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# taz.de -- Oper „Dog Days“ in Braunschweig: Begehren ist ein Schlachtfeld
> Nach einer Katastrophe hockt eine Familie isoliert aufeinander, ein
> anziehender Fremder kommt hinzu – wie könnte das gut ausgehen?
Bild: Immer droht den Figuren die Einsamkeit
Braunschweig taz | Das eigene Verhalten schützend eingehegt ins Regelwerk
zivilisatorischen Miteinanders, das ist für russische
Kriegsverbrecher:innen und ihre weltweit agierenden Kolleg:innen
ein Tabu, für die meisten Menschen aber der moralisch wohlige Grund einer
soliden Identitätskonstruktion. Wer diese Basis verlässt, verliert daher
auch sich selbst.
Wie es dazu kommen kann, zeigt die Kurzgeschichte „Dog Days“ der
US-amerikanischen Autorin Judith Budnitz. Den Entgrenzungsfuror der Frage,
wer wir sein könnten, [1][versucht Komponist David T. Little – zum Libretto
von Royce Vavrek] – mit seiner Opernfassung hörbar zu machen.
So was kann kein gemütlicher, erbaulicher Abend werden – aber ein
faszinierendes Statement zeitgenössischen Musiktheaters gelingt Regisseur
Balázs Kovalik mit [2][„Dog Days“ am Staatstheater Braunschweig]. Höchst
erfreulich auch, dass der herausfordernde Stoff trotz vorhersehbar geringem
Publikumsinteresse nicht für eine kleine Spielstätte heruntergerechnet
wurde, sondern opulent im Opernhaus gefeiert wird.
Eine zweistöckige Wohnung ist dort als verschachtelter Rohbau in
Beton-Anmutung von der Bühne quer über den Orchestergraben gebaut. Darin
haust eine von Armut zerfressene US-Familie mit ihrem Lieblingsfetisch, dem
Auto, und pflegt eine derbe, gern mal mit „Fuck!“ garnierte Kommunikation.
Begegnungen finden allerdings nur noch beim täglichen Ritual statt, „fahle
Krümel“ zu verspeisen. Gemeint sind damit Unmengen von Möhren aus Dosen,
die aus Care-Paketen stammen, die ein Hubschrauber abwirft. Bleibt er aus,
gibt es lediglich Löwenzahn aus dem Garten.
Die fünf Familienmitglieder kämpfen ums Überleben, warum, wird nicht
eindeutig geklärt. In der endzeitlich aufgeladenen Geschichte ist von einem
Krieg die Rede, der immer näher komme, auch von Nachbarn, die weggezogen
oder gestorben seien, von geflüchteten Tieren. Deswegen hocken die
Familienmitglieder ohne Außenkontakt aufeinander, isoliert voneinander.
Die Stimmung ist sehr gereizt. Alle vibrieren in ihren angelernten
Rollenmustern. Todessehnsüchtig versinkt die Mutter (mit stoisch
strahlendem Sopran: Ivi Karnezi) in der Haushälterinfunktion. Die Söhne,
Pat (Matthew Peña) und Elliot (Fritz Steinbacher) kiffen gegen Depression
und Zukunftslosigkeit an. Vater Howard (Michael Mrosek) will in baritonaler
Fulminanz weiterhin den rastlosen Patriarchen geben, donnert auch mit
jämmerlichem Stolz und strenger Wut autoritär herum, ist aber entmutigt,
weil er als Ernährer versagt.
Schließlich sind nirgendwo mehr Tiere zum Erschießen oder sonstige
Lebensmittel zu finden. „Seine Augen – zwei verlorene Flecken“, so
beschreibt Tochter Lisa den Vater und erzählt, dass er nachts leise weint.
Tagsüber versteckt Howard seinen Frust hinter trotzigem Lächeln, flüchtet
sich ins Autopolieren. Sägende Streicherklänge vermitteln, dass die Grenzen
seiner Persönlichkeit zum Bersten wund sind.
Im Fokus aber steht, eben, Lisa, von Veronika Schäfer mit kraftvollem,
verzweifelt lebensbejahendem Sopran gestaltet. Chat-Nachrichten an längst
verstorbene Freundinnen schickt sie und träumt präpubertär von einem sie
erlösenden Prinzen, der in Gestalt eines „abstoßenden und süßen“ Hundes
auftaucht: Tatsächlich ist’s ein Obdachloser, der wie ein Hund um Nahrung
bettelt; Steffen Recks in der lauernd stummen Rolle kreatürlicher Not.
„Prince“ nennt Lisa ihren neuen Spielkameraden, ist zudem angezogen von der
erotischen Virilität seines durchtrainierten Körpers.
So ergeht es auch der völlig erschlafften Mutter: Vom Hundemann lässt sie
sich ins Bett tragen, ersehnt deutlich mehr und muss resigniert ihr Leben
rekapitulieren: 20 Jahre lang etwas aufgebaut zu haben, „was der Krieg in
Tagen, Minuten, Sekunden kaputtmacht“.
Krieg herrscht, akustisch, von Anfang an: Aus den Lautsprechern tönt ein
harter, klarer, elektrisch verstärkter und immer mal wieder geräuschhaft
verzerrter, dunkel ins Chaos drängender Horrorfilm-Soundtrack. Vehemente
Perkussion treibt die kammermusikalischen Vernetzungen des neunköpfigen
Orchesters an, besetzt mit Streichern, Klarinette, Klavier, Synthesizer,
Schlagwerk, E-Gitarre und Kontrabass. Das chronische Gefühl drohenden
Schreckens vermittelt sich mit morbider Intensität, was auch mal in
herrlichem Lärm kulminiert (Musikalische Leitung: Alexis Agrafiotis).
Hochdramatische Power auf Dauer.
Für seinen frisch klingenden Eklektizismus nutzt Komponist Little
klangfantasievoll die Möglichkeiten neuer und klassischer Musik, von Opern
und Broadway-Musicals, gönnt den Sänger:innen anmutige Melodiosität und
serviert all das mit der Dynamik des Heavy Metal. Schließlich betont er in
Interviews, mit Napalm Death aufgewachsen zu sein und in Rockbands
getrommelt zu haben.
Die Figuren kämpfen vergeblich um Zusammenhalt. Chorisches Singen gelingt
ihnen bald nicht mehr. Überall dräut Einsamkeit. Besonders eindringlich,
als Lisa vorm Spiegel steht und ihre dem Nahrungsmangel geschuldete
Model-Dürre zur Erfüllung eines Idealkörpertraums glorifiziert – ach, diese
„Wangenknochen, die wie Felsbrocken aus einem weißen Sandstrand ragen“. Die
Mutter wäscht den geschundenen Körper des Hundemannes wie einen Leichnam
und gleitet still in den Tod.
Zermürbt von den Entbehrungen, delirieren die Mannsbilder vor sich hin,
zunehmend in Zeitlupe zu ebenso gedehnter Musik. Bis die Jungs als
Nachwuchskräfte und Howard als Protagonist der Macho-Männlichkeit ihr
Machtbedürfnis bestialisch gegen den Hundemann ausleben, dabei ihre
menschliche Würde und damit sich selbst verlierend. Ein nervenaufreibend
packendes Finale mit anschwellendem Brummen, Jaulen, Dröhnen und
metaphysischem Orgeln. Der Entsetzensblick des zu Tode geschundenen Hundes
verabschiedet als gigantische Videoprojektion die Zuschauer:innen.
Die langsam und sehr leise zu Applaudieren beginnen, mitgenommen von der
Botschaft: Kommt es hart auf hart, kann der Mensch vertieren. Keine neue
Erkenntnis, aber traurig aktuell.
24 Mar 2023
## LINKS
[1] https://davidtlittle.com/work/dog-days/
[2] https://staatstheater-braunschweig.de/produktion/dog-days-1160/
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Oper
Staatstheater Braunschweig
Katastrophe
Fremde
Familie
Heavy Metal
Performance
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