Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bassist Jack Bruce (1943–2014): Die berühmte Viertelstunde Wahns…
> Einer der besten Bassisten zwischen Jazz und Rock: Eine Sammlung Radio-
> und TV-Mitschnitte des Briten Jack Bruce offenbart sein schlampiges
> Genie.
Bild: Hatte auch ein Händchen für schwer auszuhaltende Hardrock-Gitarristen: …
Punk Rock, Yacht Rock, Krautrock, Westcoast-Singer/ Songwriter, Heavy
Metal, Disco – die 1970er Jahre haben durchaus einen umfangreichen Beitrag
zur Popgeschichte geleistet. Nur mit den beiden Stilrichtungen, die zu
Beginn des Jahrzehnts eigentlich die größten künstlerischen
Utopieversprechen abgegeben hatten, fremdeln heutzutage selbst
hartgesottene Retro-Jünger: Jazz-Rock (alias Fusion) und Progressive Rock
(kurz Prog Rock oder Prog).
Prog sollte die Rockmusik durch Annäherung an die europäische E-Musik auf
deren Level hieven, während Jazz Rock [1][die virtuose Spiritualität eines
John Coltrane] und [2][die erdverbundene Sexiness eines Jimi Hendrix]
miteinander in Einklang bringen wollte. Beide Versuche gingen schief.
Dabei gab es zu Beginn des Jahrzehnts durchaus einige vielversprechende
Resultate. Und Jack Bruce war an mehreren davon entscheidend beteiligt. Der
gebürtige Schotte hatte seinen Durchbruch zum Popstar von Weltruhm als
Bassist, Sänger und Haupt-Songlieferant des Powertrios Cream (1966–1968) an
der Seite von Gitarrist Eric Clapton und Schlagzeuger Ginger Baker gehabt.
Er veröffentlichte ab 1969 eine Handvoll brillanter, Prog-naher Soloalben,
auf denen er – von den Fesseln des Powertrio-Formats befreit – eine ganz
eigene, nicht zuletzt von seiner Bewunderung für Wiener-Schule-Vertreter
Anton Webern gekennzeichnete Popsong-Kompositionssprache entwickelte. Kurz
nach der Veröffentlichung seines Debütalbums „Song For A Tailor“ schloss
sich Bruce allerdings zunächst der Tony Williams Lifetime an
## Die Miles-Davis-Schüler
Die Band hatte sich 1969 als Trio von [3][Miles-Davis-Schülern] gegründet:
Schlagzeuger Tony Williams war 1963 als 17-Jähriger von Miles Davis
gecastet worden und Teil von dessen legendären Quintett der 1960er Jahre,
der womöglich besten akustischen Jazz-Formation aller Zeiten. Der britische
Gitarrist John McLaughlin hatte nur ein gutes Jahr bei Miles gespielt, aber
den Maestro immerhin so beeindruckt, dass er ein Stück des legendären
Doppelabums „Bitches Brew“ nach ihm benannte.
Larry Young, der sich später Khalid Yasin nannte, hatte nur kurz bei Miles
Davis als einer von vielen Keyboardern gastiert. Dafür hatte er vorher
zunehmend wundersame Alben als Hammond-Organist für das Blue-Note-Label
eingespielt, die das Instrument auf ganz andere, texturelle Art
interpretierten, als es etwa die zu der Zeit populären funky Organisten wie
Jimmy Smith oder Jack McDuff taten.
Als Trio veröffentlichte die Tony Williams Lifetime gleich nach der
Gründung 1969 das unvergleichliche Doppelalbum „Emergency!“, das das
vielleicht beste, vitalste, diverseste und ideenreichste Album des jungen
Genres Jazz Rock war und bleiben sollte, obwohl oder vielleicht, weil es so
roh und unbehauen klang und womöglich viel zu früh eingespielt wurde. Auch
Jack Bruce war beeindruckt und erzählte das McLaughlin, seinem alten Buddy
aus Londoner R&B-Tagen der frühen 1960er.
Da Bandleader Tony Williams seinerseits Cream-Fan war, ereilte Bruce nach
diesem Intro schnell die Einladung, Bandmitglied zu werden. Und als
Quartett spielt die Tony Williams Lifetime das Album „(Turn It Over)“ ein,
das eine nochmals angereicherte Variante des ersten Statements war: Bruce’
Souveränität am E-Bass, vor allem aber seine Jazz-geschulte
Improvisationskunst, seine einzigartige musikalische Vielseitigkeit, sein
Willen und seine Fähigkeit zuzuhören; all dies fügte den vieldimensionalen
Orgeltexturen, den wilden Gitarrenläufen und dem gleichsam majestätisch
dominierenden und doch melodisch feinsinnigen Schlagzeugspiel von Tony
Williams die Zauberingredienz hinzu.
## Aufreger: Keine Marshall-Verstärker
Dann reisten die vier im Oktober 1970 nach Bremen, um eine Session für die
legendäre Radio-Bremen-TV-Musikshow „Beat Club“ einzuspielen. Bei der
Aufzeichnung muss es erhebliche Probleme gegeben haben. „Beat
Club“-Moderatorin Uschi Nerke verkündete zu Beginn der Sendung, für die der
Beitrag von Lifetime eigentlich eingeplant war, man habe schweren Herzens
auf die Gruppe verzichten müssen, weil sie sich als „zu arrogant“ erwiesen
hätte.
Im Nachhinein tauchten Gerüchte auf, dass die Musiker Marshall-Verstärker
verlangt, aber nur Orange-Fabrikate gestellt bekommen hätten, was dazu
geführt hat, dass sie die Aufzeichnung vor der Zeit beendet hätten.
Tony Willams Lifetime löste sich kurze Zeit später auf, angeblich wegen
eines unfähigen Managements und wurde vom Bandleader kurze Zeit später mit
anderen Musikern neu gegründet.
„Einzigartiges Fundstück“, „Bedeutender Fund!“, „Post des Jahrzehnts…
die Online-Fangemeinde ging durch die Decke, als im September vergangenen
Jahres im YouTube-Channel des „Beat Club“ unverhofft Fragmente des
Lifetime-Sets ins Netz gestellt wurden. Für Musikliebhaber, die sich nicht
mit Youtube begnügen mögen, ist es daher eine gute Nachricht, dass die
erhaltenen Teile der Session nun auch auf einer Blu-ray-Disc veröffentlicht
wurde, als Teil des Jack-Bruce-Boxsets „Smiles & Grins – Broadcast Sessions
1970–2001“.
## Unmögliche Interviews
Übrigens war es vielleicht wirklich die Arroganz der Band, die den
Aufnahmen ein Ende setzte. Der britische Jazzkritiker Richard Williams
erinnert sich in seinem Blog „The Blue Moment“ an den Versuch, zu jener
Zeit ein Interview mit Tony Williams zu führen. Williams habe während des
Interviews Zeitung gelesen und selten mehr als ein oder zwei Worte auf
seine Fragen geantwortet.
Richard Williams nahm das sportlich und sieht im Nachhinein die Ursache vor
allem in der Ausbildung bei Miles Davis: „Viele der jüngeren Musiker, die
mit Miles in den Sechzigern gearbeitet hatten, übernahmen seine Weigerung,
freundlich zu sein, sowohl gegenüber dem Publikum, wie auch zu
Journalisten.“
Seine Wertschätzung der Band sieht er durch die Veröffentlichung der
Beat-Club-Session in Bremen bestätigt: „Für mich war es die Band der Zeit.
Viel mehr noch als Weather Report, Return To Forever, Headhunters oder das
Mahavishnu Orchestra erfüllten sie das Versprechen, das (die
Miles-Davis-Alben) ‚In A Silent Way‘ und ‚Bitches Brew‘ gegeben hatten.
Höchstens Hendrix in Bestform war auf ihrem Level. Und sie blieben nicht
mal ein Jahr zusammen. Es schmerzt, sich vorzustellen, was sie alles hätten
erreichen können.“
Ansonsten ist die Box das Dokument eines langsamen, aber unaufhaltsamen
künstlerischen Niedergangs. Die „Radio One“-Session von 1971, die die erste
CD der Box bildet, zeigt Bruce nach der Lifetime-Zeit auf dem Höhepunkt
seiner Solo-Phase, die gerade mit dem Album „Harmony Row“ sein Opus Magnum
hervorgebracht hatte. Von da an ging es bergab. Vor allem bewies Bruce nach
seiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Ausnahmegitarristen John
McLaughlin, Chris Spedding und teilweise ja auch Eric Clapton ein Händchen
für schwer auszuhaltende Hardrock-Gitarristen.
## Schwererträgliche Progmetal-Gniedeleien
Progmetal-Gniedeleien mit Clem Clempson in den späten Siebzigern sind
ähnlich schwer erträglich wie die Fusion-Metal-Versuche mit Vernon Reid aus
den Neunzigern. Auch als Songwriter schien ihm die Munition ausgegangen zu
sein, und am Ende greift er schließlich immer wieder auf dieselben alten
Stücke aus der Cream- und seiner frühen Solozeit zurück.
Je jünger die Aufnahmen in dieser Box, desto trauriger wird der Fall.
Entschädigt wird man ein wenig durch den Liveset einer kurzlebigen
Besetzung seiner Jack Bruce Band [4][mit der US-Jazzkünstlerin Carla Bley
an den Tasten] und dem bei den Rolling Stones unterforderten Gitarristen
Mick Taylor sowie zwei Triosets mit dem Saxofonisten John Surman und
Schlagzeug-Legende Jon Hiseman – hochkompetenter Brit-Jazz der freieren
Sorte.
Insgesamt also ein Heldenepos und eine Tragödie in einem oder auch eine
Mixed Bag, wie man im Vereinigten Königreich sagt. Die Viertelstunde
Lifetime lohnt aber eigentlich allein schon die Anschaffung.
9 May 2024
## LINKS
[1] /Verschollenes-John-Coltrane-Album/!5519263
[2] /Was-von-Jimi-Hendrix-bleibt/!5710927
[3] /Nachruf-US-Jazzsaxofonist-Wayne-Shorter/!5919657
[4] /US-Jazzerin-Carla-Bley-ist-tot/!5967549
## AUTOREN
Detlef Diederichsen
## TAGS
Jazz
Miles Davis
Bass
Rock
Radio Bremen
Retrospektive
Nachruf
100. Geburtstag
## ARTIKEL ZUM THEMA
US-Postpunk-Legende Steve Albini ist tot: Direkt in den Auspuff schauen
Schneidender Postpunkgitarrist, genialer Produzent. US-Künstler Steve
Albini ist tot. Nachruf auf einen kritischen Geist.
Max Roach vor 100 Jahren geboren: Drummer, Prophet – und zurück
US-Jazzdrummer Max Roach (1924–2007) wäre am 10. Januar 100 Jahre alt
geworden. Daher ist es Zeit für eine Huldigung.
US-Gitarrist Harvey Mandel: Ausgebuffter Multitracker
Keiner gniedelt besser als der Gitarrero Harvey Mandel. Auf seinem Album
„Snake Pit“ spricht er mit seinem Instrument in vielen Zungen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.