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# taz.de -- Theater aus Belarus in Dresden: Zerschlagene Szene
> Das Festival freier Künste „Nebenan“ in Dresden gibt Einblick in
> belarussisches Theater. Trotz Diktatur hat sich im Land eine freie Szene
> gebildet.
Bild: Szene aus „Frau mit Automat“
Für den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer begann „hinter Braunschweig
die asiatische Steppe“. Westdeutschland wollte gar nicht wissen, wie es
hinter dem Eisernen Vorhang aussieht, wollte damit auch nicht an deutsche
Naziverbrechen erinnert werden, meint Johannes Kirsten.
Der Dramaturg am Berliner Maxim-Gorki-Theater kuratierte nach dem
russischen „Karussell“-Festival vor zwei Jahren auch das am Wochenende zu
Ende gegangene Belarus-Festival am Festspielhaus Dresden-Hellerau. Obschon
zumindest ältere ehemalige DDR-Bürger noch einige Kenntnis der Sowjetunion
mitbringen, wissen wir viel zu wenig über die ehemaligen Sowjetrepubliken.
Der Ukrainekrieg zwingt uns hier zu Weiterbildung. In den Krieg ist auch
Nachbar Belarus verwickelt. „Es ist bitter, dass vor zwei Jahren erst
Alexander Lukaschenkos Wahlfälschung und die Massenproteste dagegen kommen
mussten, damit wir auf das Land aufmerksam werden“, stellt Kirsten fest.
Nicht nur dessen Demokratiepotenzial überraschte 2020. [1][Hierzulande
blieb bis dahin auch weitgehend unbekannt, dass es zuvor eine gewisse
Toleranz des Diktators gegenüber einer sich entwickelnden freien
Kulturszene gab.]
## Freie Szene unter Lukaschenko
„Lukaschenko dachte, alles unter Kontrolle zu haben“, erklärt Olga Shparaga
die Herausbildung unabhängiger Bühnen, aber auch einer NGO-Szene. Die
Philosophin spricht von „Mikroinstitutionen“. Bis 2021 lehrte sie am
European College of Liberal Arts in Minsk, war Mitglied im Koordinationsrat
um die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja. 2020 wurde sie
inhaftiert, floh über Litauen nach Berlin. [2][Bei Suhrkamp erschien ihr
Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“.]
Diese Szene Freier Theater, sich selbst organisierender Gruppen, frei
denkender Akademiker und Intellektueller ist nach den Massenprotesten gegen
die Wahlfälschung zerschlagen worden. Von 650 verbotenen
Nichtregierungsorganisationen spricht Olga Shparaga davon, dass es keine
Räume und keine Finanzierung für Freie Theater mehr gibt.
Die nicht emigriert sind, spielen zum Teil in Wohnungen, war in
Festivaldiskussionen zu erfahren. Während der fünf Tage in Hellerau sah man
Arbeiten, die vor 2020 entstanden waren oder nun im Exil Antworten suchen.
Schon der Auftakt, „Discover Love“, des 2005 in Minsk gegründeten und
inzwischen verbotenen Belarus Free Theatre relativierte allerdings das Bild
einer sich nach 1994 begrenzt frei entwickelnden belarussischen
Gesellschaft. Denn schon 2000/2001 erschütterte eine politische Mordserie
das Land.
Der zunächst eine Dreiviertelstunde lang rührend erzählten Liebes- und
Familiengeschichte liegt ein authentischer Fall zugrunde. Jäh kippt die
Erzählung, als der Geliebte und Vater von der Banja weg entführt und
grausam hingerichtet wird.
## Minimalistisches Theater
Das mittlerweile in Großbritannien arbeitende Theater steht insofern
exemplarisch für die in Hellerau zu sehenden Inszenierungen, als es mit
wenigen Personen und minimaler Ausstattung auskommt. Größeren technischen
Aufwand erforderte nur die Soloperformance SarmaTY/JA von Palina
Dabravolskaja: ein mit kräftigem Sound und der Hilfe von drei Videowänden
performtes Gedicht der Belarussin Maryia Martysevich über das Fremdbleiben
im Exil.
In diesem fremden, Sarmatien genannten Land kann man unschwer den Westen
erkennen, wenn es heißt: „Die Habe ist der Putz der Sarmaten!“
Nicht immer dringen Stoffe so brutal politisch auf die Zuschauer ein wie in
der dokumentarischen Performance „P for Pischewsky“ über ein homophobes
Hassverbrechen. „Primitivi“ von Aleksandr Marchenko, Leiter des Zentrums
für belarussische Dramatik, sammelt Eindrücke des Alltagslebens in einer
Kolchose zur Zeit des Stalinterrors der dreißiger Jahre, bei denen es nicht
nur um die naive Malerin Alena Kish geht.
Ästhetisch am meisten beeindruckte „Frau mit Automat“ aus Brest. Mit Witz,
Feingefühl und Engagement führen Aksana Haiko und Partnerin Sviatlana
Haidalionak verschiedene Frauenrollen nach dem Zerfall der Sowjetunion vor,
vom Mütterchen im „Tempel des Zuhause“ bis zur #MeToo-Kämpferin. Ein
wichtiges Festival, das eine weit größere Aufmerksamkeit verdient hätte.
3 May 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Michael Bartsch
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Belarus
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