# taz.de -- Syriza vor der Wahl in Griechenland: Gemacht, was machbar war | |
> Ohne Illusionen, aber auch ohne zu resignieren, führt die Linkspartei | |
> Syriza ihren Straßenwahlkampf. Eine Wahlniederlage steht an. | |
Bild: Die 44-jährige Dokumentarfilmerin Chryssa Tzelepi bewirbt sich um ein Pa… | |
THESSALONIKI taz | Repräsentativ ist die lokale Zentrale von Syriza schräg | |
gegenüber dem Dikastirionplatz in Thessaloniki nicht gerade. Wer an dem | |
etwas heruntergekommenen Bürohaus auf der lärmenden Hauptverkehrsstraße | |
Egnatia vorbeikommt, sieht sofort den Pfandleiher im Parterre. Ein Hinweis | |
am Gebäudeeingang, dass hier in der dritten Etage auch die „Koalition der | |
Radikalen Linken“ – wofür [1][das Kürzel Syriza] steht – residiert, feh… | |
hingegen. | |
Vor vier Jahren prangte hier noch das Logo von Griechenlands | |
Regierungspartei: „Das Schild ist immer wieder gestohlen worden“, sagt | |
Dimitris Routos zur Begrüßung, „irgendwann haben wir aufgehört, ein neues | |
aufzuhängen.“ Routos ist stellvertretende Sekretär von Syriza in | |
Thessaloniki. | |
Vor vier Jahren war hier etliches anders. Im Januar 2015 der sensationelle | |
Syriza-Wahlsieg, im Juli [2][das beeindruckende „Oxi“-Referendum] der | |
GriechInnen gegen das europäische Austeritätsdiktat. Kurz darauf die | |
Kapitulation des Ministerpräsidenten Alexis Tsipras vor den | |
EU-Institutionen und schließlich der überraschende erneute Wahlerfolg | |
Syrizas im September, die zweite Chance. Es war die Zeit der großen | |
Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen. | |
„Wir müssen einfach weiter um die Chance kämpfen, das Land zu verändern“, | |
sagte seinerzeit Routos bei unserer ersten Begegnung; das war vor der | |
zweiten Wahl, 2015. Die erzwungene Unterwerfung von Tsipras hatte zu | |
schweren Verwerfungen innerhalb Syrizas geführt. Etliche AktivistInnen | |
hatten sich abgespalten, darunter rund die Hälfte des Zentralkomitees und | |
der komplette Jugendverband. Andere zogen sich deprimiert ins Privatleben | |
zurück. Nicht wenige glaubten, Syriza wäre am Ende. Routos glaubte das | |
nicht. Und er behielt recht. | |
Die Euphorie vom Frühjahr war zwar verflogen, geblieben aber war der Wille | |
der WahlkämpferInnen, sich nicht von der Regierung verdrängen zu lassen. | |
Sie treibt die feste Überzeugung an, dass Griechenland nicht wieder jenen | |
überlassen werden darf, die das Land in den Abgrund gewirtschaftet und sich | |
selbst die Taschen gefüllt hatten. „Wir wussten, dass die Lage katastrophal | |
war“, sagt der 64-Jährige heute. „Aber wir wollten etwas für die Menschen | |
tun.“ | |
## Seit Schülerzeiten Genosse | |
Nach ihrer verheerenden Niederlage bei den Europa- und Regionalwahlen am | |
26. Mai stehen nun am Sonntag in einer Woche wieder Parlamentswahlen an. | |
Eine dritte Chance wird es nicht geben. „Es dürfen nicht wieder die an die | |
Macht kommen, die die Krise verursacht haben“, sagt Routos immer noch. Doch | |
genau so dürfte es kommen. Offen ist nur noch die Frage, wie hoch der | |
Wahlsieg der nationalkonservativen Nea Dimokratia (ND) am 7. Juli ausfallen | |
wird. In Umfrageergebnissen pendelt sie um die 39 Prozent, Syriza um 28. | |
Im Syriza-Büro hat sich nicht viel verändert. Gut, das Porträt Rosa | |
Luxemburgs hängt nicht mehr ganz so einsam an der Wand, ein paar Plakate | |
sind hinzugekommen. Doch das Mobiliar ist noch immer spärlich. Chefsessel | |
gibt es keine. „Darf ich rauchen?“, fragt Routos in die Gruppe, die im Flur | |
neben einem Empfangstisch steht. Die Leute nicken. | |
Vor vier Jahren rauchte Routos noch Camel ohne Filter. Nachdem ihm der Arzt | |
geraten hat, mit dem Rauchen ganz aufzuhören, raucht er jetzt Karelia | |
Filtro, eine leichtere griechische Marke. Auch seine Partei hat sich den | |
Verhältnissen angepasst. „Syriza hat nicht die sozialistische Politik | |
gemacht, die sie machen wollte“, sagt er. „Das war einfach nicht möglich.�… | |
Die Wirtschaftskrise und die EU haben das verhindert. „Wir haben gemacht, | |
was machbar war.“ | |
Routos ist seit Schülerzeiten Genosse. Ende der Sechziger, in der Zeit der | |
faschistischen Militärdiktatur, schloss er sich der damals illegalen | |
eurokommunistischen KKE-Inland an, einem Vorläufer von Syriza. | |
Fünfundvierzig Jahre lang arbeitete er für griechische und internationale | |
Banken, bis er 2013 in Frühpension geschickt wurde. Heute arbeitet er | |
ehrenamtlich für Syriza. | |
## Zeit zum Aufbruch | |
Triantafyllos Mitafidis begrüßt Routos herzlich, als er den kleinen | |
Versammlungsraum im Syriza-Büro betritt. Die beiden kennen sich seit | |
Langem, 1969 sperrten die Obristen den jungen linken Studenten Mitafidis | |
für vier Jahre ins Gefängnis. An diesem drückend heißen Samstagmorgen haben | |
sie sich mit MitstreiterInnen im Syriza-Büro verabredet, um gemeinsam in | |
den Straßenwahlkampf zu ziehen. Mitafidis will wieder ins Parlament | |
einziehen. Der 72-Jährige gehört dem Zentralkomitee von Syriza an. | |
An einen Sieg Syrizas glaubt aber auch Mitafidis nicht mehr. „Wir haben die | |
enge Verbindung zu den Menschen verloren“, sagt der pensionierte Lehrer | |
selbstkritisch. „Gemessen an den realen Möglichkeiten, waren die Ansprüche | |
vieler an die Syriza-Regierung einfach zu groß.“ Trotzdem hat die Regierung | |
einiges erreicht, ist er überzeugt. Etwa dass 2 Millionen Menschen, die | |
nicht krankenversichert waren, nun Zugang zu medizinischer Versorgung | |
haben. „Das dürfen wir nicht kampflos aufgeben“, sagt er. | |
Mitafidis ist im griechischen Parlament Vorsitzender einer | |
parlamentarischen Sonderkommission, die die Forderungen an die | |
Bundesrepublik nach Reparationszahlungen für die deutschen Verwüstungen in | |
Griechenland im Zweiten Weltkrieg errechnet hat. Auf rund 290 Milliarden | |
Euro ist die Kommission gekommen. Dass Berlin das Thema für „rechtlich und | |
politisch abgeschlossen“ hält, empört Mitafidis. „Wir sind überhaupt nic… | |
dieser Meinung“, formuliert er zwar diplomatisch. Aber es ist ihm | |
anzusehen, dass Mitafidis auch noch ganz andere Worte dazu einfallen. | |
Es ist Zeit zum Aufbruch. Kurz vor 11 Uhr machen sich rund 30 | |
Syriza-AktivistInnen auf den Weg. Ausgerüstet mit Stapeln von | |
Wahlprogrammen, gehen sie über die verkehrsberuhigte Aristotelesstraße in | |
Richtung Uferpromenade. Die Reaktionen der Passanten sind mal freundlich, | |
mal ablehnend: „Ich habe euch vier Jahre nicht gesehen, jetzt muss ich euch | |
auch nicht sehen“, schimpft eine ältere Passantin. | |
„Die Leute sind ärgerlich“, sagt Chryssa Tzelepi. Die 44-jährige | |
Dokumentarfilmerin bewirbt sich um ein Parlamentsmandat, doch ihre | |
Aussichten stehen nicht gut. Dass sich Syriza trotz gegenteiliger | |
Ankündigung letztlich den ungeliebten Vorgaben aus Brüssel beugte, etwa | |
Teile der Infrastruktur wie die Häfen oder Regionalflughäfen zu | |
privatisieren, hat viele WählerInnen zutiefst frustriert. | |
## Homophobie im Alltag | |
Syriza musste viele Kompromisse eingehen. Das hat dem Image der Partei | |
geschadet. Hinzu kommen individuelle Instinktlosigkeiten. Als kurz vor den | |
Europawahlen herauskam, dass sich ausgerechnet der linke Saubermann Alexis | |
Tsipras im Sommer 2018 einen peinlichen Luxusjachturlaub im Ionischen Meer | |
auf Einladung eines prominenten Reeders gegönnt hatte, war das eine | |
Steilvorlage für die Opposition. Auch manches Wahlkampfmanöver kam nicht | |
gut an. Eine einmalige zusätzliche Rentenzahlung nur sechs Tage vor der | |
EU-Wahl war schon sehr plump und erinnerte an das Gebaren, das Syriza bei | |
der Nea Dimokratia immer angeprangert hatte. | |
Trotzdem: Chryssa Tzelepi will nicht hinnehmen, dass die Verantwortung der | |
konservativen und sozialdemokratischen Vorgängerregierungen für die tiefe | |
[3][ökonomische und soziale Krise Griechenlands] aus dem Blick geraten ist. | |
Und dass die Erfolge von Syriza nicht gesehen werden, beispielsweise die | |
Einführung einer Mindestsicherung für Bedürftige oder die Erhöhung des | |
Mindestlohns. Im Wahlkampf aber wird es vor allem um Steuern gehen. | |
Tsipras-Herausforderer Kyriakos Mitsotakis von der Nea Dimokratia | |
verspricht, sie drastisch zu senken. | |
Einige Stunden später haben sich vor dem Weißen Turm, dem Wahrzeichen der | |
nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki, Tausende von Menschen zur | |
diesjährigen Pride Parade versammelt. Als einzige Partei ist Syriza auf dem | |
Event der LGBT-Community mit Fahnen und einem großen Transparent präsent. | |
Mehrere Abgeordnete sind gekommen, darunter Mitafidis. Routos ist ebenfalls | |
dabei. „Die anderen Parteien halten sich lieber fern“, sagt er. Homophobie | |
gehöre auch in Griechenland immer noch zum Alltag, fügt er bedauernd hinzu. | |
Giannis Boutaris läuft wie jedes Jahr ganz vorne mit. Der parteilose | |
Linksliberale ist noch bis September Bürgermeister von Thessaloniki. Seit | |
2011 lenkt der frühere Winzer so integer wie unprätentiös die Geschicke von | |
Griechenlands zweitgrößter Stadt. Sein Einsatz für Minderheiten, sein | |
Erinnern an das verdrängte jüdische und osmanische Erbe haben ihm viel | |
Anerkennung eingebracht. Und auch viel Hass. Im Mai letzten Jahres wurde | |
Boutaris genau hier am Weißen Turm von Ultranationalisten krankenhausreif | |
geprügelt. | |
## „Keine Strategie, um das Land neu zu gestalten“ | |
„Es ist sicher, dass die Nea Dimokratia gewinnen wird“, sagt der 77-Jährige | |
mit dem goldenen Stecker im linken Ohrläppchen. Das Europawahlergebnis sei | |
eindeutig gewesen, „den Abstand kann Syriza nicht mehr aufholen“. Seine | |
Bilanz der letzten vier Jahre ist durchwachsen. Dass im Dezember 2015 | |
Griechenland als erstes orthodox geprägtes Land die Eingetragene | |
Partnerschaft für Homosexuelle eingeführt hat, ist für ihn „auf jeden Fall | |
ein sehr guter Schritt“ gewesen. Auch dass es Tsipras gelungen ist, den | |
[4][unseligen Namensstreit mit dem exjugoswlawischen Mazedonien | |
beizulegen], findet sein Einverständnis. Doch insgesamt fällt das Urteil | |
negativ aus. „Er hat versucht, viele Dinge zu ändern“, sagt Boutaris. „A… | |
es scheint, dass es nicht funktioniert hat.“ | |
Zwar hält er Tsipras für einen „sehr charismatischen Menschen“. Aber der | |
Syriza-Frontmann habe „keine Strategie, um das Land neu zu gestalten“, | |
glaubt Boutaris. Damit das gelinge, müsste die Spaltung der griechischen | |
Gesellschaft überwunden werden und müssten Syriza und Nea Dimokratia bereit | |
sein, aufeinander zuzugehen. | |
Aber wäre eine solche Kooperation überhaupt denkbar? Für Dimitris Routos | |
ist das unvorstellbar. „Die Nea Dimokratia ist eine neoliberale Partei mit | |
vielen Elementen der extremen Rechten, sie steht für eine Politik des | |
Klientelismus und der Korruption“, sagt er und verspricht: „Wir werden eine | |
starke linke Opposition sein.“ Aber er sagt auch: „Wenn Syriza die Wahl | |
verliert, wird sich vieles in der Partei verändern. Wir werden uns fragen | |
müssen: Was haben wir falsch gemacht?“ | |
2 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
Pascal Beucker | |
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