| # taz.de -- Tödliche Attacke in Mannheim: Hätte, müsste, könnte | |
| > Ein Polizist stirbt, als ein Mann eine Anti-Islam-Kundgebung angreift, | |
| > später wird ein AfD-ler attackiert. Erwiderung auf acht populistische | |
| > Thesen | |
| Bild: Trauer um den 29-jährigen Polizisten aus Mannheim | |
| Vor einer Woche griff der 25-jährige Sulaiman A. eine Kundgebung des | |
| Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger auf dem Mannheimer Marktplatz | |
| an. Sechs Personen wurden verletzt, ein Polizist tödlich. Der Täter, der | |
| von einem anderen Polizisten niedergeschossen wurde, war bis | |
| Redaktionsschluss nicht vernehmungsfähig. Die Bundesanwaltschaft zog | |
| dennoch den Fall an sich und geht von einem „religiösen“ Motiv aus. | |
| Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht „klare Hinweise für ein | |
| islamistisches Motiv“. Dienstagnacht wurde ebenfalls in Mannheim der | |
| AfD-Lokalpolitiker Heinrich Koch mit einem Messer angegriffen. Hier sieht | |
| die Polizei beim Tatverdächtigen „deutliche Hinweise auf eine psychische | |
| Erkrankung“. | |
| „Der Täter hätte gestoppt werden müssen.“ | |
| Das war – nach allem, was man bisher weiß – schier unmöglich. Sulaiman A. | |
| kam 2014 als Jugendlicher nach Deutschland, sein Asylantrag wurde zunächst | |
| abgelehnt, dann bekam er einen befristeten Aufenthaltsstatus. Zuletzt lebte | |
| der 25-Jährige mit seiner Familie im hessischen Heppenheim, war gut | |
| integriert und in einem Taekwondoverein aktiv. Weder der Polizei noch dem | |
| Verfassungsschutz war er bis zur Tat aufgefallen. | |
| SPD-Innenpolitiker Sebastian Fiedler, gelernter Polizist, betont: „Ob mit | |
| oder ohne islamistisches Tatmotiv lautet die bittere Wahrheit: Brutale | |
| Gewalttaten von bislang polizeilich unbekannten Tätern, die sich im | |
| Privaten radikalisieren, bleiben die mit Abstand größte Herausforderung für | |
| die Sicherheitsbehörden.“ Das BKA entwickelte hierfür eigens sein | |
| „Radar“-System: Anhand eines Fragebogens werden Gewaltneigungen oder | |
| soziale Bindungen eines Gefährders geprüft, um schwere Straftaten zu | |
| antizipieren. Ähnlich arbeitet das Projekt Periskop der Polizei NRW. Nur: | |
| Da Sulaiman A. nicht auffällig wurde, wäre er hier nie in eine Überprüfung | |
| geraten. | |
| Offen ist, ob die Kundgebung besser hätte geschützt werden können. | |
| Stürzenberger zieht seit Jahren mit Anti-Islam-Kundgebungen durchs Land, | |
| immer wieder kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten | |
| oder der Polizei. Stürzenberger [1][verwahrte sich in der Vergangenheit | |
| aber etwa gegen schützende Gitter um seine Kundgebungen], weil er mit | |
| Bürgern in Kontakt kommen wolle. Die Polizei Mannheim ließ bisher Fragen | |
| offen, welches Schutzkonzept sie für die Kundgebung in Mannheim vorbereitet | |
| hatte. | |
| „Der Täter hätte Deutschland schon längst verlassen müssen.“ | |
| Tatsächlich wurde der Asylantrag von Sulaiman A. 2014 negativ beschieden. | |
| Er erhielt allerdings ein Abschiebeverbot. Ein solches wird verhängt, wenn | |
| eine Abschiebung die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen würde | |
| oder im Zielland konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit besteht. Zuletzt | |
| hatte A. aber auch eine befristete Aufenthaltserlaubnis, wohl weil er mit | |
| einer Deutschen verheiratet ist und mit dieser zwei Kinder hat. A. war also | |
| legal in Deutschland. | |
| „Höchste Zeit, dass wieder nach Afghanistan und Syrien abgeschoben wird.“ | |
| Ein Ende des generellen Abschiebestopps für Afghanistan hätte im Fall von | |
| Sulaiman A. nichts geändert. Auch wenn er als Gefährder eingestuft worden | |
| wäre, hätte man ihn wohl nicht zurückzwingen können, da er durch das | |
| Abschiebeverbot geschützt war. Diesen Schutz hat er weiterhin – auch nach | |
| seiner Tat und selbst dann, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), wie | |
| angekündigt, künftig wieder nach Afghanistan und Syrien abschieben lässt. | |
| Praktisch alle Geflüchteten aus Afghanistan und auch aus Syrien erhalten so | |
| ein Abschiebeverbot, sofern sie nicht ohnehin als Flüchtling anerkannt | |
| werden oder subsidiären Schutz bekommen. Ende April waren laut | |
| Ausländerzentralregister nur 13.396 Afghan*innen und 10.026 | |
| Syrer*innen ausreisepflichtig – das heißt: ohne Aufenthaltserlaubnis und | |
| auch ohne Abschiebeverbot. Nur sie sind es, die nach Scholz’ Plänen für | |
| Abschiebungen in Betracht kämen, wenn sie als Gefährder eingestuft werden, | |
| Terror verherrlichen oder Gewalttaten begehen. Zusätzlich sind viele | |
| Personen aus dieser Gruppe aber nicht abschiebefähig, etwa wegen fehlender | |
| Papiere oder Krankheiten. | |
| „Gewalttäter abzuschieben, kann doch gar nicht falsch sein.“ | |
| Werden sie abgeschoben, bevor sie ihre Strafe vollständig abgesessen haben, | |
| könnten Täter sogar profitieren. Grünen-Innenpolitikerin Lamya Kaddor | |
| fürchtet etwa, dass ein Täter unter den Taliban womöglich „gar keine Strafe | |
| mehr zu befürchten“ habe. | |
| Andererseits drohen auch Menschenrechtsverstöße. „In Afghanistan gibt es | |
| keinen funktionierenden Rechtsstaat“, sagt Theresa Bergmann von Amnesty | |
| International. Hinrichtungen und Körperstrafen wie Auspeitschungen seien an | |
| der Tagesordnung. Bergmann erkennt deshalb „klar einen Völkerrechtsbruch“ | |
| in den Plänen von Scholz. „Die Menschenrechte gelten auch für | |
| Straftäter*innen.“ | |
| Ähnlich ist die Lage in Syrien. Wiebke Judith, Rechtsexpertin bei ProAsyl, | |
| sagt: „Bashar al-Assad hat einen Terrorstaat kreiert.“ Abschiebungen | |
| dorthin dürften genauso wenig zugelassen werden wie nach Afghanistan. „Die | |
| Strafverfolgung muss mit den Mitteln des deutschen Rechtsstaats erfolgen.“ | |
| Menschenrechtler*innen fürchten zudem, dass es nicht bei der | |
| Abschiebung von Gefährdern und Straftätern bleibt. Dann könnten bald auch | |
| unschuldige Afghan*innen und Syrer*innen zurückgezwungen werden. | |
| „Ein paar Leute rauszuwerfen, kann doch nicht schwierig sein.“ | |
| Neben den menschenrechtlichen und juristischen gibt es auch praktische | |
| Hürden. Der offizielle Abschiebestopp für Syrien lief schon 2021 aus. | |
| Seitdem wurde aber trotzdem keine einzige Person dorthin gebracht – auch | |
| weil Deutschland praktisch keine Beziehungen nach Damaskus hält. Für | |
| Abschiebungen sind intensive Absprachen nötig. Ähnlich dürfte es nun im | |
| Fall Afghanistans laufen, zu dem Deutschland gar keine offiziellen Kontakte | |
| unterhält. Um das zu umgehen, will Scholz offenbar Abkommen mit Ländern wie | |
| Pakistan aushandeln, die Abzuschiebende dann nach Afghanistan bringen | |
| sollen. Ob die sich darauf einlassen werden, ist allerdings fraglich. | |
| „Die Rechten sind die eigentlichen Opfer politischer Gewalt.“ | |
| Das behauptet die AfD – und in Mannheim wurden ja nun tatsächlich ein | |
| Anti-Islam-Aktivist und ein AfD-Lokalpolitiker angegriffen. Beide Fälle | |
| sind aber sehr unterschiedlich: Beim Angriff auf den AfD-Mann sieht die | |
| Polizei bisher kein politisches Motiv, sondern eine psychische Erkrankung. | |
| 2023 gab es zudem laut BKA und vorläufigen Zahlen die meisten politischen | |
| Straftaten gegen Vertreter der Grünen (1.219), die meisten Gewalttaten aber | |
| tatsächlich gegen die AfD (86), vor den Grünen (62). Die mit Abstand | |
| meisten politischen Delikte wurden 2023 allerdings von rechts verübt: | |
| 28.945 Straftaten, davon 1.270 Gewalttaten. „Religiös motivierte“ | |
| Straftaten, worunter islamistische fallen, wurden 1.489 gezählt, davon 90 | |
| Gewalttaten. | |
| „Die Bundesregierung tut viel zu wenig gegen Islamismus.“ | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weist das von sich: Gegen | |
| islamistische Gefahren werde „massiv“ vorgegangen. Tatsächlich sind die f�… | |
| Islamismus zuständigen Abteilungen bei den Sicherheitsbehörden, trotz Fokus | |
| auf den Rechtsextremismus, weiter breit aufgestellt. 15 Anschläge wurden | |
| laut den Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren verhindert. Laut BKA | |
| im vergangenen Jahr auch 7.226 Löschersuche wegen islamistischer Inhalte an | |
| Provider gestellt, in diesem Jahr waren es bereits 7.901. Das BKA drängt | |
| aber auf eine IP-Adressspeicherung, um hier noch schneller handeln zu | |
| können – was FDP und Grüne ablehnen. | |
| Faeser verweist zudem auf das jüngste Betätigungsverbot der Hamas in | |
| Deutschland. Oder auf die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die | |
| beinhalte, dass Antisemiten und Islamisten keinen deutschen Pass bekommen | |
| sollen – und welche ohne deutschen Pass schneller abgeschoben werden | |
| können. Sie kündigte an, dass dies künftig auch für Personen, die | |
| terroristische Taten verherrlichen, gelten soll. Und Bundesfinanzminister | |
| Christian Lindner (FDP) versprach nach Mannheim, die Sicherheitsbehörden | |
| finanziell zu stärken – zuletzt wollte er indes auch hier sparen. | |
| Zudem beteuert das Bundesfamilienministerium, dass der Islamismus ein | |
| Schwerpunktthema im Bereich Prävention sei, etwa im Programm „Demokratie | |
| Leben“. Maßgeblich ist hier ein Kompetenznetzwerk, in dem 30 Initiativen | |
| versammelt sind, die Aussteigerprojekte oder Aufklärungen in Schulen | |
| betreiben. „Entscheidend ist doch zu klären, was mit Sulaiman A. in den | |
| zehn Jahren in Deutschland passiert ist“, sagt auch Claudia Dantschke vom | |
| Deradikalisierungsprojekt Grüner Vogel. Die Antwort auf Mannheim müsse | |
| sein, wie es die hiesige Gesellschaft schafft, Radikalisierungen zu | |
| verhindern. | |
| „In die Prävention wurde in der Vergangenheit durchaus einiges investiert“, | |
| sagt Dantschke. Derzeit aber sei mal wieder die weitere Förderung vieler | |
| Initiativen ungewiss. Und bis heute gebe es keinen Nachfolger für das Ende | |
| 2021 ausgelaufene Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen | |
| Extremismus. „Das ist die eigentliche Katastrophe“, sagt Dantschke. | |
| Auch der Islamwissenschaftler Michael Kiefer betont: „Deutschland | |
| unternimmt seit Jahren Beträchtliches gegen Islamismus, alle nehmen die | |
| Gefahr ernst.“ Gerade in der Prävention seien viele innovative Projekte | |
| geschaffen worden, teilweise mehr als zum Rechtsextremismus. Aber Kiefer | |
| verweist auch darauf, dass bis heute die Nachfolgegruppen der 2003 | |
| verbotenen Hizb ut-Tahrir aktiv sind, [2][wie die „Generation Islam“ oder | |
| „Muslim Interaktiv“], die zuletzt mit „Kalifat-Demos“ für Aufsehen sor… | |
| „Hier wären Verbote angebracht. Aber die Gruppen wissen, wie sie sich im | |
| Graubereich bewegen.“ CDU, Grüne und FDP fordern ein Verbot auch für das | |
| Islamische Zentrum in Hamburg. Für Kiefer wäre auch wichtig, schneller | |
| gegen Propaganda auf Social-Media-Kanälen einzugreifen. „Hier müssten aber | |
| vor allem die Plattformen mehr kooperieren.“ | |
| Die CDU wirft Faeser auch vor, 2022 die Arbeit des Expertenkreis | |
| Politischer Islamismus beendet zu haben, der eine Analyse und | |
| Handlungsempfehlungen gegen Islamismus vorlegen sollte. Dieser war | |
| allerdings von Beginn an befristet. Und Kiefer, damals Teil des elfköpfigen | |
| Gremiums, sagt, eine Verlängerung hätte auch keinen weiteren | |
| Sicherheitsgewinn gebracht. „Unsere Aufgabe war ja abgearbeitet und wir | |
| waren keine Sicherheitsexperten, sondern wissenschaftliche Berater.“ | |
| „Jetzt ist auch die EM nicht mehr sicher.“ | |
| Schon vor Mannheim hatten die Sicherheitsbehörden vor einer abstrakten | |
| islamistischen Anschlagsgefahr gewarnt, die sich seit dem wieder | |
| aufgeflammten Nahostkrieg verschärft habe. Rund 471 islamistische Gefährder | |
| zählt das BKA aktuell, 101 davon in Haft, 170 im Ausland, 200 auf freiem | |
| Fuß. Die größte Gefahr wird – neben radikalisierten Einzeltätern – dem | |
| afghanischen IS-Ableger zugerechnet, dem Anschläge auch in Europa zugetraut | |
| werden. | |
| Zuletzt schon packte die Terrorgruppe die EM auf den Titel ihres | |
| Propagandamagazins, warb für Anschläge auf das Turnier. Die | |
| Sicherheitsbehörden betonen aber, dass es bisher keine konkreten | |
| Anschlagshinweise gebe. Die Polizei wird zur EM mit Großeinsätzen im Dienst | |
| sein, es wurden Urlaubssperren verhängt. Kanzler Scholz versicherte, die | |
| Sicherheitsbehörden hätten sich sorgfältig vorbereitet – und appellierte, | |
| sich die Freude an der EM nicht nehmen zu lassen. | |
| 7 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| Frederik Eikmanns | |
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