| # taz.de -- Neues Buch von Wolfram Lotz: Wippen, wippen, wippen | |
| > Bloß keinen Sinn produzieren: Wolfram Lotz probiert in seinem Textklotz | |
| > „Heilige Schrift 1“ Maßnahmen zur Erneuerung des Schreibens. | |
| Bild: Beschwörung zielloser Bewegungen: „Heilige Schrift I“ in den Münchn… | |
| Aber vor Sprache soll man nicht auf den Boden fallen / die soll doch | |
| wimmeln und quietschen wie ein Meerschwein // oder knistern wie eine Distel | |
| in der Mikrowelle“, notiert [1][Wolfram Lotz] im September 2017 in sein – | |
| ja was, Tagebuch? Am-Leben-entlang-Notierprojekt? Seine Datei für | |
| schreiberisches Dehn- und Lockerungstraining? | |
| Der Buchtitel „Heilige Schrift I“ stuft das 900-Seiten-Opus zwischen | |
| Größenwahn und Selbstironie ein, Kniefall also nicht ausgeschlossen. Aber | |
| dann federn und klingen Wörter und Verse wie: „Hose an // Hose Anna / Hallo | |
| Julia // Als ich ein Kind war, sangen sie in der Kirche jedenfalls Hallo | |
| Julia, über Jahre, so hörte ich das und so war es da.“ | |
| Bisher ist Wolfram Lotz, geboren 1981 in Hamburg, aufgewachsen in Bad | |
| Rippoldsau im Schwarzwald, Studium in Konstanz und am Literaturinstitut | |
| Leipzig, nicht unbedingt als Vielschreiber in Erscheinung getreten. | |
| ## Bekannt durch das Theater | |
| Bekannt gemacht haben ihn neben Manifesten und Vorträgen seine sich und das | |
| Theater mitreflektierenden Bühnenstücke, „Der große Marsch“ und „Einige | |
| Nachrichten an das All“ (2011), „Die lächerliche Finsternis“ (2014) sowie | |
| zuletzt der lyrische Sprechtext „Die Politiker“ (2019), den Cordelia Wege | |
| am Deutschen Theater Berlin 2020 als rhythmisch-dadaistischen | |
| Satyrkommentar zu Sebastian Hartmanns „Lear“-Inszenierung geradezu | |
| irritierend perfekt an die Rampe ratterte. | |
| Sogar die frisch erschienene „Heilige Schrift I“, eigentlich gar nicht für | |
| die Bühne gedacht, wird bereits in der Regie von Falk Richter an den | |
| Münchner Kammerspielen performt. Und doch beruht Lotz’ Ruhm vielleicht auf | |
| noch mehr als seinen Stücken, kommen sein Stottern (wie Schleef), Nerdiness | |
| und die gekonnte Verschmelzung von Kunst und Leben dazu. | |
| Schon 2019 machte das Gerücht die Runde, dass Lotz ein „Totaltagebuch“ von | |
| gut 3.000 Seiten nicht nur geschrieben, sondern auch schon wieder gelöscht | |
| habe: Was für eine Geste der Verausgabung und Verschwendung! Umso größer | |
| die Überraschung, dass anscheinend das zuvor an einen Freund gemailte erste | |
| Drittel (und womöglich mehr – römisch I verspricht mindestens römisch II) | |
| des Projekts überlebt hat. | |
| Ältere Menschen denken sofort an Rainald Goetz’ Online-Tagebuch „Abfall f�… | |
| alle“ aus der Frühgeschichte des Internets, diesen Sturzbach euphorischen | |
| Mitnotierens im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends. Aber Lotz | |
| schlägt einen anderen Ton an, beginnt mit einem auf der vorangestellten | |
| Seite sehr schlicht und einsam wirkenden „und also ging ich umher“: | |
| Beschwörung einer ziellosen Bewegung, mal hierhin, mal dorthin, womöglich | |
| im Kreis; das Gehen selbst als Zweck und Folge von etwas Ungenanntem. | |
| ## Keine Punkte zwischen den Sätzen | |
| Oder schwingt da schon wieder ein biblischer Rest à la „Und ob ich schon | |
| wandelte“ mit? Lotz setzt zwar alle möglichen Satzzeichen, macht aber | |
| niemals einen Punkt, hält seine Verse visuell maximal offen, meist | |
| voneinander getrennt durch zwei Leerzeilen und einen Gedankenstrich. Das | |
| lädt Gewicht auf einzelne Wortfolgen – schießt aber auch so viel Luft und | |
| Licht dazwischen, dass man Lotz’ Sinnen leicht hinterherhüpfen kann. | |
| 2017 zieht Familie Lotz in ein Dorf im Elsass, weil Partnerin N an einer | |
| nahegelegenen französischen Schule arbeitet. Wolfram Lotz lässt sie, „damit | |
| es da keine Beeinträchtigung gibt“, vorbildlich aus dem Spiel, anders als | |
| die Söhne O und E („die stört das ja nicht“), welche die Grund- und | |
| Vorschule besuchen. | |
| Er selbst hat Schreibaufträge und Referenzliteratur, nämlich Rolf Dieter | |
| Brinkmanns „Rom, Blicke“ und Marie Luise Kaschnitz’ „Geschichte eines | |
| Dorfes“ im Gepäck – geschätzte, wenn auch nicht sonderlich strapazierte | |
| Texte, von denen er sich eher abgrenzt. Keine Spur von Goetz, und wenn Lotz | |
| „Hi, Maus“ schreibt, meint er keinen Menschen, sondern ein Tier. | |
| Fauna und Flora kommen in kleinen Dosen vor, manchmal nur als Sound | |
| („Chuchu chu“ macht der Nachbarsvogel), denn Lotz ist kein großer | |
| Waldgänger, auch wenn er gelegentliche Peter-Handke-Anwandlungen | |
| ironisiert. Stattdessen korrespondiert er mit Freundinnen und Dramaturgen | |
| aus Leipziger Literaturinstituts- und späteren Theaterzeiten. | |
| ## Leben in Frankreich | |
| Dazu der Schriftsteller- und Familienalltag mit Einkäufen bei „Hyper U“, | |
| schleppendem Internet, Vortragsdeadlines, Bahnreisen, Crémant mit den | |
| Nachbarn, gelegentlichem Diskurssenf zur Mitbestimmung am Theater, | |
| NZZ-Artikeln und zur Sexismusdebatte. | |
| Denn es geht nicht ums Festhalten der Gegenwart für die Zukunft. Im | |
| Gegenteil, Wolfram Lotz will Verfestigung, Konvention und Perfektion | |
| entgegenwirken durch eine „Praxis des entspannten Schreibens“, „die | |
| Entstehung der Form aus den kleinen Dingen, ganz konkret“ („schönstes | |
| Wort“). | |
| „Dass […] ich hier eher laber als schreibe“, soll dem „wandelnden Krampf | |
| und Zweifelapparat“ helfen, „Unschärfe zuzulassen“ – und doch geht es … | |
| nichts Geringeres als eine „Maßnahme zur Erneuerung des Schreibens“, darum, | |
| „zu einer genaueren, klareren Sprache zu kommen“. Lotz’ Horror ist das �… | |
| gemachte“ Mittelmaß, die Wiederholung des Bewährten. | |
| Wie aber lässt sich das eigene Bedürfnis nach Sinn und Schließung umgehen? | |
| Der Romantiker Lotz beharrt auf der Kompliziertheit, verteidigt | |
| Schachtelsatz und Parenthese selbst gegen eigene ästhetische Vorlieben. Er | |
| sträubt sich gegen die vereinfachende Erzählung, egal ob in der | |
| Kritikerfloskel wie „Seismograf der Gegenwart“ oder der großen | |
| Medienerzählung, die Politik und Gesellschaft beeinflusst. | |
| ## Realismus oder Lebendigkeit? | |
| Im Nachdenken darüber, ob es ihm eher um Realismus geht oder um | |
| Lebendigkeit, wird aus dem Experimentierfeld unversehens „eine Art | |
| Poetikvorlesung“ – mit vielen praktischen Beispielen. | |
| „Schreiben heißt leider halt doch: Differenz herstellen“, seufzt Lotz. Dem | |
| Leben am nächsten scheint er zu kommen, wann immer er spontanlyrisch über | |
| die Söhne schreibt: „E und O wippen / wippen wippen // O und E wippen / | |
| wippen wippen / wippen // E und O / O und E / wippen“. Kinder, die Meister | |
| der Unmittelbarkeit. Aber auch Lotz’ reflektierendes Ringen mit dem eigenen | |
| Schreiben wird ganz unakademisch nachvollziehbar, rückt einem emotional auf | |
| die Pelle, wenn es sich unter Zeitdruck verknäult und verknotet. | |
| Mal lustig, mal bemüht liest sich der Verfremdungstrick, sich unter fremden | |
| Namen beim Leben zuzuschauen. Als Miley Cyrus schreibt Lotz an „Die | |
| Politiker“, als Peter Handke geht er im Wald spazieren, als Heiner Müller | |
| tritt er öffentlich als Dramatiker-Guru auf. | |
| ## Schnurzeln, Sischen, Knicksen, Aufwollern | |
| Kleine Etüden wie die „Geräusche des Tages“ sind hinreißend in ihrer | |
| volltreffenden Lautmalerei: „Das billig-federnde Geräusch der | |
| Computertasten, die stumpfen Kuppen der Finger zugleich hörbar (ein | |
| Komplex-Geräusch) / Das Schnurzeln des Computers, wie das Mahlen einer | |
| Mikrowinzigmühle / Sischen des Gases, Knicksen des Funken, Aufwollern der | |
| Flamme auf dem Herd / Autotüren schlagen, durch das Fenster wie durch Stoff | |
| / Bettlakenschüttelähnliches Leergeräusch des aus dem Gebüsch auffliegenden | |
| Spatzenschwarms“. | |
| Und damit nicht heimlich Handwerkerstolz einzieht: „Das weiche Geräusch des | |
| Bleistifts auf Papier (leider keine Sprache grad dafür da)“. | |
| Und dann sind da noch die Stellen, an denen Lotz über den Betrieb herzieht, | |
| Moritz Rinke, die Schaubühne, Heiner Müller oder den Journalismus schlimm | |
| findet. Auch diese Ablehnung hat meist poetologisch gute Gründe, aber es | |
| ist verblüffend, wie sehr den Autor das, was ihn eigentlich abstößt, selbst | |
| zu infizieren droht: Höchste Gefahr, sich in Polemik und Abwertung am | |
| Gegenstand buchstäblich festzubeißen. | |
| „Ich habe Angst, dass es jetzt kippt, dass hier jetzt die Scheiße beginnt“, | |
| merkt der Dichter und schreibt später noch mal in Großbuchstaben: „ALLES | |
| WAS, MAN SAGT, IST MAN SELBST“. Und also ist es gerade schön, dass in | |
| dieser großen, erhellenden Lebendigkeitsübung auch das bellende Rülpsen und | |
| Abhusten noch drinsteht. | |
| 24 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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