Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Oper über Todesstrafe: Ein Mörder als Ersatz-Jesus
> Eingängig und eindringlich, ohne in den Kitsch abzugleiten: Jack Heggies
> Oper „Dead Man Walking“ in Braunschweig.
Bild: Famose Sängerin: Isabel Stüber Malagamba als Schwester Helen Prejean
Zwischen digitalisiertem Arbeitsalltag und sozial isoliertem
Haushaltsalltag wirkt derzeit ein Opernabend als klassisches Kraftwerk der
Gefühle noch besser als vor Corona. Ab und an werden dabei sogar
gesellschaftlich relevante Themen verhandelt. Das Staatstheater
Braunschweig setzt dafür gern auf zeitgenössische Werke US-amerikanischer
Komponisten, weil ihnen Hollywood-Erzählweisen und der Broadway näher sind
als postpostdramatische Diskurse und Donaueschingen mit seinem Festival der
Neuen Musik.
Auf Jake Heggie trifft das ideal zu. [1][In seinem 2000 uraufgeführten
Opern-Debüt „Dead Man Walking“] kompiliert er ohne stilistischen Eigensinn
längst durchgesetzte Ausdrucksmittel der Musikgeschichte für eine Handlung,
die sich mit der Todesstrafe beschäftigt. Und mit der Dialektik von Schuld,
zu der sich bekannt und für die Verantwortung übernommen werden muss, damit
Reue und Vergebung möglich werden.
Terrence McNally verfasste das Libretto [2][nach dem gleichnamigen Buch der
St.-Josephs-Ordensschwester Helen Prejean], [3][das bereits in Tim Robbins
Verfilmung (1995) für Furore gesorgt hat]. Die Nonne begleitete zum Tode
Verurteilte an ihren letzten Tagen vor der Hinrichtung. Aus den Erfahrungen
fiktionalisierte sie den Roman mit sich als Protagonistin.
Die Oper beginnt mit der Untat. Während im Orchestergraben das Leitmotiv
des Abends ausformuliert wird, attackieren White-Trash-Kids ein junges
Liebespaar in einer 3-D-Wald-Fototapete. Ein wenig steif, nach Art des
geschmackvoll distanzierten Realismus, so sind Vergewaltigung und
Doppelmord inszeniert. Das ist natürlich etwas geschmacklos, denn die
schier grenzenlose Brutalität müsste auch auf optischer und akustischer
Ebene eine künstlerisch wirksame Entsprechung finden.
Anschließend aber kommt [4][Regisseurin Florentine Klepper] zu einer
klaren, die psychische Überforderung aller Figuren unvoreingenommen
fokussierenden Erzählweise. Und sie kann dabei auf ein famoses
Sängerensemble zählen, das auch darstellerisch beeindruckt.
Die Nonne (Isabel Stüber Malagamba) im Freizeitkleid singt erst mal einen
Gospel, um zu zeigen, wie sicher sie sich in ihrer vorschriftsmäßigen Liebe
zu Jesus fühlt. „Mörder sind auch Gottes Kinder“, mit dem Statement wird
das Thema des Abends vorbereitet. Als Prejean dann den als Brieffreund
kennengelernten Täter des Prologs, Joseph de Rocher, im Gefängnis erstmals
besuchen und das als spirituelle Reise zur Festigung ihres Glaubens feiern
will, schmilzt sie vor Angst, wie sie singt. Und trifft auf einen mit den
Knien schlotternden, fahrig rauchenden und großmäulig mackernden Typen. Im
Wortsinne Todesangst schwitzt er aus und schämt sich, seiner Familie mit
der Exekution weiteres Leid zuzufügen.
In der durchaus würdevollen Darstellung durch Michael Mrosek wird er für
Prejean immer mehr zum Ersatz-Jesus. Da dem zum Tode verurteilten Mann am
Kreuz nicht mehr zu helfen ist, wird eben de Rocher bekümmert. Er nutzt die
Zuneigung und kitzelt Liebestriebe mit Rock-’n’-Roller-Zitaten, spricht von
Erregung und Sex, während das Orchester erotisch flirrende Klänge
spendiert.
Prejean nimmt das kokett entgegen, bleibt aber selbstbewusst keck und
humorvoll. Währenddessen reißen um sie herum die Gefangenen des
Todestraktes ihr Maul mit Sexismen auf, treiben Sport oder schleichen im
stilisierten Gitternetzbühnenbild herum, das Delinquenten und Besucher
trennt.
Vor der letzten Berufungsgerichtsverhandlung trifft Prejean auf die tief
verletzten, daher unversöhnlichen Eltern der Opfer. Emotional
nachvollziehbar aus ihrer Perspektive ist das unbarmherzige Ja zur
Todesstrafe. Gerade dieser Mörder, „dieses Monster“, das sich selbst als
„really bad“ bezeichnet, habe es doch wohl nicht verdient zu leben.
Dem widerspricht nun ebenso verständlich die Mutter des Täters, die in
ihrem Kokon aus Armut und Verzweiflung rückhaltlos ihre Hilflosigkeit
heraussingt, wie ihr der geliebte Sohn in Gang-kriminelle Gesellschaft
entglitt, seine Schuld sei groß. Aber rechtfertigt das staatlichen Mord?
Und muss darüber 2022 in Deutschland diskutiert werden?
## Ein umstrittenes Thema
In knapp der Hälfte aller Staaten weltweit ist die Todesstrafe noch Teil
des Strafrechts, in Deutschland-West allerdings 1949, in Deutschland-Ost
1987 abgeschafft worden. Widerspruchsfrei? Laut einer 1949 veröffentlichten
Umfrage des Allensbach-Instituts befürworteten damals 74 Prozent der
westdeutschen Bevölkerung die Todesstrafe, 2001 waren es noch 46 Prozent
laut einer Forsa-Umfrage, [5][2018 sollte ein Formulierungsrelikt pro
Hinrichtung aus der Verfassung des Bundeslandes Hessen gestrichen werden]
und 16,8 Prozent votierten bei einer Volksabstimmung dagegen. Auch wenn
Hessen nicht Niedersachsen ist: Von überwältigendem Konsens kann bei dem
Thema keine Rede sein, es daher auf die Bühne zu heben, ist also richtig
und wichtig.
Nur der katholisch bigotte Duktus stört in Braunschweig. Im Angesicht des
Todes lässt der Mörder von seinen Unschuldsbeteuerungen ab, gesteht die
Tat, bittet um Vergebung und mit Sister Prejean an seiner Seite könnte man
die Todesspritzen-Zeremonie nun als christlichen Büßergang verstehen, der
von den Sünden reinigt.
Zum Glück gibt die Inszenierung nicht nur dieser Sichtweise Recht, sondern
stellt auch moralisch klar: So eiskalt de Rocher gemordet hat, so eiskalt
reagiert nun der Staat, aber mit einer humanistischen Gesellschaft ist das
nicht zu vereinbaren. Das wird in Braunschweig dank der Suggestivkraft von
Jake Heggies Filmmusikrhetorik mit einem vollen Pfund Rührung serviert.
Eingängig und eindringlich zu sein, ohne in den Kitsch abzugleiten – eine
Gratwanderung, die der Produktion bestens gelingt.
5 Feb 2022
## LINKS
[1] https://jakeheggie.com/dead-man-walking-2000/
[2] https://www.sisterhelen.org/
[3] /Die-Qual-liegt-im-Warten/!1474800/
[4] https://www.florentineklepper.de/
[5] /Abstimmung-zur-Landesverfassung/!5547681
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Staatstheater Braunschweig
Todesstrafe
Oper
Oper
Staatsoper Berlin
Musiktheater
Japan
DDR
## ARTIKEL ZUM THEMA
Oper „Dog Days“ in Braunschweig: Begehren ist ein Schlachtfeld
Nach einer Katastrophe hockt eine Familie isoliert aufeinander, ein
anziehender Fremder kommt hinzu – wie könnte das gut ausgehen?
Sir Simon Rattle dirigiert Leoš Janáček: Nur live unsterblich
Die Oper „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček überzeugt an der
Staatsoper Berlin durch die Musik, auch wenn die Inszenierung etwas lahmt.
Oper eines im KZ ermordeten Komponisten: Der Zorn der Geächteten
Der Komponist Eugen Engel wurde im KZ ermordet. Seine expressive Oper
„Grete Minde“ war lange unbekannt. In Magdeburg wurde sie jetzt
uraufgeührt.
Todesstrafe in Industriestaaten: Wieder Exekutionen in Japan
Drei verurteilte Mörder sind hingerichtet worden. Doch es regt sich
Widerstand gegen Japans besonders grausame Umsetzung der Todesstrafe.
Spielfilm über letztes DDR-Todesurteil: Der Mann, der in die Kälte ging
Ein Unrecht sogar nach damaligen Maßstäben: In „Nahschuss“ erzählt
Franziska Stünkel die Geschichte des letzten in der DDR Hingerichteten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.