# taz.de -- Theaterstück in Braunschweig: Empörungspanorama | |
> Wütende Kommentarspalten im Internet dienten Caren Jeß als Inspiration | |
> für „Eleos“. Zu sehen ist das Stück am Staatstheater Braunschweig. | |
Bild: In „Eleos“ entströmt Gold den Kehlen der nervlich Überforderten | |
Ach, dieser Rotz und der faulige Missmutgeschmack im Mund, der | |
Aggressionsschaum davor, diese Angstwutklößchen und bitteren | |
Enttäuschungskrümel im Hals, der Beschimpfungsschorf auf den Lippen, | |
Stresseiterbeulen und Jähzornbrei im Magen. | |
All das und noch viel mehr muss raus aus dem grummelnden Körper zur | |
Entspannung der Befindlichkeit. Denn wer keinen sozial kompatiblen Ausdruck | |
fürs innere Poltern, Nagen und Beben findet, der ist gefährdet, | |
selbstzerstörerische Verhaltensweisen wie Sucht- und Essstörungen oder | |
Depressionen zu entwickeln. Sagen Ärzte. | |
Und das denkt wohl auch die [1][gebürtige Eckernförderin Caren Jeß]. | |
Dramatisiert sie doch mit artifiziellen Sketchen in stilistisch stets neuer | |
Spielart die dem Alltag abgeschauten Artikulationsmuster und | |
Verhaltensweisen von Menschen in Rage. Aber die Autorin lässt das eben | |
nicht erscheinen wie Psychodreck, Charaktermangel, vierte Todsünde, sondern | |
so, als würde Gold den Kehlen der nervlich Überforderten entströmen. | |
Natürlich nicht inhaltlich, aber formal gülden glitzern lässt sie den | |
leisen Grimm zwischendurch wie auch den großen destruktiven Furor. | |
Sprachspielerisch und -musikalisch sowie mit feinem Humor komponiert Jeß | |
die Momente heftiger Emotionen und betitelt das Kompendium „Eleos. Eeine | |
Empörung in 39 Miniaturen“. Am Staatstheater Braunschweig feiern die | |
Empörungsmonologe, -dialoge und -chöre ihre deutsche Erstaufführung. | |
## Empörung als Bindemittel populistischer Gruppierungen | |
Die Exaltationen starten mit genervt gestöhnten „or“, weil jemand den | |
letzten Kaffee ausgetrunken hat oder ein Kind nicht lernt, auf Französisch | |
bis 3 zu zählen. | |
Auf der anderen Seite der Empörungsskala klingt etwa die große Schimpfsuada | |
gegen Bauarbeiter so: „Mit all ihren scheißmeganervtötenden Geräten / | |
sollen sie alle / zur Hölle / fahren / sich bohren / sich da | |
reinpresslufthammern / in den Abgrund des ewigen Feuers / da sollen sie / | |
alle das / alles das / Magma / exen!“ Zugespielte Musik erzeugt | |
angstflirrende Atmosphäre. | |
Natürlich will die Autorin den Jammer, wofür Aristoteles einst den Begriff | |
Eleos benutzte, nicht nur rauslassen. Ist Empörung doch beispielsweise auch | |
Bindemittel von populistischen Gruppierungen. Gerade weil sie Menschen so | |
machtvoll in Aufruhr bringt, kann sie Aufregung in Verbitterung, | |
Ausgrenzung in Hass und die Kraft, gesellschaftliche Veränderungen in Gang | |
zu setzen, in Fanatismus umschlagen lassen. | |
Da diese negativen Effekte der Affekte bekannt sind, setzt Jeß nicht auf | |
die Moralkeule, sondern deutet die Empörungsinhalte jeweils nur an. Auch | |
das spielfreudige Darstellerquintett zeigt nie die Fratze der | |
Aufgebrachtheit, also den mit errötender Haut, zitternder Stimme, | |
beschleunigtem Atem, geblähten Nasenflügeln, stechendem Blick in den | |
Flucht-/Angriffsmodus wechselnden Menschen, sondern spielt leiser, feiner, | |
um Hinhören und Losdenken zu ermöglichen, damit sich Einsichten in unsere | |
Schwachstellen vermitteln. | |
## „Feministische Frauen sind doof!“ | |
Etwa bei Teenies. Aufgereiht wie Hennen auf einer Stange ätzen sie gegen | |
die Feinde ihres Wahns, „Star“ oder „Prinzessin“ sein zu wollen: | |
„Feministische Frauen sind doof! Sie sind solche Spielverderber! Sie sehen | |
hässlich aus! Und ihre Sternchen sollen sie sich in den Poschi drücken.“ | |
In der Bühneninstallation, einem aus dreieckigen Holzgittern gezimmerten | |
Kletterhügel, erklingt bald „Es reicht mir“, das aber nicht als | |
Fremdschämen dem pubertären Gegacker gilt, sondern mit der Wendung „Es | |
reicht nicht“ dem hinzutretenden Lebenspartner zugeignet wird. | |
Beziehungskrise ist nun zu spielen und der Frust ungelebten Liebeslebens | |
mit filmmusikalischem Pathos zu konterkarieren. Später beschimpfen | |
Zirkusartisten wie erstarrte Beckett-Figuren wahllos Passanten – das ist | |
ihre Art, mit den Enttäuschungen eines entbehrungsreichen | |
Außenseiterdaseins und den Anklagen wegen angeblicher Tierquälerei | |
umzugehen. | |
Mitleidiges Lächeln provoziert hingegen ein Paar, das Emojis sowie | |
Chatfloskeln hin und her schickt und dabei ein Liebeslied trällert – | |
unfähig, sich über Gefühle auszutauschen. Eindrucksvoll zudem, wenn das | |
Ensemble brav auf der Stelle marschiert, Befehle skandiert, aber auch | |
politisch anmerkt, „was wir links liegen lassen, taucht rechts wieder auf“. | |
## Discogetue und sexuelles Miteinander | |
So kommen alle vorschriftsmäßig marschkritisch aus dem Sprech- und | |
Bewegungstakt, den ein Techno-Beat wieder aufnimmt. Sofort fallen die | |
Darstellenden in Discogetue und konstatieren entsetzt, wie kompliziert | |
sexuelles Miteinander anzubahnen und auszugestalten ist. | |
Auch strukturiert im „klock / klock“-Rhythmus eines Tennismatchs ist | |
Empörung zu erleben, indem zwei Spielerinnen für jeden Schlag reichlich | |
Wutkraft evozierende Erinnerungen aus dem Gedächtnis kramen. Ganz leise | |
erklingt Traurigkeit, wenn Kühe wie Menschen ihr Leben besingen: „Wir käuen | |
/ wir k käu / k k käu / wir k käuen / k k käu / k k / käu / wir käuen | |
wider“. | |
Aber das Empörungspanorama unserer erregten Gesellschaft wirkt final | |
ratlos. Vielleicht weil die Proben von Corona arg beeinträchtigt wurden. | |
Regisseur Nils Zapfe findet für einige Miniaturen der herrlich disparaten | |
Partitur sinnfällige, für andere schlichte Umsetzungen, für wiederum andere | |
hat er keine Ideen oder streicht einfach Text. Alle Veränderungen in Spiel- | |
und Sprechhaltung sowie Kostümierung bleiben äußerlich – und folgenlos. | |
Nie findet der Abend inszenatorisch in einen amalgamierenden Flow für das | |
wortakrobatische Szenen-Puzzle, alles bleibt Stückwerk und die Empörung vor | |
allem Anlass für spaßige Entinnerlichung eines grundsätzlichen Unbehagens. | |
Chronisch ironisch statt ansatzweise kathartisch. | |
4 Apr 2022 | |
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[1] /Portraet-der-Dramatikerin-Caren-Jess/!5744016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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