# taz.de -- Spielfilm über letztes DDR-Todesurteil: Der Mann, der in die Kält… | |
> Ein Unrecht sogar nach damaligen Maßstäben: In „Nahschuss“ erzählt | |
> Franziska Stünkel die Geschichte des letzten in der DDR Hingerichteten. | |
Bild: Präziser Blick: Regisseurin Franziska Stünkel im Gespräch mit Hauptdar… | |
BREMEN taz | Eine „humane Hinrichtung“ ist ein Widerspruch in sich, aber in | |
der DDR gab es tatsächlich eine Weise, ein Todesurteil zu vollstrecken, | |
die das Leiden der Verurteilten so weit wie möglich verringern sollte: | |
Statt wachsender Todesangst vor einem langen, festgesetzten Termin, statt | |
der öffentlichen Inszenierung – letztes Mahl, „Dead Man Walking“ – erh… | |
der Verurteilte zu einem für ihn überraschenden Zeitpunkt einen | |
Genickschuss. Nach eben diesem „Nahschuss“ hat Regisseurin [1][Franziska | |
Stünkel] („Vineta“) ihren Spielfilm benannt, der am heutigen Donnerstag | |
[2][in die Kinos kommt]. | |
Bei der Hinrichtung, um die es darin geht, ist das Wann sehr viel | |
schockierender als das Wie: 1981 wurde in der DDR [3][zum letzten Mal] ein | |
Mensch zum Tode verurteilt und hingerichtet. Werner Teske war Mitarbeiter | |
der Stasi und nicht etwa zum Klassenfeind übergelaufen, der 39-Jährige | |
Ökonom hatte das lediglich geplant. Selbst nach dem damaligen Recht der DDR | |
war das Urteil Unrecht, und 1998 wurden ein Militärrichter und ein | |
Militärstaatsanwalt wegen Totschlags und Rechtsbeugung zu je vier Jahren | |
Haft verurteilt. | |
Aber davon erzählt Stünkel schon gar nicht mehr: Sie konzentriert sich ganz | |
auf das Opfer. Franz Walter heißt der Mann im Film. Teskes Fall lieferte | |
zwar die Inspiration, es ging aber nicht darum, die reale Geschichte zu | |
inszenieren. Schünkel interessiert, wie ein Mensch eine derart extreme | |
Situation erlebt – und wie er sich vom Täter zum Opfer entwickelt. Denn | |
auch der fiktive Franz Walter ist Mitarbeiter des Ministeriums für | |
Staatssicherheit und hat sich schuldig gemacht. | |
Dafür bleiben [4][die Regisseurin – selbst renommierte Fotografin] – und | |
ihr Kameramann Nikolai von Graevenitz immer ganz nah am Protagonisten. Den | |
spielt [5][Lars Eidinger] so intensiv und komplex, dass in einigen Momenten | |
sein Gesicht alles Wesentliche erzählt. Gleich in der ersten Einstellung | |
des Films sehen wir ihn allein hinter Gittern. Nicht das Wo oder Warum wird | |
gezeigt, sondern nur diese Kreatur, die langsam in Panik gerät. | |
## Im Visier der Stasi | |
Und gleich darauf, nach einem Zeitsprung, ist er als junger glücklicher | |
Mann zu sehen: Er macht der Frau, die er liebt, einen Heiratsantrag; er | |
rechnet damit, nach einem einjährigen Studienaufenthalt im kenianischen | |
Nairobi als Akademiker Karriere zu machen. Da hat die Stasi ihn schon im | |
Visier: Die Rekrutierungsagenten machen ihm ein Angebot, das er nicht | |
ablehnen kann. | |
Sein offener Blick, seine ein wenig naive Begeisterung, seine Überzeugung, | |
dem sozialistischen Staat dienen zu wollen: All das spielt Eidinger mit der | |
gleichen spontan wirkenden Lebendigkeit wie dann seine erste Irritation, | |
als er die Anweisung erhält, Menschen zu täuschen, ihr Privatleben zu | |
zerstören. Denn Walter wird auf einen Fußballer angesetzt, der in den | |
Westen geflohen ist, dort für den HSV spielt und es „gewagt hat, durch | |
seine Torschüsse den Jubel des Klassenfeindes“ zu wecken – so formuliert es | |
ein Stasi-Offizier in der Einsatzbesprechung. Ein Beispiel dafür, wie genau | |
Stünkel, die auch das Drehbuch geschrieben hat, den damaligen Ton trifft. | |
Auf einer Reise nach Hamburg genießt Walter alle Privilegien eines | |
ostdeutschen Agentenlebens. Aber er hat auch wachsende Bedenken und leidet | |
zunehmend darunter, dass er von seinen Eltern und Jugendfreunden immer mehr | |
isoliert ist, die er ja belügen muss. Und dass er auch kein sonderlich | |
guter Agent ist, zeigt sich, als er seine Flucht in den Westen zu planen | |
beginnt – und seine Kollegen ihm schon nach den ersten Schritten auf die | |
Spur kommen und ihn verhaften. | |
Von einer oder zwei kurzen Einstellungen abgesehen bleibt die Kamera | |
ständig bei dem Protagonisten, und so hat das Publikum immer dessen | |
Informationsstand: Ist seine Ehefrau (Luise Heyer) auch bei der Stasi und | |
bespitzelt sie ihn? Oder ist das eine gezielte Lüge, die ihn mürbe machen | |
soll? Ist der Prozess nur eine Farce? Der reale Teske wurde auf einen | |
direkten Befehl des Stasi-Ministers Erich Mielke hin verurteilt. Arbeitet | |
also auch Walters Verteidiger eigentlich gegen ihn? All das kann Walter | |
nicht wissen, und so wissen wir es auch nicht. | |
## Gründlich gearbeitet | |
Franziska Stünkel wurde 1973 in Göttingen geboren und studierte an den | |
Kunsthochschulen in Kassel und Hannover. Sieben Jahre dauerte nun die | |
Arbeit an „Nahschuss“, und es ist dem Film anzumerken, wie gründlich | |
[6][die Filmemacherin] dabei vorgegangen sein muss: Da scheint jedes Wort | |
und jedes Detail zu stimmen. Stünkel bemühte sich auch, möglichst an | |
Originalschauplätzen zu drehen, in Hamburg etwa auf der Reeperbahn, am | |
Elbstrand, im Tierpark Hagenbeck und im Hauptbahnhof. | |
Eben da kann man bei genauem Hinsehen dann doch eine kleine Ungenauigkeit | |
mitbekommen: Die Kamera ist zwar wie üblich nur auf Eidingers Gesicht | |
scharf gestellt, aber im Hintergrund ist diffus eine digitale Anzeigetafel | |
zu sehen, wie es sie in den frühen 1980er-Jahren noch gar nicht gab. Bei | |
dem sonst so präzisen Blick überrascht dieser kleine Fehler – andererseits | |
hat Stünkel auch keinen historischen Ausstattungsfilm vorgelegt, sondern | |
eine intime Charakterstudie mit realem Hintergrund. | |
12 Aug 2021 | |
## LINKS | |
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[2] https://www.nahschuss-derfilm.de/ | |
[3] /!5426887/ | |
[4] https://www.franziskastuenkel.de/ | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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