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# taz.de -- Neues Theaterstück von Falk Richter: Väter, Söhne, Autofiktion
> Wo die Gefühle sitzen: „The Silence“ von Falk Richter feiert Premiere an
> der Berliner Schaubühne. Das Stück handelt von transgenerationalen
> Traumata.
Bild: Dimitriij Schaad als Falk Richter in „The Silence“
„‚To silence someone‘ beschreibt den Prozess, jemanden zum Schweigen zu
bringen, es ist ein aktiver Vorgang “, [1][spricht Dimitrij Schaad]. Da ist
der 38-jährige Schauspieler, der an diesem Abend sein Schaubühnen-Debüt
feiert, bereits in seine Rolle geschlüpft, die des Autors Falk Richter.
Vorher hat sich Schaad, der sonst zum Ensemble des Gorki Theaters zählt,
vorgestellt: „Dimi, Schaubühne. Schaubühne, Dimi.“ Die Verwandlung in den
autofiktionalen Richter erfolgt dann zwar mit Ankündigung, aber ohne
Brimborium, mit einem Lächeln.
Schweigen ist nicht zwingend leise, aktiv hergestellte Stille kann
„unerträglich laut werden“, besonders, wenn sie zwischen den Zeilen
verharrt. „In meiner Familie wurde unentwegt geredet, und doch war all das
Reden wie ein großes Schweigen“, sagt der, der an diesem Abend eine
jüngere Version des Autors mimt. Gemeint ist damit das Schweigen innerhalb
der Familie über das, was dort, aber auch außerhalb geschehen ist. Das,
worüber keiner spricht. In der Familie Richter wurde nicht darüber geredet,
wie viele Menschen der Vater als Soldat im Zweiten Weltkrieg umgebracht
hat.
Dass er mit der noch minderjährigen Mutter ein uneheliches Kind zeugte und
die beiden in einer Wohnung am Stadtrand versteckte, um neun Jahre lang ein
Doppelleben zu führen. Auch über den Großvater wurde nicht gesprochen, der
aus russischer Kriegsgefangenschaft kam und dem seine Familie fremd war.
## Alles verschweigen
Nicht über Misshandlungen sprach man und auch nicht über Vernachlässigung,
beides wurde schon deshalb von einer auf die nächste Elterngeneration
übertragen. Geschwiegen wurde auch über die Homosexualität des Sohnes, die
während der Aids-Krise in den 80ern von der hiesigen Politik wie den Medien
ganz selbstverständlich „als Strafe Gottes“ markiert wurde.
Für Falk Richter ist der Abend eine Rückkehr an die Schaubühne, die er ab
2000 mit Stücken wie „Trust“ und [2][„Fear“ bespielte], bevor er [3][a…
Gorki Theater] wechselte. Ab da wurden die Texte des 1969 in Hamburg
geborenen Autors und Regisseurs persönlicher. Für [4][„In My Room“] setzte
Richter sich mit der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen auseinander, mit
den patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft und einem darin
reproduzierten toxischen Männlichkeitsbild.
All das findet sich in „The Silence“ wieder, viel intimer allerdings, der
von Schaad vorgetragene Monolog basiert auf Erfahrungen Richters. Das sind
Szenen von Gewalt, die der junge Schwule in den 1980ern erlebt, auf der
Straße, aber auch zu Hause, weil er dem Männlichkeitsbild nicht entspricht
und ihm so das Leben am Rande der Gesellschaft prophezeit wird. Stets
präsent das der Gewalt diametral gegenübergestellte Schweigen – von
Passanten wie auch von Mutter und Schwester, die nur zusehen, wenn Richter
verprügelt wird – und das unterlassener Hilfeleistung gleichkommt.
## Lilafarbene Flokati-Teppiche
„In meiner Familie habe ich mich nie sicher gefühlt“, spricht Schaad zu
Beginn der knapp zwei Stunden. Währenddessen steht er in einer von Katrin
Hoffmann erdachten Traumlandschaft aus lilafarbenen Flokatis, einem
Birkenbäumchen, unter dem sich Schaad wie Goethe in der Campagna in Kimono
und Cowboyhut fläzt, und zerknüllten Papieren, die sich über das Stück
hinweg vermehren, wenn der Autor versucht seine Gedanken zu bündeln.
Wie schwierig das ist, wird deutlich, wenn Schaad alias Richter sich immer
wieder alternative Handlungsstränge erdenkt: den eines schwulen
Guerillakämpfers etwa oder imaginäre letzte Worte des Vaters voll Reue und
Empathie für den Sohn.
Immer wenn das misslingt, wirkt nicht nur die Verzweiflung Richters
greifbar. Auch Schaad scheint dann ob der Mammutaufgabe, in die
Erinnerungen eines anderen zu schlüpfen, zu hadern. Und doch meistert er
diese Kür mit Bravour. Vielleicht auch, weil das Niederschreiben der
eigenen Erinnerungen diese im selben Moment bereits fiktionalisiert,
sinniert er.
## Versuch eines Gesprächs
Um der Autofiktion etwas entgegenzusetzen, werden Videos auf eine
halbkreisförmige Leinwand projiziert. Neben Bildern einer gutbürgerlichen
Vorstadtsiedlung in Schwarzweiß zeigen sie Interviewausschnitte: Richter
mit seiner Mutter, einer alten Frau mit praktischem Kurzhaarschnitt, im
elterlichen Haus. Der Versuch des Sohnes, mit der Mutter in ein
psychoanalytisches Gespräch zu kommen, ist nur semi-erfolgreich.
Zu vehement hält die Frau, die nicht nur die Gewalt und den Betrug des
kriegsversehrten Vaters der Mutter gegenüber erleben musste, sondern selbst
auch in eine von Unwissenheit geprägte, fast schon missbräuchliche Ehe
gezogen wurde, an ihrer eigenen Historiografie fest. Meist leugnet sie, was
der Sohn als Realität wahrnimmt, wirkt dabei aber weder bösartig noch
unsympathisch. Ihre Realität ist eine andere. Sie kann all den Schmerz gar
nicht fühlen, denn er würde sie umbringen, fachsimpelt Richters
Therapeutin, in deren Rolle Schaad kurzzeitig schlüpft.
Es ist schwierig, an alldem dranzubleiben. Nicht etwa, weil die
Inszenierung langweilt. Im Gegenteil: Richters einfühlsamer Text und
Schaads großartiges Schauspiel setzen etwas in Gang, wo man, wie auch der
autofiktionale Richter selbst, nicht hinwill. Dorthin, wo die Gefühle
sitzen, die unbedingt gefühlt werden wollen.
Für die Mutter und ihre Generation war das Schweigen ein
Überlebensmechanismus, für die Nachkommen hingegen ist es gewaltig. „Zeit
verläuft nicht linear“, wiederholt Schaad. Um zu durchbrechen, wozu die vor
uns außerstande waren, müssen wir stellvertretend fühlen, was sonst in Form
von Traumata immer weitergetragen wird – so das Fazit.
20 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Sophia Zessnik
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