# taz.de -- Roman von Rachel Kushner: Das Leben als ironische Geste | |
> Die Codes der Kunstszene, die Gerüche der Rebellion: Rachel Kushners | |
> „Flammenwerfer" ist eine Ode an den guten Stil. Begegnung mit der | |
> Autorin. | |
Bild: Rachel Kushner wirft einen ernüchterten Blick auf alles Verheißungsvoll… | |
Rachel Kushner rollt mit den Augen. Sie sitzt am weiß gedeckten Tisch eines | |
Hotelrestaurants in Berlin-Charlottenburg. An ihrem Wasserglas klebt roter | |
Lippenstift. „Wenn Leute sagen, ich würde wie ein Mann schreiben oder | |
denken, dann handelt es sich um ein großes Missverständnis darüber, wozu | |
eine Frau so fähig ist. Es muss nichts mit Männern zu tun haben, dass ich | |
mich für Maschinen interessiere.“ | |
Klar, mit diesen Klischees spiele sie ja auch in „Flammenwerfer“. Aber | |
merkwürdig sei es schon, sagt die Schriftstellerin, dass fast alle | |
Journalisten, die sie interviewten, männlich seien. | |
Die 46-jährige US-Amerikanerin ist auf Lesetour mit ihrem zweiten Roman, | |
der gerade auf Deutsch erschienen ist. Das Original, „Flamethrowers“, kam | |
2013 auf den Markt und wurde von der englischsprachigen Presse als Great | |
American Novel des 21. Jahrhunderts gefeiert. | |
Kein Wunder, denn auf 560 Seiten handelt Kushner scheinbar zusammenhanglose | |
Themen wie Motorradrennen, Konzeptkunst, Industriegeschichte und | |
Anarchismus in Form einer wunderschön fließenden Geschichte ab – in | |
rasantem Tempo und glasklarer Sprache. Und mit einem ernüchterten Blick auf | |
alles Verheißungsvolle: Geschwindigkeit, Sex, Revolution. | |
Knapp hundert Jahre umfasst die Story und bewegt sich von New York nach | |
Utah, von Rom nach Mailand, bis nach Alexandria und in den brasilianischen | |
Dschungel. Den Großteil aber bildet die Icherzählung einer 23-jährigen | |
Kunstabsolventin, die in den siebziger Jahren aus der Provinz nach | |
Manhattan zieht. Einen Namen hat sie nicht, bis jemand anfängt, sie wie | |
ihren Geburtsort zu rufen: Reno. | |
## Hippie-Eltern und Franzen | |
Kushner selbst ist in Oregon und San Francisco aufgewachsen, im bunt | |
bemalten Van ihrer Hippie-Eltern. Die neunziger Jahre verbrachte sie in New | |
York, studierte Kreatives Schreiben bei Jonathan Franzen. Heute lebt sie | |
mit Sohn und Mann in Los Angeles. | |
Wenn sie zum ersten Mal spricht, ist man überrascht von Kushners hoher und | |
zugleich rauer Stimme, dem Kontrast zu ihrer sanften Erscheinung. Unentwegt | |
droppt die Schriftstellerin im Gespräch Künstlernamen, weiß, was Warhol in | |
welchem Jahr gemacht hat, spricht von Proteststrategien in italienischen | |
Termini. Am liebsten spricht sie vom Schreiben. | |
„Diese Idee, dass man jedes greifbare Detail einer Figur wahrnimmt und | |
ausspricht, bis man erahnen kann, was er oder sie zum Mittagessen bestellt, | |
erscheint mir falsch. Wir kennen uns doch nicht einmal selbst in diesem | |
Maße“, sagt Kushner und öffnet ihre Handfläche fragend. | |
Sie interessiere sich nicht für die Psychologisierung von Figuren, um | |
logische Kausalreaktionen zu produzieren – „auf die Art: ’Oh, diese Frau | |
hat jenes Verlangen aufgrund der Tatsache, dass dies in ihrer Kindheit | |
passiert ist.‘ Ich empfinde das als Retro.“ Sie glaube an eine Lacan’sche | |
Konzeption der Person, an die Kraft des Unbewussten, die auch die | |
Erzählstimme in „Flammenwerfer“ weitgehend definiert. | |
Noch bevor sich Protagonistin Reno in den älteren Künstler Sandro Valera | |
verliebt, verbringt sie einige einsame Wochen in New York und beginnt in | |
einem Filmlabor zu jobben. Sie wird zum „China Girl“, einem der anonymen | |
Models in aufreizender Kleidung, die auf dem Vorspannband eines jeden Films | |
für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar sind. Ihr Hautton dient als | |
Referenzmodell für Farbabstimmungen. | |
Die Idee ist raffiniert. Denn wie ein „China Girl“ schickt Kushner ihre | |
Icherzählerin durch die Weltgeschichte, ohne dass wir zu viel von ihr | |
erfahren. Reno versucht keinen bestimmten Eindruck beim Leser zu erwecken, | |
ihre Vergangenheit beschränkt sich auf ein paar Eckdaten. Sie wird | |
lediglich mit wechselnden Situationen konfrontiert und reagiert darauf. | |
## Schnellste Frau der Welt | |
Etwa in der Kunstszene New Yorks, in die sie als Sandros Accessoire | |
eingeführt wird. Reno ist überfordert mit den snobistischen Codes. Doch | |
ihren provinziellen Background weiß sie bald zu reclaimen, in einer Zeit, | |
in der Land-Art-Künstler wie Robert Smithson die Landschaften des Westens | |
monumentalisieren. | |
Die junge Frau macht sich auf den Weg in die Salzwüste Utahs, um an einem | |
Motorradrennen teilzunehmen und anschließend die Reifenspuren zu | |
fotografieren. Doch als ein Unfall sie ausknockt und sie sich einige Tage | |
erholen muss, schnappt sich ein italienisches Team Reno für ein Autorennen | |
und macht sie zur schnellsten Frau der Welt. | |
Nicht zufällig ist das Team im Namen der Motorradfirma Valera da, die der | |
Familie von Renos Liebhaber gehört (und deren Geschichte in diversen | |
Kapiteln über Sandros verstorbenen Vater, T. P. Valera, samt Beziehungen zu | |
Futurismus und Faschismus aufgearbeitet wird). Reno und Sandro reisen nach | |
Italien für eine Werbetour, die nie stattfindet. Das Land ist gerade dabei, | |
im Chaos zu versinken. | |
Zuerst aber ereignet sich eine andere Katastrophe, sie halten Hof bei der | |
autokratischen Mama Valera, die nur Verachtung für die Amerikanerin übrig | |
hat. Unversehens legt Reno ihre Emanzipation an der Garderobe ab, steigt | |
aus dem Ledersuit ins Püppchenkleid – und erntet noch mehr Verachtung. Als | |
sie Sandro dann auch noch beim Fremdgehen erwischt, flüchtet sie weinend in | |
das Auto eines Valera-Arbeiters und landet in der WG einer linksradikalen | |
Gruppe im Herzen des aufständischen Rom. | |
## Überall ist Tränengas | |
Kushner schildert mit tausend Gerüchen, Farben und Klängen die | |
Protestszenen im Mai 1977 auf den Straßen Italiens, die im Jahr darauf in | |
der Ermordung des Präsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden gipfeln | |
sollten. Läden werden geplündert, statt Molotowcocktails fliegen | |
präparierte Espressokocher durch die Luft. | |
Überall ist Tränengas – wie auf den Plätzen der Occupy-Bewegung und des | |
Arabischen Frühlings, die, als Kushner an „Flammenwerfer“ schrieb, | |
nacheinander geräumt wurden. Die Autorin verfolgte Live Feeds aus Oakland, | |
Kairo und Athen, las „das alte italienische Zeug“, interviewte Zeitzeugen | |
aus der Autonomenbewegung. | |
„Viele Leute kommen inzwischen zu dem Schluss“, sagt Kushner, „dass Itali… | |
1977 viel relevanter für die Zukunft war als Paris 1968.“ Paris, das sei im | |
Endeffekt ein gescheiterter Versuch gewesen, die Studenten- und die | |
Arbeiterbewegung zu vereinen. | |
„Rom war anders. Die Stadt hatte keine besondere Arbeitergeschichte. Vor | |
allem im Stadtteil San Lorenzo, von dem im Roman die Rede ist, lebten | |
Menschen über Generationen hinweg, ohne jemals gearbeitet zu haben. Und in | |
diesem einen Moment, als sich die Möglichkeit bot, das bürgerliche Leben | |
komplett abzulehnen, machten sie das Viertel dicht und stellten eigene | |
Regeln auf.“ | |
Auf das soziale Gefüge der Autonomen blickt Kushner, indem sie Szenen aus | |
dem Dokumentarfilm „Anna“ zitiert, der in Rom entstand und erstmals 1975 | |
auf der Berlinale gezeigt wurde. Darin begleiten zwei Filmemacher eine | |
junge drogenabhängige Frau, die schwanger ist und gerade aus der | |
Irrenanstalt geflohen. In derselben voyeuristischen Manier, in der die | |
Filmemacher Annas schönen Körper ausbeuten, lässt Kushner ihre | |
Protagonistin ekelerfüllt auf die Männer hinter der Kamera blicken. | |
Gänzlich ohne diesen subjektiven Filter inszeniert die Autorin wiederum | |
eine Dinnerparty in New York, an der Reno als weitgehend sprachlose | |
Beobachterin teilnimmt. Sie ist umgeben von immerzu plappernden alten | |
Männern und hysterisch herumfuchtelnden Frauen, deren Worte keinen Sinn | |
ergeben wollen. | |
Es ist ein langes Kapitel, fast ausschließlich dialogisch und einer der | |
Glanzmomente in „Flammenwerfer“. Denn auch hier offenbart sich ein | |
Soziotop, das von alternativen Lebensentwürfen geprägt ist. Es geht um | |
jenen Zeitpunkt, in dem sich die Kunst in der Grauzone zwischen Performance | |
und Wirklichkeit ansiedelt und die Wirklichkeit für viele Künstler eine | |
weitere Manifestation ihrer Kunst ist. | |
„Die Szene ist gar nicht zynisch gemeint“, sagt Kushner, „ich kannte solc… | |
Leute, die in allem so ironisch waren, dass ihr gesamtes Leben zu einer | |
einzigen ironischen Geste wurde.“ So erschuf Kushner etwa die Figur Giddle, | |
die Kellnerin ist, aber meint, eigentlich nur tagtäglich die Performance | |
einer Kellnerin darzubieten. | |
Ein Leben als Kunstwerk ohne Publikum, so Kushner, das sei ihr Schlüssel | |
gewesen, um über die Kunst der Siebziger nachzudenken. Immerzu habe sie | |
sich bei Giddle gefragt: Bist du echt? Oder tust du nur so? | |
Überhaupt, sagt Kushner, sei das Schönste daran, einen Roman zu schreiben, | |
die Tatsache, dass jede Minute, die man verschwendet zu haben glaubte, auf | |
einmal nützlich werde. „Die Geschichte ist komplett fiktional, aber sie | |
enthält alles, was ich über das Leben denke.“ Und sie ist eine Ode an den | |
guten Stil. Renos Maschine ist tiefkühleisblau. | |
11 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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