# taz.de -- Theater in Brasilien: Der Papagei, der im Kochtopf landet | |
> Das Theater in Brasilien ist politisch wach. Zwei Regisseure arbeiten mit | |
> Wolfram Lotz’ Drama „Die lächerliche Finsternis“. | |
Bild: „Fora“ sagt der Papagei, gespielt von Mann mit Federboa, bei Alexandr… | |
„Fora Temer“, „Hau ab, Temer“, steht auf Parkbänken und an Häuserwän… | |
Porto Alegre gesprüht. Zuschauer rufen es in Theatervorstellungen hinein, | |
sie schreiben es auf eine lange Papierrolle, die der Darsteller Dinho Lima | |
Flor nach seinem Stück „Ledores do Breu“ (Vorleser in der Dunkelheit) | |
ausrollt. | |
In der Hauptstadt Brasília setzt Präsident Michel Temer, der vor einem Jahr | |
die Sozialistin Dilma Rousseff mit fadenscheinigen Gründen aus dem Amt | |
putschte, das Militär gegen Demonstranten ein, ist aber selbst tief in | |
Korruptionsskandale verstrickt. Eine seiner ersten Aktionen bei | |
Amtsantritt: Er wollte das Kulturministerium abschaffen, was unter | |
Protesten verhindert wurde. Nun scheint seine eigene Absetzung nur noch | |
eine Frage der Zeit, denn selbst das populistische Globo-TV, größtes | |
brasilianisches Medienimperium, hat sich von ihm abgewandt. | |
„Fora“, sagt der „Papagei“, ein Schauspieler mit roter Federboa, in „… | |
lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Ende einer Rede, in der er in | |
der Inszenierung von Alexandre Dill reißerische Globo-TV-Nachrichten | |
nachplappert, „Temer“, grollt es aus dem Publikum zurück. „Die lächerli… | |
Finsternis“ von Wolfram Lotz ist eine Überschreibung von Joseph Conrads | |
Kolonialisierungsgräuel-Weltroman „Herz der Finsternis“, aber auch eine | |
Abrechnung mit dem deutschen Afghanistan-Kriegseinsatz und Klischees, die | |
Deutsche von fernen Krisengebieten haben. Zugleich scheint der Text auch | |
eine Reise in die innere Wildnis des neokolonialen, europäischen | |
Ausbeuters. | |
## Verheerungen der Globalisierung | |
Was macht dieser deutsche Theatertext mit Porto Alegre, der so europäisch | |
wirkenden Hauptstadt von Brasilien südlichstem Bundesland Rio Grande do | |
Sul, die dieser Tage von sintflutartigem Regen heimgesucht wurde? Gleich | |
zweimal wurde das Stück beim Festival „Palco Giratório“ („Drehbühne“) | |
inszeniert, das sich in zwölf Jahren zu einer der wichtigsten nationalen | |
Vernetzungsplattformen entwickelt hat. | |
„Es ist vor allem ein Stück über die Verheerungen der Globalisierung, die | |
in Brasilien wohl so offen zutage treten, wie kaum irgendwo anders“, | |
erzählt Dill im „Gasometer“, seinem Probenraum: eine wunderschöne, | |
ehemalige Fabrik direkt an der Süßwasserlagune. In wenigen Tagen wird sie | |
zur Renovierung geschlossen, überall stehen rote Eimer, um das durch die | |
Decke tropfende Regenwasser aufzufangen – Wiedereröffnung ungewiss. Auch | |
hier an den Wänden überall Tags: Fora Temer. | |
Alexandre Dill gehört zu den jungen Regietalenten des Landes. Er war 2016 | |
beim Internationalen Forum des Theatertreffens in Berlin zu Gast und hat | |
auch schon Heiner Müllers „Medeamaterial“ oder Schimmelpfennigs „Arabisc… | |
Nacht“ inszeniert. Seine Truppe „Grupojogo“ hat rund 15 Mitglieder und | |
besteht seit zehn Jahren, sie halten sich mit Crowdfunding oder Geldern von | |
Unternehmen, die so Steuern sparen können, über Wasser: rund 1.600 Real | |
(ca. 400 Euro) erhalten sie monatlich. | |
Initiiert und finanziert (mit jeweils 3.500 Euro) hat die | |
Doppelinszenierung das Goethe-Institut Porto Alegre, das auch ein wichtiger | |
Spielort des Festivals ist. Dass zwei Regisseure dasselbe Stück | |
inszenieren, ist in ganz Brasilien laut Goethe-Instituts-Leiterin Marina | |
Ludemann noch nie vorgekommen. | |
Dill verlegt den verfremdeten Dschungel-Hindukusch aus „Die lächerliche | |
Finsternis“ in einen jener Standardcontainer, der auch vor der „Usina di | |
Gasometro“ aufgebaut ist – das Symbol für Globalisierung schlechthin, das | |
auch Flucht und Seepiraterie assoziiert. Heraus springt der somalische | |
Pirat Ultimo Pussi, bei Dill allerdings ein Weißer und mit gefälschtem | |
Adidas-Anzug als einer jener Straßenhändler zu erkennen, die auch auf Porto | |
Alegres Straßen allgegenwärtig sind – und alles tun, um dabei auszusehen | |
wie markenorientierte Mittelstand-Kids. Sein Eingangsmonolog ist anrührend | |
und eindringlich, die Band an der Seite imitiert Schiffstuten und | |
Möwengeschrei – bis er herrisch von Hauptfeldwebel Pellner verdrängt wird, | |
der im Stück den durchgeknallten Deutinger aufspüren soll. | |
Bei Dill trägt Pellner Hitler-Frisur und Schnurrbart über nackter | |
Kolonisatoren-Brust und er verweist deutlich auf den Faschisten Jair | |
Bolsonaro, der offen gegen Schwarze und Homosexuelle hetzt und durchaus | |
Chancen hätte, der nächste brasilianische Präsident zu werden. | |
## Allein ausgehen? Besser nicht | |
„Wir tragen die Auswirkungen der Kolonialisierung in einer einzigen | |
Gesellschaft aus, kaum irgendwo sind die Unterschiede zwischen Arm und | |
Reich so groß wie hier“, sagt Dill. Das ist auch sichtbar in Porto Alegre: | |
Auch, wenn das Bundesland „Rio del Grande Sur“ zu den wohlhabendsten | |
Regionen zählt, liegen die Obdachlosen in langen Reihen unter durchnässten | |
Pappkarton-Konstruktionen auf den Straßen der Stadt. Abends allein ausgehen | |
kann man auch nicht. Vor ein paar Tagen sprangen wieder ein paar Bewaffnete | |
aus dem Auto und wollten Theaterbesucherinnen vor dem Goethe-Institut | |
überfallen, die auf ein Taxi warteten. | |
Lotz’ Stück liest sich in Dills Interpretation wie eine Analyse der inneren | |
Ursachen von Armut in einem Land, in dem korrupte Milliardäre an der Macht | |
taub sind für die alltäglichen Nöte der Bevölkerung – und zeigt, wie | |
flexibel es sich exportieren lässt. | |
Der preisgekrönte, rund zwanzig Jahre ältere Regisseur Camilo de Lélis ist | |
es anders angegangen. Auch er hat eine Vorliebe für deutsche Stücke, hat | |
schon Tankred Dorst, Achternbusch und Schimmelpfennig inszeniert. Den Titel | |
hat er in „Im Schatten des Herzens“ verwandelt, zu Füßen der Zuschauer | |
wurde ein Fluss aus Plastikmüll arrangiert, der somalische Pirat Ultimo | |
wird von der schwarzen Schauspielerin Denizeli Cardoso zwischen Ölfässern | |
gespielt, die mit warmer, voller Stimme zwischendurch auch mal die | |
Afrika-Klischeehymne „The lion sleeps tonight“ anstimmt. | |
## Debatte um die Darstellung | |
Das führt beim Publikumsgespräch ein paar Tage später zu einer | |
leidenschaftlichen Debatte. Darf man das, den „armen Somalier“ von einer | |
Schwarzen spielen lassen? Wird da nicht eine Zuschreibung von schwarz = arm | |
bestätigt, die Wolfram Lotz in seinem Text bewusst hinterfragt? In | |
Deutschland ist es noch nie mit einem Schwarzen besetzt worden. | |
Vieles ist in de Lélis’ Inszenierung überdeutlich, was dem mit | |
ironisch-subtilen Querverweisen gesättigten Stück nicht gerade guttut. Denn | |
einerseits kritisiert das Stück Ausbeutung – und andererseits karikiert es | |
auch das Schwarz-Weiß-Denken darüber, die schlichten | |
Opfer-Täter-Zuschreibungen zwischen Europa und „Entwicklungsländern“. Dem | |
notgeilen Pastor etwa, dem Pellner und sein Adjutant Dorsch auf der Reise | |
begegnen, setzt de Lélis schwarze, züngelnde Prostituierte vor, zum Teil | |
als Frauen verkleidete Männer – als sei die Anspielung auf Sextourismus | |
nicht auch im Text schon grell genug | |
Zum Schluss sitzt als Deutinger ein alter weißer Mann auf einem | |
Dschungelthron, der zugleich ein WC ist. Seine Beschreibung einer Reise in | |
den eigenen Anus, die in Lotz’ Text eine Erkundung des eigenen europäischen | |
Schuldbewusstseins ist, wird so zugleich in die Lächerlichkeit entsorgt. | |
## Der Fleischkonsum | |
Surreale Einfälle machen aber auch de Lélis’ Inszenierung spannend: Der | |
Papagei, zugleich das Nationaltier Brasiliens, ist eine Vogel-Attrappe, die | |
alsbald im Kochtopf landet, Dorsch und Pellner essen immerzu. „Ich will | |
Bilder von Brasiliens Kolonisatorenschicht schaffen, die zeigen, wie sie | |
sich selbst kannibalisiert“, erzählt Camilo de Lélis ein paar Tage später … | |
und spielt darauf an, dass Brasilien den zweithöchsten Fleischkonsum der | |
Welt hat und bekannt dafür ist, die eigene Umwelt zugrunde zu richten. | |
Wie dringlich zurzeit politische Verhältnisse in der brasilianischen | |
Theaterszene verhandelt werden, zeigt sich auch an den anderen | |
Festivaltagen. Im verstörenden wortlosen Stück „Bilder von allen“ der | |
Gruppe „Pigmalião Escultura que Mexe“ aus Belo Horizonte stellt eine | |
Puppen-Schweinefamilie Schnappschüsse voller Missbrauch und Gewalt nach. | |
In der urbanen Intervention „Engel in Ruinen“ klagt die Gruppe A Outra | |
Companhia de Teatro aus Bahia lautstark an, was es bedeutet, den | |
öffentlichen Raum nachts nicht mehr betreten zu können. Ein paar Meter | |
weiter sitzen die Crack-Süchtigen unter der Brücke. | |
Die Autorin reiste auf Einladung des Goethe-Instituts Porto Alegre. | |
15 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Marcus | |
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