Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Theaterfestival in Augsburg: Boxen mit Brecht
> Das kommende Brechtfestival in Augsburg zeigt, wie zeitgemäßes Theater
> geht: ohne Theater, mit Menschen – und ihren aktuellen Konflikten.
Bild: Parade zur Eröffnung des Brechtfestivals 2023
Augsburg taz | Die Straßenbahn vom Augsburger Bahnhof in den Stadtteil
Oberhausen führt am imposanten Staatstheater vorbei. Ein riesiges
Transparent hängt an ihm dran, als wäre es besetzt: „Was für ein Theater“
steht drauf.
Auch an den Zäunen, die das seit 2016 wegen Sanierung geschlossene Gebäude
umstellen, kleben Plakate. Sie sehen aus, als wären sie von Aktivisten auf
dem Dachboden der Uni gemalt.
Doch das Transparent und die Plakate sind eine Reaktion der Stadt auf die
seit Jahren nicht nachlassende Kritik an der 340 Millionen Euro teuren,
noch Jahre dauernden Sanierung.
Ohne Bürgerbeteiligung und ohne offenen kulturpolitischen Diskurs setze die
Stadt ein viel zu teures Konzept um, hieß es von Anfang an aus der Kunst-
und Kulturszene Augsburgs.
Ganz in der Nähe des geschlossenen Theaters startet am 23. Februar [1][das
Brechtfestival]. Statt eine der offiziellen Ausweichspielstätten hat sich
Festivalleiter Julian Warner ein leer stehendes Möbelhaus im Stadtteil
Oberhausen als Zentrum für das zum zweiten Mal von ihm kuratierte
[2][Festival] ausgesucht.
## Jeder kann mitmachen
In dem mehrstöckigen, großflächigen und durch ein breites Treppenhaus
verbundenen Bau, der im 19. Jahrhundert als Spinnerei entstand, hat der
1985 geborene Künstler, Musiker und Wissenschaftler Julian Warner gemeinsam
mit seinem Team „Brechts Kraftclub“ eingerichtet.
An den Wänden hängen noch alte Plakate des Möbelhauses. Wo bis vor Kurzem
noch Boxspringbetten verkauft wurden, wird nun für zehn Tage ein Boxring
aufgebaut sein und Dutzende andere Möglichkeiten, seinen Körper zu
trainieren, darunter ein Feld für Rollerskating, Tischtennis, Yoga,
Kraftsport, Fingerbillard … Jeder, der möchte, kann sich anmelden und
mitmachen.
Das Brechtfestival 2024, ein Fitnessstudio? Weil, was früher mal die
Dauerkarte fürs Theater war, heute die Mitgliedschaft in einem
Fitnessstudio ist?
Ja und nein. Das Motto, das Warner dem Festival dieses Jahr gegeben hat,
lautet: No future. In Brechts Kraftklub soll „gegen die drohende
Zukunftslosigkeit“ trainiert werden. Brechts Kraftclub soll ein „Ort für
Leibesübungen und Diskussion, für Muskelaufbau und Kontroverse“ sein.
Neben den Sportangeboten werden unter dem Dach des verlassenen Möbelhauses
Performances, Filminstallationen, Clubnächte, Gespräche, eine
Live-Radio-Show und „Social-Dreaming“-Workshops statt. Anders als dem
Staatstheater lässt sich Warner weder mangelnde Bürgerbeteiligung noch ein
hermetisches Konzept vorwerfen.
Warner versteht Theater nicht als Inszenierung theoretischer oder schwer
verständlicher Stoffe auf Bühnen, sondern als alles, was das Leben ist.
Während er sich im letzten Jahr auf den größten Stadtteil Lechhausen im
Westen konzentrierte, ist es dieses Jahr Oberhausen im Nordwesten, stark
divers geprägt, unter anderem durch türkische, arabische, russische
Herkünfte und seit einiger Zeit ein kommendes Künstler- und
Lifestyleszeneviertel mit der sich anschließenden Gentrifizierung.
Warners Konzept: andere motivieren, mitzumachen. Den inhaltlichen
Schwerpunkt lässt er sich teilweise von den Bewohnern, den religiösen,
zivilgesellschaftlichen, politischen und kulturellen Akteuren des Viertels
diktieren. Mit all denen sucht er vorab das Gespräch und versucht ein
Angebot zu entwerfen, das Leute anzieht, die sonst nicht in den Theatersaal
oder zu Diskussionsrunden gehen.
In Oberhausen, erzählt der in München lebende Warner in seiner Werkstatt in
der Innenstadt, hätten ihm viele der jungen Anwohner gesagt, dass Sport ein
wichtiger Mittelpunkt ihres Lebens sei. Das habe für ihn zu Bertolt Brechts
Bild vom Leben als lange Serie von Boxkämpfen gepasst.
## Theater mit echten Fäusten
Bereits im vergangenen Jahr hatte Warner Sport ins Brechtfestival
integriert. Unter dem Titel „Kampf um Augsburg“ wurden die Konflikte der
Stadt mit echten Fäusten ausgetragen: Professionelle Wrestler
repräsentierten die verschiedenen Augsburger Akteure – Klimaaktivisten,
Gentrifizierungsgegner, Migrationsvereine –, zuvor hatten sie auf einer
normalen Podiumsveranstaltung miteinander diskutiert.
Die Eröffnung des Festivals an diesem Samstag wird ein Turnfest sein. Auf
dem ehemaligen Parkplatz des Möbelhauses werden Augsburger Sportvereine
und -gruppen in einer Choreografie sich „gegen den Lauf der Geschichte“
aufbäumen – darunter die Assyrischen Pfadfinder und der Augsburger
Pferdesportverein. Dazu wird die Philosophin [3][Eva von Redecker] eine
„Rede an die Menschheit ohne Zukunft“ halten und werden Vertreter
religiöser Gemeinden Grußworte sprechen.
Das Augsburger Kulturamt ist begeistert von Julian Warners Konzept, den
Bewohnern der Stadt mit offenen Armen zu begegnen, sie direkt anzusprechen
und einzubeziehen. Auch das Kulturamt stellte sich voll hinter seinen
Künstler, als der Mitte Januar von der SPD Augsburg [4][unter
Antisemitismusverdacht gestellt] wurde.
Per Pressemitteilung hatten der Fraktionsvorsitzende und seine
Stellvertreterin den Künstler aufgefordert, sich „von der BDS-Kampagne zu
distanzieren“, und eine „Klarstellung“ gefordert, warum er 2020 einen
offenen Brief gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags
unterzeichnet habe.
Festivalleitung, Kulturreferat und Kulturamt kritisierten die SPD für
„Hetze und Meinungsmache, die wir für unseriös, unverantwortlich und
brandgefährlich halten“, Warner bekannte seine Solidarität mit „Jüdinnen
und Juden, hier, in Israel und weltweit, die täglich mit Antisemitismus
konfrontiert sind und durch den verbrecherischen Angriff der Hamas um Leib
und Leben fürchten“.
Er distanzierte sich auch von seiner Unterschrift. Nach der Documenta 15
und dem 7. Oktober sei ihm klar geworden, dass die „Initiative
Weltoffenheit“ zu einer Normalisierung von israelbezogenem Antisemitismus
beigetragen hätte.
Die SPD gibt auf Nachfrage der taz an, dass der Fall Warner mit dessen
Erklärungen für sie erledigt gewesen sei, da er aufrichtig habe klären
können, die Werte der Friedensstadt Augsburg zu vertreten.
Die Initiative, die Warner mit seiner Unterschrift unterstützt hatte, hatte
sich allerdings sowieso schon explizit gegen den Boykott Israels durch den
BDS ausgesprochen. Ihr Anliegen war es, vor einer „missbräuchlichen
Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“ zu warnen, die der
Bundestagsbeschluss auslösen könnte.
## Unterschied von politischer Kunst und Politik
Dass die SPD den Leiter des Brechtfestivals trotzdem dem Verdacht des
Antisemitismus ausgesetzt hatte, in dem sie vom „Fall um das
Brechtfestival“ sprach, der zeige, „dass Antisemitismus ein Problem der
gesamten Gesellschaft ist“, erklärt der SPD-Fraktionsvorsitzende Freund der
taz damit, dass die Stimmung nach dem 7. Oktober 2023 Klarheit gefordert
habe.
Dem Leiter des Brechtfestivals ist damit das widerfahren, wovor er vor
drei Jahren gewarnt hat. „Als öffentliche Figur muss ich für Klarheit
sorgen, auch gegenüber den Leuten, die mit mir zusammenarbeiten“, erzählt
er. „Ich habe im Lauf der Auseinandersetzung viel über den Unterschied von
politischer Kunst und Politik gelernt.“
Sein Ansatz ist ein ganz anderer als der der SPD. „Was wäre die
Kunstinstitution der Zukunft?“ ist für Warner die Leitfrage, mit der er an
das diesjährige Brechtfestival herangeht.
„Für mich wäre es eine Institution, die sich erst angeschaut hat, was wird
eigentlich gemacht in der Stadt, und die dann überlegt, wie kann ich das
integrieren, wie kann ich einen Raum dafür schaffen“, erläutert er.
Seinen kuratorischen Ansatz, einen vorsichtigen, tastenden, interessierten
und offenen, hält er auch für teilweise biografisch bedingt. Aufgewachsen
als Kind von Angehörigen der britischen Armee, beide people of colour, in
Nordrhein-Westfalen, hält er es nicht für selbstverständlich, im Zentrum zu
stehen.
Er erzählt, dass er schon mehrmals in seinem Leben die Ansicht darüber
geändert hat, wer er ist, was ihn ausmacht, was er denkt und wie andere ihn
sehen. Dass Rassismus beispielsweise auch Komponenten von Klasse hat, wurde
ihm bewusst, als er am Görlitzer Park in Berlin zufällig in eine Razzia
gegen Drogenhändler geriet, bei dem die Polizei einfach an ihm vorbeilief,
obwohl er dachte, sie würde ihn jetzt auseinandernehmen.
Die Gleichzeitigkeit von lokalem und überregionalem, von verschiedenen
Lebenserfahrungen, von der Notwendigkeit, einander zuzuhören und die
verschiedenen Realitäten und Realitätswahrnehmungen ernst zu nehmen,
spiegelt sich auch in seinem Festival 2024.
Von der klassischen Brecht-Inszenierung („Mutter Courage“) bis zu einem
Istanbuler Theaterstück mit den Gedichten des seit 30 Jahren ohne
Gerichtsurteil in der Türkei inhaftierten İlhan Sami Çomak, von der
russischen Theaterregisseurin Anastasia Patlay bis zur Alphorngruppe
Waltenhofen. Doch die großen Konflikte der Welt sind auf dem Brechtfestival
weniger präsent als die Konflikte des Alltags.
Gerade in Zeiten der Unsicherheiten, scheint der Ansatz, die Konflikte, die
im Oberhausener Alltag weiter eine Rolle spielen, zu beleuchten,
vielversprechender als jedes hastig zusammengestellte Panel zu den
Großlagen dieser Welt.
22 Feb 2024
## LINKS
[1] https://brechtfestival.de/
[2] /Theaterfestival-Schall--Rausch/!5988804
[3] /Eva-von-Redeckers-Buch-Bleibefreiheit/!vn5976974
[4] https://spd-fraktion-augsburg.de/brechtfestival-spd-fraktion-fordert-aufkla…
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Theaterfestival
Bertolt Brecht
Demokratie
Theater
Theaterfestival
Schwerpunkt Iran
Schwerpunkt AfD
## ARTIKEL ZUM THEMA
Internationales Theaterfestival: Tanz der Widersprüche
Das Festival FIND an der Schaubühne in Berlin begann mit Stücken aus
Portugal und Italien. FabrikbesetzerInnen und Servicekräfte waren mit
dabei.
Theaterfestival Schall & Rausch: Oper als Workout
Deutsche Ekstase, David Bowie, Schönheitsdiktate: Neues Musiktheater kommt
beim Festival „Schall & Rausch“ auf Bühnen in Neukölln zur Aufführung.
In Iran inhaftierter Schwede: Tödliches Theater in Teheran
Der Iran will mit dem inhaftierten Schweden Johan Floderus wohl einen
Kriegsverbrecher frei pressen. Europas Politik folgt seinem Skript.
Podiumsgespräch gegen Rechtsruck: Rechte Übergriffe aufs Theater
Was tun gegen das Erstarken der Rechten, das auch Kunst und Kultur
gefährdet? Eine Podiumsdebatte in Berlin hat nach Antworten gesucht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.