| # taz.de -- Theaterfestival Schall & Rausch: Oper als Workout | |
| > Deutsche Ekstase, David Bowie, Schönheitsdiktate: Neues Musiktheater | |
| > kommt beim Festival „Schall & Rausch“ auf Bühnen in Neukölln zur | |
| > Aufführung. | |
| Bild: Die PerformerInnen von Club Gewalt spüren in „Yuri“ dem Druck des Ho… | |
| Unerbittlich zählt die elektronische Uhr die Sekunden rückwärts. Genau 39 | |
| Minuten und 24 Sekunden müssen die niederländischen PerformerInnen von Club | |
| Gewalt das Publikum unterhalten. Bei 36 noch nicht vertanzten Sekunden | |
| setzt die Musik aus. Wie aufgezogenes Blechspielzeug drehen sich alle zur | |
| Uhr und erstarren, bis auf dem Display die rettende Null erscheint. Ein | |
| letzter Kommentar zur Vita des niederländischen Ringturn-Weltmeisters Yuri | |
| van Gelder, der sich dem Druck des Hochleistungssports und der ihn | |
| rezipierenden Öffentlichkeit bedingungslos unterworfen hat. | |
| Fast 40 Minuten sind die PerformerInnen im aggressiven | |
| Gymnastik-Gleichschritt unterwegs, begleitet von elektronischen Beats. In | |
| die Mikrofone sprechsingt man Textpassagen, die Interviews mit van Gelder | |
| nachempfunden sind. Körpersprache, gesungenes Wort und Klangteppich | |
| verweben sich zu einem nachdenklichen Kommentar. Club Gewalt hat für „Yuri“ | |
| eine neue Musiktheater-Schublade erfunden: die Workout-Oper. | |
| Ein Genre, das die [1][Komische Oper] seinem Publikum vorstellen will. Das | |
| strömt aufs Areal der ehemaligen Kindl-Brauerei, um sich bei der zweiten | |
| Ausgabe von „Schall & Rausch“, dem Festival für brandneues Musiktheater, | |
| aus seinen Gewohnheiten reißen zu lassen. | |
| Mit dem Publikum zieht auch das Orchester der Komischen Oper nach Neukölln. | |
| Im Vollgutlager gibt man bis zur Pause die 6. Sinfonie von Anton Bruckner. | |
| Dann gehen die MusikerInnen in den Saal und mischen sich unters Publikum. | |
| Eine Violinistin schlingt eine Breze runter und stellt sich dabei brav in | |
| der Schlange vor den Toiletten an. | |
| ## Verneigung vor David Bowie | |
| James Gaffigan, der neue Generalmusikdirektor, lässt Bruckner mit David | |
| Bowie zusammentreffen. Der Komponist Ian Anderson hat das Album „Heroes“ | |
| für Orchester arrangiert. Vom Sitzsack aus hat man die Schlaginstrumente | |
| gut im Blick: Fünf Musiker sind extrem sportlich damit beschäftigt, | |
| verschiedenste Gerätschaften zum Schwingen zu bringen. Streichinstrumente | |
| haben eine wichtige Klangteppichfunktion. Blasinstrumente dürfen | |
| ausscheren. David Bowie grüßt von Ferne. Denn diese Uraufführung steht für | |
| sich. | |
| Ihre Qualität liegt vor allem in der besonderen Rhythmik, die äußerst | |
| sensibel mit Be- und Entschleunigung arbeitet. Das geht einher mit einer | |
| extrem aufmerksamen Nuancierung der Lautstärke. So entsteht ein | |
| symphonisches Klangbild, das voller Überraschungen ist und gleichzeitig | |
| eine beeindruckende Tiefe erreicht, und so an Bruckner andockt und sich | |
| gleichzeitig vor Bowie verneigt. | |
| Vom Vollgutlager zum SchwuZ sind es drei Schritte. „Schall & Rausch“ lockt | |
| in die „Kathedrale“, den großen Saal mit riesiger Diskokugel. Dort gibt es | |
| ein Wiedersehen mit einigen PerformerInnen von Club Gewalt. Hier nennen sie | |
| sich „Herr Hamsterfleisch“ und geben das Punk-Musical „Die Hexe“. Loulou | |
| Hameleers hält als Frontfrau den Kontakt mit dem Publikum. | |
| Sie arbeitet sich mit wütendem Witz und feministischem Empowerment an | |
| Themen wie Schönheitsdiktat ab. Der Konsens-Song ist Entlarvung per se. | |
| Hameleers haucht „ja“ ins Mikrofon, wiederholt das ewig, während Amir | |
| Vahidi immer stärker auf sein Schlagzeug eintrommelt. Höhepunkt ist der | |
| sinnliche Vulva-Act mit der Erkenntnis, das Menstruationsblut das einzige | |
| Blut ist, das ohne Gewalteinwirkung fließt. | |
| ## Besiege den Faschismus in dir selbst | |
| Der Performer Daniel Cremer beschäftigt sich in „Like a prayer“ mit dem | |
| deutschen Schlager und der „deutschen Ekstase“. Er zitiert Joy Fleming: | |
| „Ein Lied kann eine Brücke sein.“ Mit einer klugen, unprätentiösen | |
| Dramaturgie umkreist und verbindet er beide Pole, macht Nebenschauplätze | |
| auf und wieder zu. | |
| Was Cremer aus dem Efef beherrscht, ist der Flirt mit dem Publikum. | |
| Wildfremde Menschen halten sich an den Händen, tanzen zusammen und singen | |
| dann mit Cremer Schlager-Karaoke. Wie Moses durch das Meer bahnt er sich | |
| einen Weg durch die Menschenmenge im Saal und wird bejubelt. Und übergibt | |
| das freigeschaufelte Territorium Freiwilligen aus dem Publikum, die sich | |
| jetzt den Jubel abholen. | |
| Cremer ist absolut menschenfreundlich, darum ist seine zentrale Botschaft: | |
| Besiege den Faschismus in dir selbst. Im SchwuZ wird auch das „Surprise! | |
| Suprise!“-Konzert stattfinden. Wenn es einen gemeinsamen Nenner für alle | |
| Produktionen bei „Schall & Rausch“ gibt, dann sind es die | |
| Überraschungsmomente. Im SchwuZ wartet ein Plüschsessel auf müde Beine. | |
| Neben mir sitzen Leute, die schmettern aus vollem Hals: „I will survive!“ | |
| Ist Karaoke. | |
| 13 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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