# taz.de -- Theater über den Ukraine-Krieg: Liebe ist auch nur ein Schlachtfeld | |
> Ein Höhepunkt der Theatersaison: Mit Natalia Vorozhbyts Drama „Zerstörte | |
> Straßen“ führt Niklas Ritter in Göttingen mitten in den Ukraine-Krieg. | |
Bild: Jenny Weichert, Marco Matthes und Daniel Mühe begegnen sich in zerstört… | |
GÖTTINGEN taz | Aufmerksamkeit ist sofort gesichert. Weil gar nicht erst | |
versucht wird, das Publikum mit politisch korrekten An-, Aus- und Absagen | |
zu umgarnen. Vielmehr ist zu sehen, dass Moral und Poesie weiblich | |
emanzipierter Selbstbestimmung nicht mit der Realität zusammenpassen. | |
Zumindest wenn es sich um die ukrainische Kriegsrealität handelt, in der ad | |
acta gelegte Geschlechterbilder eine Renaissance erleben. Damit startet die | |
Kiewer Autorin Natalia Vorozhbyt [1][eine verstörende Szenencollage], die | |
unter dem Titel „Zerstörte Straßen“ am DT Göttingen zu erleben ist. | |
Natascha (Jenny Weichert) tritt mit einem Monolog vors Publikum. Die | |
feministisch gebildete Journalistin erzählt von ihren Recherchen zum Kampf | |
russischer Separatisten im Donbass – aber auch, dass sie einem interviewten | |
Soldaten sofort gefallen will. Ihr Ex sei ein „feinfühliger | |
Klassikliebhaber“ gewesen, daheim in Kiew warte ein „junger Veganer“ auf | |
sie. Jetzt erotisieren sie die Uniform, das maskuline Gehabe und die groben | |
Hände des kraftstrotzend drahtigen Sergej, der das Wesen des Krieges, das | |
Töten, zum Beruf gemacht hat. | |
Als er beschreibt, wie Menschen von Drahtminen zerrissen wurden, schaut | |
Natascha nur auf seine Lippen und denkt an Sex. Ohne zu zögern nimmt sie | |
Sergejs Einladung zu einem Roadtrip nach Mariupol an. | |
Durch elende, kaputte, vollends triste Landstriche geht die Reise, in | |
schäbigen Herbergen wird übernachtet. Natascha: „Ich liege auf glühenden | |
Kohlen aus dem einen Grund. Ich will dich … Du liegst auf dem Nachbarbett, | |
ein mit Waffen bedecktes Tier, und schnarchst.“ Was ist es nochmal, das | |
diesen Mann attraktiv macht? Er wolle „die Integrität und Unabhängigkeit“ | |
der Ukraine wahren, sagt Natascha: „Unsere Frauen sind im letzten Jahr | |
verrückt nach Militärs … Jetzt bin auch ich verrückt geworden.“ | |
Von der Liebe in Zeiten des Krieges berichtet das Stück, „vom ersten Kuss | |
vor dem Hintergrund der Gefechte“, wie Natascha mit rasendem Herzen | |
artikuliert und sich direkt ans Publikum wendet: „Das ist alles zu maßlos | |
schön. Ich spüre richtig, wie ihr mich alle beneidet und zugleich vor mir | |
ausspuckt.“ Aber es kommt wie es in entmenschlichten Zeiten kommen muss. | |
Als Sergej mit der Kampfausrüstung auch seinen brutalen Alltag abzulegen | |
versucht, ist vor allem der Verlust seiner Männlichkeit festzustellen: „Da | |
hast du keinen hochgekriegt. Nicht mal ansatzweise.“ | |
Letztlich bestand die Affäre der beiden nur aus Projektionen, vielen Worten | |
und einem scheuen Knutscher – im vergeblichen Bemühen, dabei etwas zu | |
fühlen. Darum geht es der Autorin, die physischen Verwundungen und | |
psychischen Verwüstungen sowie die Zerstörungen von Glauben und Werten | |
angesichts der Gewalterfahrungen wie auch Todesängste im täglichen | |
Überlebenskampf schonungslos aufzuzeigen – mit den Folgen fürs soziale | |
Miteinander. | |
Zudem macht Natalia Vorozhbyt deutlich, dass Putins Schergen mit dem | |
massenmörderischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht | |
urplötzlich für eine Zäsur der europäischen Geschichte gesorgt haben, | |
sondern dass die russische Aggression spätestens seit 2014 im Osten des | |
Landes getobt und zur Annexion der Krim sowie des Donbass geführt hatte. | |
Dort arbeitete die Autorin damals als Dokumentartheatermacherin, sammelte | |
Stimmen, schrieb Erlebnisse auf, dramatisierte sie und überließ dieses | |
„Zerstörte Straßen“-Material 2017 dem [2][Royal Court Theatre London zur | |
Uraufführung]. Die Verfilmung des Stoffes übernahm Vorozhbyt selbst – es | |
wurde der ukrainische Beitrag für den Oscar als bester ausländischer Film | |
2022. Dass die dezent miteinander verwobenen Szenen nun in Göttingen von | |
Niklas Ritter höchst nachdrücklich inszeniert wurden, ist einer der | |
Höhepunkte der aktuellen Theatersaison im Norden. | |
Auf der dunklen Drehbühne steht als Zeichen irreparabler Schäden eine | |
schwarze Skelett-Skulptur, deren ineinander gebogene Stangen | |
auseinandergesprengt sind. Sie rotieren unaufhaltsam. Aus diesem | |
kreiselnden Stillstand der Unruhe treten die Figuren heraus. Etwa ein | |
Schulleiter, der von machtberauschter ukrainischer Soldateska an einem | |
Checkpoint drangsaliert wird, weil sie ihn für einen russischen Killer | |
halten und alle Bürgerrechte absprechen. Während der Schikanen entdeckt er | |
bei den Militärs eine seiner Schülerinnen, die sich wie einige Freundinnen | |
für Geschenke prostituieren. | |
In einer weiteren Episode transportiert die Geliebte eines Kommandanten | |
dessen geköpften Leichnam heim zur Gattin. Schließlich verschleppt ein | |
russischer Soldat eine ukrainische Frau, beleidigt, erniedrigt, foltert | |
sie, uriniert auf ihren Körper und tönt stolz, wie ihre Ohnmacht ihn geil | |
mache. | |
Dabei verfällt dieser komplett kriegstraumatisierte Psychopath in homophobe | |
und antisemitische Tiraden, bis er sich an seine bürgerliche Vergangenheit | |
als braver Linguistik-Student erinnert – und in einem hilflosen Moment der | |
Zuneigung vom Missbrauchsopfer erschlagen wird. | |
In einem Epilog verkündet [3][Natalia Vorozhbyt], die zehn Jahre in Moskau | |
gelebt, dort studiert, Theater und Fernsehen gemacht hat, dass sie viel | |
lieber Literatur über einen normalen Alltag verfassen würde, den aber gebe | |
es in der Ukraine nicht mehr. | |
Die literarischen Auseinandersetzungen mit der grausamen Wirklichkeit rette | |
niemanden, aber nur dazu erhalte sie Schreibaufträge, die zumindest etwas | |
von dem Schmerz ablenken, mit der Barbarei des Krieges alles verloren zu | |
haben, was gut war. | |
Liebe ist in „Zerstörte Straßen“ daher auch keine Friedensmetapher, sonde… | |
ein beispielhaftes Schlachtfeld. Das durchweg beeindruckende | |
Darsteller:innen-Quintett entwirft darauf beklemmend präzise | |
Charakterskizzen einiger von zivilisatorischem Firnis mehr oder weniger | |
entblätterter Menschen, mit denen kein demokratischer Staat mehr zu machen | |
sein wird. Eine nachvollziehbar düstere Prophezeiung für die | |
Nachkriegssituation in der Ukraine und in Russland. | |
15 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ukrainisches-Theaterstueck-auf-Tour/!5859715 | |
[2] https://www.theguardian.com/stage/2022/mar/25/royal-court-theatre-to-presen… | |
[3] https://dreimaskenverlag.de/news/interview-natalia-vorozhbyt | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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