| # taz.de -- „Tiger Girl“ auf der Berlinale: Frauen, die hauen | |
| > In „Tiger Girl“ ziehen zwei Frauen prügelnd durch Berlin. Einfach so, | |
| > weil sie es können – der Regisseur verzichtet auf jede Psychologisierung. | |
| Bild: Auf die Fresse – von Vanilla (Maria Dragus) und Tiger Girl (Ella Rumpf) | |
| Obwohl Vanilla als eine der wenigen Frauen eine Ausbildung beim | |
| Sicherheitsdienst macht, ist sie ein „Mädchen-Mädchen“: immer lieb, immer | |
| „Entschuldigung“ sagen, bloß nicht anecken. So beginnt Jakob Lass' Film | |
| „Tiger Girl“. Doch nur 60 Minuten später ist die junge Frau eine andere, | |
| eine Antiheldin. Sie sagt nicht länger „Entschuldigung“, sondern „Mir ist | |
| langweilig“ – und zertrümmert einer Fremden mit voller Wucht die Nase. | |
| Einfach so, weil sie Bock darauf hat. Von dieser Wandlung erzählt | |
| [1][„Tiger Girl“]. | |
| Gewalt durch Frauen – das ist nur selten ein Thema, auch auf der Leinwand. | |
| Abgesehen von der Samuraischwert schwingenden Uma Thurman in „Kill Bill“. | |
| Aber auch dort muss das psychologisiert werden, es muss Motive für die | |
| Gewaltorgie geben: ein Kindheitstrauma, ein mütterlicher Racheakt. | |
| Tarantino füllt seine Filme mit zig phallischen Theorien und | |
| (Fuß-)Fetischen. Letztendlich imaginiert sich der Regisseur hier wieder | |
| seine Idealfrau. Jakob Lass hat einen völlig anderen Ansatz: Nicht er, | |
| sondern seine Figuren entscheiden, wer sie sind. | |
| Vanilla ist Anfang, vielleicht Mitte 20. In einer Berliner U-Bahn-Station | |
| wird sie von betrunkenen Typen belästigt. Als einer besonders aufdringlich | |
| wird, tritt Tiger Girl auf den Plan. Eine weitere Antiheldin, mit kurzen | |
| Haaren, zerschlissener Jeans und Baseballschläger ist Tiger Girl eine | |
| irgendwie Linke, die im Wohnwagen auf einem Industriegelände lebt. Oft ist | |
| ihr langweilig, vielleicht sucht sie sich Vanilla deshalb als eine Art | |
| „Projekt“. Ab sofort ziehen die beiden durch Berliner Fußgängerzonen und | |
| Einkaufszentren. Als Rächerinnen an Gesellschaft, System, Männern, allem, | |
| tragen sie gestohlene Security-Uniformen und lernen deren Macht zu nutzen: | |
| Wenn sie nicht klauen, verteilen sie Prügel, saufen oder grölen „Fick | |
| dich!“ | |
| Wie Lass' Erfolg [2][„Love Steak“] gehört auch „Tiger Girl“ zum Mumble… | |
| jenem in den USA entstandenen Indie-Subgenre. Die teils | |
| wackelig-dokumentarische Kamera, die oft improvisierten Dialoge und das | |
| vage Drehbuch passen perfekt zu dieser ungewöhnlichen Frauenfreundschaft. | |
| Die Szenen werden dabei immer radikaler: Messer, Fäuste, Blut, | |
| zersplitterndes Glas. Dann wieder arbeitet Lass mit Überspitzungen, da | |
| werden die Bilder plötzlich bunter, knalliger, Ninja-Kicks in Berliner | |
| Galerieeröffnungen von unten gefilmt. Diese Momente dienen als | |
| Verschnaufpausen, weil sie zeigen: Alles gut, das hier ist nur ein Film – | |
| bis der Mumblecore zurückkehrt. | |
| ## Ablegen des Bravseins | |
| In „Tiger Girl“ ist nicht nur die Form unsicher. Hier spiegelt die Form den | |
| Wandel der Charaktere: Vanilla hat inzwischen ihre eigene Gang gegründet | |
| und ist von der Schule geflogen. Als sie mit einem gefesselten Polizisten | |
| im Kofferraum vorfährt, sagt selbst Tiger Girl plötzlich: „Du gehst zu | |
| weit.“ Über die Hintergründe der beiden Frauen, ihre Motivation, woher sie | |
| kommen, wer ihre Eltern sind, was ihre Geschichte ist, erfährt der | |
| Zuschauer wenig bis nichts. | |
| Lass' Film ist eine Art ständig die Richtung wechselnder Coming-of-Age, ein | |
| Film über die befreiende Entdeckung der eigenen Stärke junger Frauen, das | |
| Ablegen des anerzogenen Bravseins und das nicht Zurechtkommen (wollen) | |
| damit. Dabei spielen Körperlichkeit und Gewalt eine große Rolle. Das ist in | |
| dieser drastischen Form, zumindest für den deutschen Film, absolut neu. | |
| Spannend. Und oft kaum auszuhalten. | |
| Frauen, die im Film hauen – die Diskussion darum kommt in der | |
| Filmwissenschaft und in Medien immer wieder mal auf, in jüngster Zeit | |
| häufiger. Figuren wie Buffy, Xena, Beatrix Kiddo, Wonder Woman, Charlies | |
| Angels, Lara Croft, da fragen Filmkritiker häufig: Ist das jetzt | |
| feministisch? Kopieren die nicht nur männliche Strukturen? Darf Gewalt im | |
| Film heroisiert werden, nur weil es eine Heldin ist? Inwiefern kommt da die | |
| Realität zum Tragen? Häusliche Gewalt etwa geht immer häufiger auch von | |
| Frauen aus. Ein weites Feld, das bei männlichen Actionhelden meist | |
| wegfällt. | |
| Das könnte man nun alles auch für „Tiger Girl“ durchanalysieren. Studien | |
| über Gewaltfilme besagen schließlich, dass die Gewalt für den Zuschauer | |
| aushaltbarer werde, wenn sie motiviert sei, einen tieferen Sinn ergebe. | |
| Aber Lass, Tiger Girl und Vanilla wollen nicht psychologisiert werden. Sie | |
| stellen den Zuschauer vielmehr auf die Probe – grölen auch ihm entgegen: | |
| Das ist Fiktion! Das ist Mumblecore! Entscheide selbst, wie du uns findest! | |
| Oder lass es. Anarchie! Bang! Aus. | |
| 10 Feb 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=xzZwziX9u30 | |
| [2] /!5045617/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christine Stöckel | |
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