# taz.de -- 50 Jahre Grateful Dead: Sonnenschein und Todesnähe | |
> Die US-Acidrock-Legende Grateful Dead ist auch 50 Jahre nach der Gründung | |
> erfolgreich. Zum Jubiläum erscheint ein Boxset mit Liveaufnahmen. | |
Bild: The Grateful Dead bei einem Konzert 2002. | |
Eigentlich war sie ja fürchterlich kurz, die Hippiezeit. Von, sagen wir | |
mal: 1966 bis 1972, maximal 1973. 1974 herrschten schon Glam, Disco, fetter | |
Country-Rock, Yacht-Rock, Proto-Punk, verspiegelte Sonnenbrillen und Koks. | |
Nach den aufs Land verzogenen Langhaarigen fragte keiner mehr. | |
Und als die Regel bestätigende Ausnahme seit eh und je und mittendrin und | |
womöglich (und wie’s aussieht) für immerdar: die Grateful Dead, die | |
zutreffendst/prophetischst benannte Band aller Zeiten mit ihrer ständigen | |
Todesnähe, die drei Keyboarder beerdigte, bevor sich auch ihr schwer | |
diabeteskranker und polytoxikomaner Bandleader Jerry García entschied, die | |
Abzweigung zu nehmen, die ihn 1995 in eine Welt jenseits aller Gitarrensoli | |
führte. Die Grateful Dead existieren offiziell seit Ende 95 nicht mehr. | |
Erstaunlicherweise sind sie 2015 präsenter denn je. Dankbar sollten sie | |
sein: Bob Weir, Phil Lesh, Bill Kreutzmann und Mickey Hart haben gerade | |
wieder bewiesen, dass Untote länger leben. | |
Im Juli 2015 feierten die vier überlebenden Grateful-Dead-Mitglieder – | |
unterstützt etwa von Bruce Hornsby und Trey Anastasio (Phish) – anlässlich | |
des 50. Geburtstags ihrer Band eine Riesensause. Die zwei Konzerte im | |
kalifornischen Santa Clara und drei Auftritte in Chicagos Soldier Field, wo | |
sich zwanzig Jahre zuvor ihr letztes Konzert mit García zugetragen hatte, | |
sollen nun die unwiderruflich letzten sein. | |
## 52 Millionen US-Dollar in der Bandkasse | |
Was die emotionale Bedeutung dieser Musikaufführungen noch mal ins kaum | |
noch Vertretbare steigert: Das Branchenblatt Billboard berichtet, dass die | |
fünf rasend schnell ausverkauften „Fare Thee Well“-Konzerte von über | |
360.000 Besuchern live erlebt wurden, die mehr als 52 Mio. US-Dollar in die | |
Kasse der bandeigenen Agentur Grateful Dead Concerts spülten. Natürlich | |
wurden dabei Rekorde aufgestellt: Mehr als 71.000 Besucher am 5. 7. toppten | |
lässig die schlappen knapp 68.000, die 2009 im Soldier Field ein U2-Konzert | |
sehen wollten. Und weltweit über 400.000 Fans zahlten für die Kabel-, | |
Satelliten- oder Onlineübertragung des Events – den bisherigen Rekord bei | |
Musikevents hielten die Backstreet Boys, die 1999 immerhin 160.000 | |
Pay-per-View-Kunden mobilisieren konnten. | |
Doch das ist noch nicht alles: Im November erscheint die | |
12-CD-/7-DVD-Komplettbox des „FTW“-Events (für „Fare Thee Well“), limi… | |
auf 20.000 Exemplare, natürlich „only available on dead.net“, für 175 USD. | |
Das Fußvolk mag sich derweil begnügen mit der 4-CD-/2-DVD-Dokumentation des | |
5.7. (für 55 USD), während für den nicht wirklich ernst zu nehmenden | |
Schönwetter-Deadhead noch eine „Best of“-Auslese der Chicago-Konzerte | |
produziert wird, die durch den Zusatz „this title will also be available at | |
amazon.com“ dem Käufer sein hässliches Gesicht im Spiegel vorführt. | |
## 80 Alben, 30 komplette Konzerte | |
In solchen Band-endemischen Kastensystemen blüht die sterbende | |
Tonträgerindusrie heutzutage noch prachtvoll: Ebenfalls anlässlich des 50. | |
Jahrestages der Bandgründung erschien „30 Trips Around The Sun“, eine Box | |
mit nicht weniger als 80 CDs, auf denen sich 30 komplette, bisher | |
unveröffentlichte Konzerte befinden – aus jedem Jahr von 1966 bis 1995 | |
eines, insgesamt 73 Stunden Musik. Die Box ist auf 6.500 Exemplare | |
limitiert (6.500, weil sich die Band 1965 gründete), man kann sich die Ware | |
jedoch auch leichtgewichtig auf einem USB-Stick in der Form eines goldenen | |
Blitzes liefern lassen (ein Element des Bandlogos). Diese Variante ist auf | |
1.000 Stück begrenzt (zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes waren noch | |
200 übrig). Beide Editionen werden über dead.net zum stolzen Preis von | |
699,98 USD verkauft. | |
Auch von den „30 Trips Around The Sun“ gibt es eine heruntergerechnete | |
Version für den nicht initiierten Alltagshörer: Auf vier CDs bekommt man | |
aus jedem der 30 Konzerte je einen Song. „There may be no better way to | |
experience the Grateful Dead’s epic trajectory“, bewirbt die Band das | |
Produkt – der Untertitel lautet „The Definitive Live Story“. Ist es | |
geeignet, das Rätsel zu lösen? War das wirklich eine so tolle, besondere | |
Band? | |
Ein klares „Ja“ als Antwort auf die zweite Frage, ein „Eher nicht“ auf … | |
erste. Die Edition scheint sich an schlechter verdienende Eingeweihte zu | |
wenden, Novizen macht sie es nicht leicht. Das Besondere an den Dead lag ja | |
einerseits darin, dass sie einen eigentlich unmöglichen Mikrokosmos | |
amerikanischer Musikkonzepte verkörperten, John Coltrane und Flatt & | |
Scruggs, Reverend Gary Davis und Merle Haggard auf engstem Raum miteinander | |
verschmolzen. Sie waren aber auch eine extrem launische Band, die an einem | |
Abend müde und lustlos vor sich hin brödelte, um bei nächster Gelegenheit | |
zu strahlenden Space-Rock-Trips abzuheben, die geeignet waren, auch das | |
Bewusstsein nicht halluzinationsgeneigter Hörer kosmisch zu erweitern. | |
## Fahriger Beginn, grandioses Finale | |
Derlei Stimmungsschwankungen ereigneten sich gerne auch im Verlauf eines | |
Konzerts, mitunter sogar innerhalb eines Songs – die hier das Jahr 1981 | |
repräsentierende Version ihres (nebenbei bemerkt: erstaunlich kompetenten) | |
Disco-Abstechers „Shakedown Street“ ist dafür ein Beispiel: Nach einem | |
bedenklich fahrigen und unkonzentrierten Beginn scheint García auf einmal | |
zur Besinnung zu kommen und zu beschließen, Gas zu geben und loszulegen – | |
der Rest der Band folgt gehorsam, das Ende ist furios. | |
Solche Momente wurden allerdings ab 1980 weniger und weniger. So wie die | |
einzelnen Bandmitglieder mehr und mehr den falschen, zumindest dem | |
Hippie-Drogenkanon fremden Genussgiften wie Heroin, Kokain und Alkohol | |
verfielen, so schien ihre Zauberkraft zu schwinden. Mit dem Keyboarder | |
Brent Mydland rekrutierte man schließlich einen Musiker, der mit seinen | |
lungensüchtigen 80s-Keyboard-Sounds, seinem Mainstream-Songwriting-Approach | |
und seiner Joe-Cocker-Röhre quasi das Gegenteil der Musikauffassung | |
verkörperte, die sich ein Jahrzehnt zuvor in so strahlenden, kanonischen | |
Statements wie „Anthem Of The Sun“, „American Beauty“ oder „Europe’… | |
manifestiert hatte. | |
Da die „30 Trips“ alle Jahre gleich behandeln, ist die Zeit des Niedergangs | |
stärker vertreten als die – an Jahren kürzere – Zeit der außerordentlich… | |
Leistungen. Dies ist das eine Problem. Das andere liegt darin begründet, | |
dass man den Fans unbedingt bislang nicht offiziell zugängliche Konzerte | |
bieten wollte. Was schwierig ist angesichts der zahllosen | |
Veröffentlichungen kompletter Konzerte in CD-Reihen wie „Dick’s Picks“, | |
„Dave’s Picks“, „From The Vault“ oder „Road Trips“. | |
## Die Band ermutigte Fans zum Mitschneiden der Shows | |
Obwohl wahrscheinlich nur ganz wenige Konzerte der Dead nicht für die | |
Nachwelt festgehalten wurden – schließlich ermutigte die Gruppe schon | |
frühzeitig ihre Fans zum Mitschneiden und richtete in späteren Jahren stets | |
in Mischpultnähe sogenannte Taper Zones ein, in denen Fans unter optimalen | |
Soundbedingungen ihre Recording Devices zum Einsatz bringen konnten – | |
dürfte es nun langsam schwierig geworden sein, im Archiv noch | |
unveröffentlichtes spektakuläres Livematerial zu finden. | |
1999 erschien die 5-CD-Box „So Many Roads“ mit einem weniger strengen | |
Konzept: Hier suchte ein Team von Eingeweihten und Kennern des Archivs | |
beispielhafte, größtenteils brillante Liveaufnahmen heraus und reicherte | |
das Ganze mit Studio- bzw. Proben-Outtakes an. Hier waren ganze Phasen des | |
Bandschaffens ausgeklammert und die frühen Jahre besonders stark | |
repräsentiert. Im Ergebnis: die bessere Box. | |
Als gemäßigter Grateful-Dead-Fan (also nicht als gläubiger „Deadhead“, d… | |
für diese Sekte gelten besondere Bedingungen) – findet man auf der | |
Economy-Ausgabe der „30 Trips Around The Sun“ zwar noch einige Preziosen | |
(etwa eine unerwartet relaxte Version des oft, gerne und sehr | |
unterschiedlich von den Dead gecoverten Motown-Klassikers „Dancin’ In The | |
Street“ von 1970 oder eine sehr gut geprobte, präzise Variante des wohl | |
wegen seiner Komplexität selten live gespielten „Doin’ That Rag“). Aber | |
eigentlich würde man sich wünschen, dass die Band sich traut, eine neue | |
Variante der Archivauswertung zu probieren: kuratierte Compilations aus | |
Livematerial, die unterschiedliche persönliche Perspektiven auf die Band | |
zeigen und einem die Mühe ersparen, sich durch die Berge von CDs mit | |
kompletten Konzerten zu arbeiten. | |
13 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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