Band-Phänomen als eigener | |
alternativer Lebensstil Massenkompatibilität und die meist von Jerry Garcia | |
(Grateful Dead) zuerst erforschten Territorien wurden von Typen wie Trey | |
Anastasio (Phish) und Derek Trucks besiedelt und urbar gemacht. | |
Diese Welt ist jedoch streng separiert von der des Indie- und Postrock, in | |
die auf welche Weise auch immer die europäischen Ideale Einzug gefunden | |
haben: Selbst wenn Bands wie Dirty Projectors oder Grizzly Bear ein | |
„Musicianship“ hochhalten – soliert wird selten und wenn dann nicht auf d… | |
Gitarre. Und wenn auf der Gitarre, dann nicht im Rockidiom, sondern | |
irgendwie avantgardistisch, anders. | |
## Sündenfall Eric Clapton | |
Der Feind, auf den man sich einigen kann, scheint das Eric-Clapton-Solo zu | |
sein. Claptons übelster Move dürfte ja nicht etwa seine Zusammenarbeit mit | |
Phil Collins gewesen sein (und die führte zu verdammt übler Musik). Nachdem | |
er sich im Trio mit Jack Bruce und Ginger Baker als Cream durch die | |
Entgrenzung und permanente Neudefinition des Genres Bluesrock hervorgetan | |
hatte, sodass man erwarten durfte, dass er in Kürze für die weiße Rockmusik | |
das werden würde, was Coltrane für den Jazz war, schwenkte er plötzlich und | |
unerwartet um in eine unerträglich selbstmitleidige Weinerlichkeit. | |
Sündenfall Claptons und zugleich eine historische Tragödie für die | |
elektrische Gitarre, ja die Popmusik in ihrer Gesamtheit dürfte sein Solo | |
im Beatles-Song „While My Guitar Gently Weeps“ 1968 gewesen sein. Clapton | |
nahm die verzerrte E-Gitarre aus den Händen von Hendrix, Townshend, Dick | |
Taylor und all den anderen wilden Watzen der enthemmten Sixties und | |
erniedrigte sie zur Heulsuse, die alsbald auf Engtanzfeten und wenig später | |
ganz groß in der Autowerbung reüssierte. | |
Ebenfalls 1968 erschien auf dem Philips-Label das Instrumentalalbum „Cristo | |
Redentor“ des Gitarristen Harvey Mandel. Es wäre falsch, Mandel als | |
Gegenentwurf zu Clapton zu bezeichnen. Aber jedenfalls nahm er all die | |
falschen Abzweigungen seines berühmteren Kollegen nicht, sondern blieb über | |
die Jahre einer Mission treu, die nicht erst den Punks, sondern schon den | |
Koks-Rockern der Seventies als unmöglich erscheinen musste: die | |
Ausformulierung einer eigenständigen, unabhängigen E-Gitarrenstimme, | |
jenseits von Genre-Vorgaben und Anlehnung an die gängigen Vorbilder mittels | |
souveräner, aber nie zum Selbstzweck verkommender Beherrschung der | |
Techniken, Geschmackssicherheit, Experimentierfreude und dem wohldosierten | |
Einsatz von Klangmanipulationshilfen – seien es Effektgeräte oder der | |
kreative Umgang mit Verstärkern (inklusive Durchbohren von | |
Lautsprechermembranen). | |
## Mit Canned Heat in Woodstock | |
Mandels Arbeit interessierte damals wie heute nur wenige. Seine 15 Minuten | |
Ruhm hatte der in Detroit geborene und in Chicago aufgewachsene Held | |
unserer Geschichte, als sein Kollege Henry Vestine 1969 die gerade auf | |
einer Erfolgsspur beschleunigende Boogie-Rock-Band Canned Heat verließ. | |
Gleich Mandels dritter Auftritt mit der Gruppe fand auf dem | |
Woodstock-Festival statt, kurz darauf prägte er das Album „Future Blues“ | |
entscheidend mit, das mit „Let’s Work Together“ einen Dauerbrenner des | |
„Classic Rock“ hervorbrachte (und auch ansonsten nicht nur das | |
erfolgreichste, sondern auch das beste Canned-Heat-Album ist). | |
Mandel zog jedoch bald weiter, stellte sich für eine Zeit in den Dienst des | |
British-Blues-Königs John Mayall (wohin er auch gleich Canned-Heat-Bassist | |
Larry Taylor mitnahm) und ließ sich in der Folge für die kurzlebige | |
„Supergroup“ Pure Food & Drug Act rekrutieren. | |
Seine interessantesten Arbeiten fanden sich jedoch auf den zum größten Teil | |
instrumentalen Soloalben, die er regelmäßig veröffentlichte – insgesamt | |
acht zwischen 1968 und 1974. Hier zeigt er sich als ausgebuffter | |
Multitracker, der mit seiner Gitarre in vielen Zungen spricht: jazzig, | |
noisig, bluesig, Easy Listening, funky – mitunter gleichzeitig, gerne aber | |
auch dramaturgisch geordnet, als ein Meister des Volume Pedals, der den | |
Hörer im Ungewissen lässt, ob nun Volume Pedal oder rückwärts laufendes | |
Tape, diesen unwirklich an- und abschwellenden Sound generiert und als | |
einer der profiliertesten Anwender der Tapping-Technik, die Klänge | |
zweihändig auf dem Griffbrett kreiert (lange vor Eddie Van Halen oder | |
Stanley Jordan oder Kaki King). | |
## Kleine Nester der Unmöglichkeit | |
Dabei kamen ihm höchst unterschiedliche Kollegen aus der ersten Liga der | |
US-Studiomusiker zu Hilfe, darunter Asse der L.A.-„Wrecking Crew“ wie Earl | |
Palmer und Mike Melvoin, Nashville-Cats wie Kenny Buttrey und Hargus „Pig“ | |
Robbins, aber auch Arrangeure wie der Westcoast-Jazzer Shorty Rogers und | |
vor allem der extrem vielseitige Streicherspezialist Nick DeCaro. Mit | |
diesen Unterstützern baute Mandel kleine Nester der Unmöglichkeit, | |
Anhäufungen von Musik, die so nach Hendrix und Cream von einem | |
wohlreputierten Blues-Rock-Solisten eigentlich nicht kommen konnten. | |
Denn neben mit einfachsten Mitteln hingeworfenen | |
Boogie-Rock-Selbstverständlichkeiten standen etwa „High-Test Fish Line“ | |
(auf „Get Off In Chicago“, 1971), das fast wie ein französischer | |
Film-Titelsong klingt, mit Bossa-Beat und Frauenstimme, die unisono zum | |
Piano Tonsilben singt, gekrönt von einem souverän exekutierten | |
Jazz-Gitarrensolo; oder „Baby Batter“ (vom gleichnamigen Album 1970), ein | |
Rare-Groove-Schätzchen mit Funky Drummer, Fender Rhodes und | |
Disco-Streichern; oder „Capurange“ von „Games Guitars Play“ (1969), ein | |
aufreizend langsamer Ein-Akkord-Jam, der es schafft, gleichermaßen bis an | |
den Kragen satt gekifft zu klingen und dennoch die ganze Zeit über eine | |
hohe Spannung auszustrahlen, die Erwartung zu schüren, gleich würde | |
irgendwas Unfassbares passieren. | |
Dass Mandel jetzt mit dem Album „Snake Pit“ wieder prominent in Erscheinung | |
tritt, überraschte selbst eingefleischte Canned-Heat-Fans, von denen nicht | |
wenige den Maestro längst nicht mehr am Leben wähnten (wie viele Mitglieder | |
dieser vom Pech verfolgten Band). Nach 1974 hatte Mandel nicht etwa den | |
Beruf gewechselt, er hatte mit seinen unzähligen Auftritten und | |
gelegentlichen Alben nur nicht mehr nennenswert in den Lauf der Geschichte | |
eingegriffen. | |
## Entschlossene Energie | |
Wieso interessieren sich also plötzlich gestandene Postrocker und eine | |
Gegenwart als Begleitband des als Wiedergänger Tim Buckleys gehandelten | |
Singer-Songwriters Ryley Walker für diesen, nun ja, Has-been? Die Idee | |
scheint einerseits zu sein, einen verdienten Seniorkünstler zu ehren und | |
ein paar Dollar in seine durch eine aufwändige Krebsbehandlung geleerte | |
Kasse zu spülen. Es scheint aber auch eine inhaltliche Idee zu geben: Die | |
Musiker und Produzent Josh Rosenthal, Chef des kalifornischen Labels | |
Tompkins Square, das darauf spezialisiert ist, alte wie junge | |
Singer-Songwriter wie Ryley Walker, William Tyler und Michael Chapman zu | |
veröffentlichen. Weil sie vielleicht spürten, dass sich bei Mandel das | |
Rockgitarrensolo eine Würde bewahrt hat, die es sonst schon lange | |
eingebüßt hat, weil es zur lächerlichen Fratze verkommen ist, zum | |
jämmerlichsten unter den Popklischees. Wie wunderbar! | |
Behutsam bauen sie Soundsituationen nach, die sie auf seinen klassischen | |
Alben fanden, ein wenig Funky Drummer, eine elegante Orgel, sogar | |
Streicherarrangements im Stile Nick DeCaros. Dann wird der Maestro von der | |
Leine gelassen und verblüffenderweise ist sein Spiel immer noch die | |
entscheidenden Schritte vom Klischee entfernt, hat sich eine Frische | |
bewahrt, die genauso erstaunt wie die entschlossene Energie, mit der Mandel | |
ein weiteres Mal seine Kunst vorführt. | |
Man hätte sich höchstens gewünscht, dass sich die Begleitmusiker hin und | |
wieder mal trauen, den Dauermonolog der Sologitarre zu unterbrechen. | |
Lediglich Keyboarder Ben Boye, bekannt von Aufnahmen mit Angel Olsen und Ty | |
Segall, mischt sich hin und wieder mal ein, verleitet den Protagonisten zu | |
Reaktionen. Und sorgt so dafür, dass er auch mal seine Komfortzone | |
verlässt. Die übrige Zeit hat man das Gefühl, Mandels Gitarrenspiel ergießt | |
sich aus einer Zeitblase, die plötzlich jemand angepiekst hat. Ryley | |
Walkers Band kann da nur zuhören und staunen. | |
7 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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