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# taz.de -- Roman von Atticus Lish: Schiffbrüchige in New York
> Atticus Lish schildert in seinem Romandebüt den schier aussichtslosen
> Kampf zweier Gestrandeter um Normalität in Queens.
Bild: Von verletzten Seelen erzählt Atticus Lish, 45, in seinem prämierten De…
„Die einzigen wahren Gedanken sind die Gedanken der Schiffbrüchigen“, hat
der spanische Philosoph José Ortega y Gasset einmal formuliert. Das war zu
einer Zeit, als Millionen Menschen durch den Faschismus in die Flucht
getrieben wurden. Die Erfahrung von Unrecht, Vertreibung und Gewalt hat
damals viele SchriftstellerInnen geprägt.
Sinnstiftend erscheint Ortega y Gassets Aphorismus aber auch für
„Vorbereitung auf das nächste Leben“, das fulminante Romandebüt von Attic…
Lish. Darin zeichnet der 45-jährige New Yorker die Wege zweier
Schiffbrüchiger von heute nach.
Da ist zum einen die uigurische Sans-Papier Zou Lei, die bei gewalttätigen
Auseinandersetzungen in ihrer chinesischen Heimat ihren Vater verloren hat,
in die USA flüchtet, aber von Abschiebung bedroht ist. Zum anderen ist da
Brad Skinner, ein traumatisierter G.I., der schwer verwundet von einem
Irak-Kampfeinsatz in die USA zurückkehrt.
Wie sich ihre Wege kreuzen, fädelt Atticus Lish ohne erzählerisches Pathos
ein, im Fitness-Center entdecken sie ihre Seelenverwandtschaft. Fast
nebenbei porträtiert er die beiden Entwurzelten, vom Leben gezeichnete
Existenzen, die im New Yorker Bezirk Queens stranden. Und er fasst ihr
Ringen um ein Mindestmaß an Würde, Empathie und einen schier aussichtslosen
Kampf um Normalität in eine packende Handlung, die Anklänge an einen
Thriller hat.
## Rastloses Tun in eindringlichen Worten
Lish gibt diesen beiden Sprachlosen nicht nur Stimmen, er schafft es auch,
ihr rastloses Tun in behutsame und gleichzeitig eindringliche Worte zu
kleiden. Zou Lei, „eine kleine Frau in Jeans, ohne Hut, mit einer
Plastiktüte in der Faust“. Oft steht sie mit verschränkte Armen da. Wie
diese resolute, radebrechend sich verständlich machende Frau überhaupt zur
englischen Sprache findet, grenzt schon an ein Wunder.
In diesem Überlebenskampf, der auch ein Konkurrenzkampf ist, spiegelt Lish
wiederum die mürbe Existenz von Skinner, einem Veteranen, der von
Sprachlosigkeit geprägt ist. Weil er nicht von seinen Kriegserfahrungen
sprechen will und seine Gedanken einfach nicht auf die Reihe bekommt. Weil
ihn die Army nicht ins „Warrior Transition Program“ aufnimmt.
Dass sich zwischen diesen Beiden eine Liebesgeschichte anbahnt und sie in
ihrem Begehren wenigstens zeitweise aufgefangen werden, zieht den Leser
tiefer in das Buch. Skinner sei „an so etwas wie Liebe nicht gewöhnt“,
schreibt Lish. „Wir sind einfache Leute“, entgegnet Zou Lei einem Anwalt,
von dem sie sich Tipps zur Aufenthaltsgenehmigung erhofft, „aber unsere
Gefühle sind echt.“
## Wie New Yorks abseits der Klischees pulsiert
Überdies schildert Lish eine pulsierende Stadt, abseits gängiger Bilder von
New York und seiner spektakelnden Unruhe: Die Wolkenkratzer sind in weiter
Ferne, „Vorbereitung auf das nächste Leben“ berichtet dagegen von einer
Schattenwirtschaft, in der „Fleischspieße wie Blumensträuße“ gereicht
werden. Der Alltag mit seinen kleinen Fluchten und manchmal fiesen Dramen
ereignet sich zu ebener Erde, versteckt in den schmucklosen Reihen- und
Geschäftshäusern und einem Labyrinth aus Sweatshops und Fast-Food-Läden,
die nichts mit dem horizontalen Glasfassaden Manhattans zu tun haben und
vor allem flüchtig sind.
„Schriftstellern ist eine flüchtige Tätigkeit“, hat Atticus Lish in einem
Interview mit dem US-PEN-Club gesagt. Und er hat Schreiben mit Gymnastik
verglichen. „Wenn du Stunden im Fitnesscenter ausfallen lässt, verlierst du
deine Form, bist nicht mehr der Gleiche wie vorher. Deshalb ist Schreiben
für mich auch keine Identität.“
Michael Kellner überträgt mit einem sparsamen Sound den Ton von Atticus
Lish so ins Deutsche, dass die nackten Glühbirnen des Mobiliars fast immer
passend klingen. Atticus Lish, für den Roman mit dem PEN/Faulkner Award
geehrt, erzählt in seinem Debüt sehr anschaulich, wie schwer das „Pursuit
of Happiness“, der amerikanische Traum, das Leben von verletzten Seelen
macht.
10 Mar 2016
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
New York
Migration
China
Schwerpunkt Rassismus
Kurzgeschichte
Literatur
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