# taz.de -- Tarifeinigung im Einzelhandel: Stiller Sieg für stille Helden | |
> Die Beschäftigten im Berliner Einzelhandel haben sich 4,7 Prozent | |
> Lohnerhöhung erstreikt. Eigentlich wäre mehr nötig, zeigt ein neuer | |
> Branchenbericht. | |
Bild: Beschäftigte im Einzelhandel an der „Streikzentrale“ Breitscheidplat… | |
Berlin taz | Jeder nutzt sie, jeder braucht sie: die Supermärkte und | |
Bioläden, Drogerien und Buchhandlungen, Modegeschäfte, Kaufhäuser, Bau- und | |
Möbelmärkte, kurz, all das, was man den Berliner Einzelhandel nennt. Auch | |
in Zahlen ist die Branche nicht unwichtig: 125.000 Mitarbeitende hat sie in | |
Berlin, 8 Prozent aller Arbeitnehmer*innen sind also im Einzelhandel | |
beschäftigt, sie erarbeiten rund 11 Prozent des Gesamtumsatzes der | |
Hauptstadt. | |
Aber haben Sie, werte Leser*innen, mitbekommen, dass in den | |
Alltagsgeschäften Ihres Vertrauens [1][seit Juli ein Arbeitskampf tobte]? | |
Haben Sie einen Pullover weniger kaufen können, weil Ihre Lieblingsboutique | |
bestreikt wurde? Hat Sie die Nachricht erreicht, dass es am 19. Oktober | |
eine Tarifeinigung gab und die Beschäftigten, auch die rund 78.000 in | |
Brandenburg, in den kommenden 24 Monaten 4,7 Prozent mehr Lohn und Gehalt | |
bekommen sollen? Eben! | |
Dabei kann sich jede*r vorstellen, dass die Lohntüten von Verkäufer*-, | |
Kassierer*- und Lagerist*innen nicht die dicksten sind. Tatsächlich hat | |
die Branche, in der 61 Prozent der Beschäftigten Frauen sind, einen | |
ausgedehnten Niedriglohnsektor von 36 Prozent. Niedriglöhne sind Verdienste | |
von weniger als zwei Drittel des mittleren Verdienstes aller abhängig | |
Beschäftigten, 2018 lag die Niedriglohngrenze in Deutschland bei 11,05 Euro | |
brutto je Stunde. | |
Viele Beschäftigte arbeiten unter prekären Umständen, heißt es im | |
[2][Branchenbericht „Beschäftigung im Berliner Einzelhandel“], der im | |
Rahmen des [3][Projekts „Joboption Berlin“], gefördert von der | |
Senatsverwaltung für Arbeit, von der Beratungsgesellschaft ArbeitGestalten | |
erstellt wurde. 44 Prozent seien nur teilzeitbeschäftigt, „häufig | |
unfreiwillig“, sagt Cosima Langer aus dem Projektteam. „Befragungen zeigen, | |
dass ungefähr ein Viertel gerne mehr arbeiten würde, weil der Verdienst in | |
Teilzeit nicht kostendeckend ist.“ 14 Prozent sind laut Report | |
ausschließlich geringfügig beschäftigt, der Minijob ist also ihre | |
Hauptverdienstquelle, nur 41 Prozent haben eine Vollzeitstelle. | |
## Immer mehr „Arbeit auf Abruf“ | |
Und auch mit der verdient man nicht die Welt. So bekommt Oliver Kirk, der | |
38 Wochenstunden in der Abteilung Feinkost, Molkerei- und Tiefkühlprodukte | |
bei Edeka in Bernau arbeitet, bislang 2.660 Euro brutto. Netto sind das | |
rund 1.700, weil er auch in eine private Rentenversicherung einzahlt. Mit | |
der Tarifeinigung werden es wohl 70 Euro brutto mehr sein, schätzt er. Dem | |
33-jährigen gelernten Einzelhandelskaufmann reicht das zwar, sagt er. „Aber | |
wenn man damit als allein Tätiger eine Familie unterhalten müsste, kann das | |
wohl nicht klappen.“ | |
Verschärft wird die prekäre Lage vieler Beschäftigter durch die zunehmende | |
Tendenz zur „Arbeit auf Abruf“, erklärt Sozialwissenschaftlerin Langer. Das | |
bedeutet: Im Arbeitsvertrag ist zwar eine wöchentliche Arbeitszeit | |
festgelegt, allerdings kann sie um 25 Prozent nach oben oder 20 Prozent | |
nach unten flexibel gestaltet werden. „Das läuft darauf hinaus, dass | |
Beschäftigte morgens auf einen Anruf warten, weil sich jemand krank meldet | |
und sie spontan reinkommen können“, erklärt die Branchenexpertin. Betroffen | |
sind vor allem diejenigen, die in ungewollter Teilzeit von 10 Wochenstunden | |
arbeiten und darauf angewiesen sind, mehr Schichten zu übernehmen. Eine | |
gesicherte Finanz-, Zeit- und Urlaubsplanung ist unter solchen | |
Voraussetzungen unmöglich. | |
Corona hat die unsichere Lage weiter verschärft: In den Lockdowns wurden | |
viele Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt oder standen als | |
Minijobber*innen auf einmal ganz ohne Arbeit und Lohn da. 19 Prozent | |
der Mitarbeitenden waren laut Report im April 2019 in Kurzarbeit, „das Geld | |
fehlte den Menschen natürlich, gerade im Niedriglohnsektor“, so Langer, | |
auch wenn der Staat das Kurzarbeitergeld je nach Kinderzahl aufgestockt | |
hat. | |
Dann, als die „nicht lebensnotwendigen“ Geschäfte wieder öffneten, kamen | |
plötzlich neue, ungewohnte Aufgaben auf die Beschäftigten zu: das | |
Durchsetzen der Hygiene- und Abstandsregeln bei den Kund*innen. „Bei | |
unseren Befragungen haben wir viel gehört von mangelndem Respekt und | |
zusätzlicher Belastung“, erzählt Langer. Viele hätten sich mehr | |
Unterstützung durch die Geschäftsführung gewünscht, etwa Trainings für den | |
Umgang mit respektloser Kundschaft, Aufstockung der Kurzarbeit auf 100 | |
Prozent durch das Unternehmen oder angemessene Sonderzahlungen. | |
## Pampige Kunden erschweren den Job | |
Auch Kirk findet, dass die Arbeitsbelastung durch Corona zugenommen hat. | |
„Die Leute sind teils nicht mehr so nett.“ So mancher reagiere „pampig“, | |
wenn man ihn auf die fehlende Maske oder den Mindestabstand hinweise. „Den | |
Kunden ist das völlig egal“, sagt er. Diese Gedanken- und | |
Rücksichtslosigkeit ist bemerkenswert, schließlich wurden die | |
Supermarktbeschäftigten zu Beginn der Coronakrise – ähnlich wie die | |
Pflegeberufe – als „Helden der Arbeit“ öffentlich gefeiert. | |
Doch auch von den teils satten Umsatzgewinnen, die vor allem der | |
Lebensmitteleinzelhandel während Corona gemacht hat, haben die | |
Beschäftigten nicht profitiert. „Es gab keinen automatischen | |
Trickle-down-Effekt – also dass die Beschäftigten profitieren, wenn das | |
Geschäft gut läuft“, sagt Langer. Und ob die Tarifeinigung – 3 Prozent me… | |
ab 1. November und noch mal 1,7 Prozent ab Juli 2022 – einen genügenden | |
Ausgleich schafft, darf bezweifelt werden. „Wenn man sieht, wie sich | |
aktuell die Energiepreise und Mieten entwickeln, ist das eigentlich doch | |
nicht genug“, findet Kirk. Einen Teil der gestiegenen Inflation werden die | |
Arbeitnehmer*innen wohl selbst zahlen müssen, befürchtet er. | |
Doch obwohl es also gute Gründe gibt für Unzufriedenheit unter den | |
Beschäftigten, war die Beteiligung beim Arbeitskampf nicht eben | |
überwältigend. Hier mal 1.000 Leute bei einer Kundgebung an der | |
„Streikzentrale“ Breitscheidplatz, dort ein Streikposten vor einer Rewe-, | |
Edeka- oder Ikea-Filiale: Für Kund*innen war das wenig spürbar. | |
Bei Kirks Edeka in Bernau zum Beispiel, wo nach seinen Angaben rund 140 | |
Menschen beschäftigt sind, „haben nur fünf bis sechs Leute gestreikt“ –… | |
waren nicht mal alle, die in der Gewerkschaft sind, deren Zahl schätzt er | |
auf etwa 15. „Ich habe mich auch mal vor die Filiale gestellt und versucht, | |
die Kollegen mitzunehmen. Aber das hat nicht so gut geklappt, die wollten | |
alle arbeiten.“ | |
## Keine Allgemeinverbindlichkeit | |
Ein bisschen ärgert es ihn daher schon, dass (wie immer bei Streiks) auch | |
die Nicht-Gewerkschaftler nun die „Früchte“ des Arbeitskampfs genießen | |
können. „Das ist unfair“, findet er. Dank oder Lob für seinen Einsatz habe | |
er auch nicht bekommen, obwohl er das Ergebnis gleich im Pausenraum | |
aufgehängt habe. „Man kann nur hoffen, dass die Leute endlich wach werden.“ | |
Zumal ein Großteil der Beschäftigten tatsächlich nichts von der | |
Lohnsteigerung abbekommen wird: Der Organisationsgrad auch der | |
Arbeitgeberseite ist so gering, dass die Gewerkschaft sich nicht mit der | |
Forderung durchsetzen konnte, die Allgemeinverbindlichkeit des neuen | |
Vertrages zu beantragen. Gelten wird er daher nur für 27 Prozent der | |
Beschäftigten; insgesamt unterliegen nur noch 18 Prozent der | |
Einzelhandelsbetriebe in Berlin der Tarifbindung. | |
„Sehr bedauerlich“, findet das Langer. Ebenso, dass in Ostberlin – wie in | |
Brandenburg – weiterhin eine Wochenstunde mehr gearbeitet werden muss als | |
in Westberlin: 32 Jahre nach dem Mauerfall. | |
2 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Streik-des-Einzelhandels/!5804629 | |
[2] https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/projekte/Joboption-Berlin/Publika… | |
[3] https://www.joboption-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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Elke Breitenbach | |
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