# taz.de -- US-Autorin Lydia Davis: Kurz gesagt | |
> Mit „Kanns nicht und wills nicht“ liefert Lydia Davis 123 | |
> Alltagsminiaturen. Es geht um Pfefferminzbonbons und Flugzeugabstürze. | |
Bild: Schreibt Kurzgeschichten, die aus einem Satz bestehen, und mag Katzen: US… | |
Sie interessiert sich für: Inka-Quipus, Bier, Asseln, die Vorlesungen von | |
Borges. Sie interessiert sich nicht für: Frauengestalten bei Shakespeare, | |
Ronald Reagan, Leoparden als Wappentiere. | |
Ein bisschen erinnert es an das Facebook-Like, wenn Lydia Davis vier Seiten | |
lang Themen von Zeitschriftenartikeln aufzählt und bewertet. Doch nein, die | |
1947 im US-Staat Massachusetts geborene Schriftstellerin möchte weder dem | |
Phänomen des sozialen Netzwerks auf den Grund gehen noch irgendeinem | |
anderen großen Gesellschaftstrend. | |
Seit mehr als 30 Jahren geht es Davis um das Banale, Unbeachtete, | |
Nebensächliche im Leben, um unglamouröse Alltagsprobleme wie etwa hier die | |
Bewältigung des Überflusses von ungelesenen Zeitschriften. Und es geht ihr | |
um immer neue Formen des Erzählens. | |
„Wie ich möglichst schnell meine alten Nummern des TLS durchlese“ besteht | |
lediglich aus einer Liste mit Leerzeilen, folgt inhaltlich keiner Handlung | |
und ist doch eine Kurzgeschichte – eine von 123, die in Lydia Davis’ | |
hervorragendem Band „Kanns nicht und wills nicht“ zusammengefasst sind und | |
nun auf Deutsch erscheinen. | |
## Auster, Proust, Flaubert | |
Davis, die bisher nur einen Roman („The End of the Story“, 1994) | |
veröffentlichte, widmet sich seit jungen Jahren der eher bestsellerarmen | |
Gattung der Kurzgeschichte, und das auch noch auf höchst unkonventionelle | |
Weise. So ist es weniger verwunderlich, dass die Autorin bis zu ihrer | |
Auszeichnung mit dem renommierten Man Booker International Prize im | |
vergangenen Jahr eher ein Geheimtipp war. Wenn überhaupt, dann kannte man | |
Davis als Exfrau von Paul Auster oder als Übersetzerin von Flaubert und | |
Proust. | |
Immerhin, ihre englische Übersetzung von „Madame Bovary“ gilt als | |
kanonisch, und über Auster mochte Davis sowieso nie ein Wort verlieren. Die | |
Frau mit den aschgrauen Haaren, die auf Autorinnenporträts gerne mit | |
schwarzen Katzen posiert, pflegt eine so vorsichtige Beziehung zur Sprache, | |
dass sie auch in ihren Texten nur äußerst ökonomisch und bewusst mit ihr | |
umgeht. | |
So sind Davis’ Geschichten meist kaum eine Seite lang, manche bestehen aus | |
einem einzigen Satz. In den längeren Stücken gibt es wiederum kaum | |
Antworten auf „Wer, wann und wo?“, dafür werden kuriose Details so | |
überpräzise gezeichnet und auseinandergenommen, dass die unklare | |
Gesamtsituation letztlich irrelevant bleibt. | |
Das neue Buch steckt voller kleiner Wagnisse. Dabei muss man die Arbeit des | |
Übersetzers Klaus Hoffer unbedingt achten, denn einige Geschichten von | |
Davis handeln unmittelbar von Sprache und sind damit nur bedingt | |
übersetzbar. Andere dagegen sind auch im Deutschen entwaffnend scharfsinnig | |
und amüsant, etwa wenn die Erzählstimme den Hintergrund eines | |
Rechtschreibfehlers im Hotelmenü zu imaginieren versucht oder einen | |
„Beschwerdebrief an eine Erzeugerfirma von Pfefferminzbonbons“ verfasst. | |
## Kunstvoll und komisch | |
Es ist nicht so, dass Davis in ihren Alltagsminiaturen allzu menschliche | |
Ängste wie Einsamkeit, Tod und Armut umginge, doch sind sie entweder nur | |
sehr vage zu erahnen oder so extrem präsent („Gerade während dieser Tage, | |
wo ich mich so sehr vor dem Sterben fürchte, habe ich in einem Flugzeug ein | |
sonderbares Erlebnis gehabt“), dass sie ins Groteske abdriften. | |
Wer sich also zitierfähige Lebensweisheiten erhofft, wird schnell | |
enttäuscht. Davis wirft unentwegt Fragen auf, deren Antworten irgendwo im | |
Irrationalen des menschlichen Gemüts liegen. „Ich fühle mich ziemlich wohl, | |
könnte mich aber ein wenig wohler fühlen“ heißt etwa eine Geschichte, die | |
die winzigsten Nuancen, die Leid von Freude trennen, unter dem Mikroskop | |
betrachtet. Dabei ist Davis jede Metapher zuwider, ihre Kunstfertigkeit | |
liegt im nüchternen Ausdruck, in der glasklaren Selbstbeobachtung, die | |
nicht selten etwas Komisches hat. | |
Und dann ist da noch das Spiel mit der Fiktion, deren Grenzen zur | |
Wirklichkeit bei Davis gleich in mehrfacher Hinsicht verschwimmen. So | |
handeln die Geschichten häufig von einer zum zweiten Mal verheirateten, | |
ständig reisenden und an der Universität lehrenden Frau mittleren Alters, | |
was eine ziemlich genaue Beschreibung von Davis’ eigener Person sein | |
könnte. Außerdem wählt sie immer wieder direkte Bezüge zu realen | |
Ereignissen, etwa in den Traum-Stücken, die im Nachwort als Nacherzählungen | |
von Träumen namentlich genannter Personen ausgewiesen werden. | |
Doch was heißt das schon, Fiktion, für eine Autorin, die so nah am Leben | |
schreibt? In „Nicht interessiert“ lässt Davis tief blicken, wenn sie das | |
Lesen-Müssen von vermeintlich guter Literatur mit lästiger Gartenarbeit | |
vergleicht und festhält: „In letzter Zeit ziehe ich Bücher mit | |
realistischem Inhalt vor oder mit einem Inhalt, den wenigstens der | |
Verfasser für realistisch hielt. Ich möchte mich nicht von der | |
Einbildungskraft von jemand anderem langweilen lassen.“ | |
15 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Kurzgeschichte | |
Booker Prize | |
Literatur | |
Literatur | |
Booker Prize | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Literatur | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Lateinamerika | |
Literatur | |
Pogrom | |
Alice Munro | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Erzählungen von Lydia Davis: Erotische Kassenstürze | |
Die Autorin Lydia Davis muss man einfach verehren. In ihrem nun übersetzten | |
Erzählungsband „Es ist, wie's ist“ klickt es oft. | |
Selfie-Literatur von Ben Lerner: Auf den Schultern von Giganten | |
Ben Lerner weiß um das Erbe der Literatur und erzählt ihre Gegenwart. Ein | |
Mainstreambuch ist sein Roman „22:04“ allerdings nicht. | |
Booker-Prize für Jamaikaner: „Eine kurze Geschichte von 7 Morden“ | |
Zum ersten Mal geht der renommierte Preis nach Jamaika. Marlon James gab | |
das Schriftstellertum beinahe auf, bevor er sein Werk schrieb. | |
Roman von Rachel Kushner: Das Leben als ironische Geste | |
Die Codes der Kunstszene, die Gerüche der Rebellion: Rachel Kushners | |
„Flammenwerfer" ist eine Ode an den guten Stil. Begegnung mit der Autorin. | |
Man Booker Prize 2014: Ehrung für Richard Flanagan | |
Der wichtigste britische Literaturpreis geht dieses Jahr an den Australier | |
Richard Flanagan. Er überzeugte mit „The Narrow Road to the Deep North“. | |
Literatur-Nobelpreis für Patrick Modiano: Ganz besondere „Erinnerungskunst“ | |
Der Nobelpreis für Literatur geht an den französischen Schriftsteller | |
Patrick Modiano. Sein Werk beschäftigt sich vor allem mit dem Zweiten | |
Weltkrieg. | |
Literatur von Eduardo Halfon: Rettender Zufall | |
Zehn autobiografische Kurzgeschichten über den jüdischen Großvater, die zu | |
einem Roman werden: Eduardo Halfons „Der polnische Boxer“. | |
Prosa-Debütantin Karen Köhler: Kunst und Leben | |
Die Hamburger Autorin Karen Köhler hat mit „Wir haben Raketen geangelt“ | |
einen größeren Medien-Hype ausgelöst: Der hat etwas mit der literarischen | |
Kraft ihrer Texte zu tun – und mit Windpocken. | |
Thomas Medicus' Buch „Heimat“: Geisterbeschwörung in Gunzenhausen | |
Das erste große Nazi-Pogrom fand 1934 im fränkischen Gunzenhausen statt. | |
Thomas Medicus' Spurensuche führt in „Heimat“ auch zu J. D. Salinger. | |
Alice Munros neuer Kurzgeschichtenband: Seht her, solche Dinge geschehen | |
Der neue Band der Nobelpreisträgerin Alice Munro heißt „Liebes Leben“. | |
Darin beschwört sie die Notwendigkeit der Literatur, um das Dasein zu | |
begreifen. |