| # taz.de -- Selfie-Literatur von Ben Lerner: Auf den Schultern von Giganten | |
| > Ben Lerner weiß um das Erbe der Literatur und erzählt ihre Gegenwart. Ein | |
| > Mainstreambuch ist sein Roman „22:04“ allerdings nicht. | |
| Bild: In Manhattan ist immer was los. Am vergangenen Freitag zum Beispiel stür… | |
| Gut, dass man auch die Uhrzeit übersetzt hat. Denn dieser zweite Roman des | |
| Amerikaners Ben Lerner heißt im Original „10:04“, aber damit ist | |
| keinesfalls der verheißungsvolle Morgen eines betriebsamen Tages im New | |
| Yorker Stadtteil Brooklyn gemeint. Nein, die Uhrzeit bezeichnet den | |
| abendlichen Zeitpunkt, „22:04“ eben, an dem der Blitz in die Rathausuhr | |
| einschlägt und sie zum Stehen bringt. Dieser Blitz ermöglicht es dem | |
| Zeitfahrer Marty McFly, wieder zurück in seine Gegenwart zu reisen, damals | |
| im Film „Zurück in die Zukunft“. | |
| Der Roman von Lerner indes könnte „Zurück in die Gegenwart“ heißen, denn… | |
| ist auch in den USA in jüngster Zeit selten ein Roman erschienen, der sich | |
| so sehr in der Gegenwart befindet wie dieser (lustigerweise spielt der | |
| dritte Teil des Films ja auch im Jahr 2015; aber bis auf diverse Hinweise | |
| auf Zeitempfinden und die achtziger Jahre – Ronald Reagan, das | |
| Challenger-Unglück – hat der Roman mit der Filmtrilogie nur wenig zu tun). | |
| Das betrifft nicht nur die Beschreibungsebene. Sondern auch die Technik, | |
| den Stil, das Transzendente, die durchschimmernde Theorie, die politische | |
| Dimension, die atmosphärische Feinfühligkeit dieses Romans. Man könnte es | |
| Literatur zur Zeit nennen, denn das genau ist sie. | |
| Was dieses Buch allerdings nicht ist: ein „Mainstreambuch“, das auf | |
| Handlung setzt, auf Figurenentwicklung, auf dramatische Zuspitzung, auf die | |
| genaue Beschreibung von Gesichtern, wie es sich der Ich-Erzähler von seiner | |
| Agentin beim teuren Abendessen im Szenerestaurant doch anraten lässt, | |
| hinsichtlich der Erwartungen des großen Verlags, der immerhin einen | |
| sechsstelligen Vorschuss hat springen lassen. Also, in echt jetzt oder | |
| zumindest in echt in diesem Roman. Denn die Unterschiede zwischen Realität | |
| und Fiktion verschwimmen, oder wie es im Roman heißt: Es ist „ein Buch, das | |
| wie ein Gedicht weder Fiktion noch Nichtfiktion, sondern ein Flimmern | |
| dazwischen ist“. | |
| Ein Flimmern, das dem Erzähler dann vor Augen tanzt, wenn er sich mit | |
| platonischer Freundin und DVDs bei Sturmwarnung in der New Yorker Wohnung | |
| verschanzt. Wenn er einen Occupy-Aktivisten beherbergt und über den | |
| Kochshowhype nachdenkt. Wenn er das heruntergekommene Verständnis von Kunst | |
| reflektiert, wie es in Praxen und Krankenhäusern Verbreitung findet. Wenn | |
| er sich Sorgen macht: über die gestohlene Zukunft, die mit der Apokalypse | |
| schwanger gehende Gegenwart. Und, natürlich, wenn er über sich selbst | |
| nachdenkt, über seine körperliche Gesundheit und seine Qualitäten als | |
| werdender Vater, genuin stadtneurotisch. | |
| ## Selfie-Literatur | |
| Diese Art von „Selfie-Literatur“, wie sie in anderen Besprechungen schon | |
| bezeichnet wurde, ist ja gerade schwer en vogue: Nach dem Ende der | |
| Geschichte und dem Ende der Geschichten folgt nun scheinbar die endlose | |
| Subjektivität. Die narzisstische Gesellschaft verlangt nach der (gebrochen) | |
| narzisstischen Literatur, man denke nur an den norwegischen Autor Karl-Ove | |
| Knausgård. Ben Lerner aber steht noch auf den Schultern von Giganten. Sein | |
| Schreiben weiß um sein Erbe, seine Vorläufer; der Roman „22:04“ ist die | |
| spätpostmoderne Spielart von Literatur, die sich selbst ständig explizit | |
| reflektieren muss: Metafiktion. | |
| Aber das Buch ist noch mehr. „22:04“ ist Zeitbetrachtung und Panoptikum und | |
| nebenher auch einfach ein Buch voller kleiner, schöner, verdammt gut | |
| geschriebener Geschichten. Lerner klärt en passant, inwiefern die | |
| Distinktion der grünen Neobourgeoisie insbesondere in Amerika rassistisch | |
| ist; er macht sich konkret und weitläufig Gedanken über künstliche | |
| Befruchtung; er verhandelt soziales Verhalten wie die Praxis | |
| zeitgenössischer Liebeskonstellationen; er besucht mit einem Knirps ein | |
| Naturkundemuseum; und er hat die lustigste und wahrhaftigste Drogenszene, | |
| die sich seit dem Kiffer-Kapitel im „Unendlichen Spaß“ von David Foster | |
| Wallace finden lässt. | |
| Überhaupt kann man dem Roman allerhöchstens vorwerfen, er sei | |
| zusammengeschustert: Ben Lerner flicht die Kurzgeschichte ein, die den | |
| Anlass für den Vorschuss bot und die tatsächlich zuerst im New Yorker | |
| erschienen ist. Es wird ein Gedicht verhandelt, die Aufzeichnungen des | |
| Kindes über Dinosaurier eingebunden, es wird von einem Stipendiat erzählt, | |
| wie es Lerner selbst in Texas angetreten hat, und wie nebenbei gibt es | |
| Bemerkungen über den Kunstbetrieb, bei denen man merkt, was für ein | |
| versierter und kundiger Kunstkritiker sein Autor ebenfalls ist (auch in den | |
| dortigen Literaturbetrieb gibt es interessante Einblicke). | |
| Ansonsten aber gilt: Nie war der Blick in die Danksagung am Schluss so | |
| wichtig. Denn die beiden Frauenfiguren Alena und Alex – unnahbare Geliebte, | |
| die Kunst macht, die eine und befruchtungsfreudige platonische Freundin die | |
| andere – heißen in Wirklichkeit ganz anders oder haben nie so existiert. | |
| Gleichsetzen lassen sich Autor und Erzähler jedenfalls nicht; Ben Lerner | |
| bleibt lieber beim postmodernen Spiel mit Identitäten. | |
| Akademisch überladen ist „22:04“ all dem Überbau zum Trotz aber | |
| keinesfalls. Dafür ist er nämlich auch zu unterhaltsam. Echt jetzt. | |
| 7 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| René Hamann | |
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