# taz.de -- Tsakalotos über Griechenlands Linke: „Linken wurde Sauerstoff en… | |
> Griechenlands Ex-Finanzminister Euklid Tsakalotos über die | |
> Coronapandemie, die Krise der Linken in Europa und seine Hoffnungen auf | |
> Rot-Rot-Grün. | |
Bild: Generalstreik in Griechenland im Juni: Wer wird die Coronakrise bezahlen? | |
taz: Herr Tsakalotos, im Vergleich zu Deutschland hat Griechenland auf die | |
Coronapandemie mit deutlich härteren Maßnahmen reagiert. So gab es unter | |
anderem sehr weitgehende Ausgangssperren. Wie zufrieden sind Sie mit der | |
Anti-Corona-Politik der konservativen Regierung von Ministerpräsident | |
Kyriakos Mitsotakis? | |
Euklid Tsakalotos: Ich denke, dass es die Regierung während der ersten | |
Coronawelle ganz gut gemacht hat. Es gab zunächst verhältnismäßig wenig | |
Infektionen und Todesfälle, die Krankenhäuser sind nicht so stark unter | |
Druck geraten wie befürchtet. Auf die zweite und dritte Welle hätte die | |
Regierung aber schneller und konsequenter reagieren müssen. Das war ein | |
bitterer Fehler, den leider auch andere Regierungen in Europa begangen | |
haben. Die zu späte Reaktion hat viele Menschenleben gekostet. | |
Ich hoffe sehr, dass wir jetzt die Pandemie so gut es geht im Griff haben, | |
auch wenn wegen der gefährlichen Deltavariante weiter Vorsicht angesagt | |
ist. Wichtig dafür ist, dass die Regierung das Impfprogramm einigermaßen | |
ordentlich organisiert hat. Allerdings ist Griechenland noch nicht über dem | |
Berg. | |
Angesichts der sonst üblichen rüden Umgangsformen in der griechischen | |
Politik: Das ist eine sehr moderate Kritik. | |
Wir wollten von Anfang an den Menschen den Ernst der Krise klar machen. Die | |
Coronapandemie eignet sich nicht für Fundamentalopposition. Es wäre nicht | |
verantwortungsbewusst gewesen, die Maßnahmen der Regierung zum | |
Gesundheitsschutz grundsätzlich in Frage zu stellen. Kritik ist kein | |
Selbstzweck. Das bedeutet nicht, dass wir die Entscheidungen der Regierung | |
überhaupt nicht kritisiert haben. Zum Beispiel drängten und drängen wir | |
Mitsotakis selbstverständlich zu den längst überfälligen Investitionen in | |
das öffentliche Gesundheitssystem. Wir können uns marode Krankenhäuser | |
einfach nicht leisten. | |
Neben den harten Lockdowns hat Mitsotakis zur Abfederung der | |
wirtschaftlichen Krise Unternehmen finanziell unterstützt und eine Art | |
Kurzarbeitergeld eingeführt. Was hätte sein linker Vorgänger Alexis Tsipras | |
anders gemacht? | |
Für mich gibt es auch hier ein gemischtes Bild. Ja, die Regierung hat Geld | |
in die Hand genommen – aber es war zu wenig, und das Geld floss weder | |
schnell noch lang genug. Es fehlte die Zielgenauigkeit: Wie stellen Sie | |
sicher, dass die Unterstützung nicht nur an die großen Unternehmen geht, | |
sondern vorrangig zu den kleinen und mittleren Betrieben? Das ist ganz | |
entscheidend. | |
Was bedeutet das konkret? | |
Eine Syriza-Regierung hätte sich vor allem auf diejenigen Branchen und | |
Betriebe konzentriert, die tatsächlich Hilfe benötigen. Die | |
Wirtschaftsstruktur Griechenlands wird dominiert von mittelständischen | |
Unternehmen, wobei darunter etwas anderes zu verstehen ist als in | |
Deutschland. Dort hat ein mittelständisches Unternehmen 50 bis viele | |
hundert Beschäftigte, in Griechenland sind es durchschnittlich nur bis zu | |
fünf Beschäftigte. Diese kleinen Firmen hat die Krise schwer erwischt. | |
Außerdem hätte wesentlich mehr für die Beschäftigten im Kulturbereich getan | |
werden müssen. Aber für die hat sich die Mitsotakis-Regierung nicht | |
interessiert. | |
Gibt es eine Lehre, die Sie aus der Coronapandemie ziehen? | |
Nicht nur in Griechenland, sondern auf der ganzen Welt überdenken die | |
Menschen ihre Werte, was im Leben wichtig ist. Das ist neben der Gesundheit | |
die Bedeutung des Staates bei der Bewältigung einer solchen Krise, aber | |
auch die Bedeutung der Solidarität unter den Menschen. Die spannende Frage | |
ist, was passieren wird, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie | |
offensichtlicher werden. Wer wird die Kosten der Krise zahlen müssen? Das | |
dürfte eine harte gesellschaftliche Auseinandersetzung werden. | |
Vor zwei Jahren wurde Tsipras [1][von Mitsotakis abgelöst]. Jenseits der | |
Coronakrise: Hat sich seit dem Regierungswechsel etwas Gravierendes in | |
Ihrem Land verändert? | |
Ja, das hat es. Die Nea Dimokratia steht für eine Mischung aus neoliberaler | |
Ökonomie [2][und Autoritarismus]. Eines ihrer ersten Gesetze zielte darauf | |
ab, zugunsten der Arbeitgeber Tarifverhandlungen zu erschweren. Als | |
Anhängerin der Trickle-down-Ökonomie macht sie Steuererleichterungen für | |
die Reichen, senkt die Vermögenssteuer auf Immobilien für die Reichen und | |
die Körperschaftssteuer. Gleichzeitig verschlechtert die Regierung die | |
Arbeitsbedingungen für die Lohnabhängigen. [3][Trotz eines Generalstreiks] | |
hat sie Mitte Juni ihre arbeitnehmerfeindlichen Arbeitsreformgesetze durch | |
das Parlament gepeitscht, die den 8-Stunden-Tag aushebeln, Entlassungen | |
vereinfachen und das Streikrecht aushöhlen. | |
Trickle-down-Ökonomie meint etwas verkürzt: je reicher die Reichen werden, | |
desto mehr fällt auch für die unteren Schichten der Gesellschaft ab, | |
weswegen man im Deutschen auch von Pferdeäpfel-Theorie spricht. | |
Diese Bezeichnung zeigt den Zynismus ganz gut. Joe Biden hat völlig recht, | |
wenn er sagt: [4][Die Trickle-down-Ökonomie hat noch nie funktioniert] und | |
es ist an der Zeit, die Wirtschaft von unten und von der Mitte her wachsen | |
zu lassen. Deswegen macht die ganze Herangehensweise von Mitsotakis an die | |
Wirtschaft keinen Sinn. Sie ist unsozial und verschärft die Ungleichheit in | |
einem Land, in dem es vielen Menschen ohnehin nicht gut geht. | |
Der Popularität von Mitsotakis scheint das aber nicht besonders zu schaden. | |
In den Umfragen liegt die Nea Dimokratia allerdings weit vor Syriza. | |
Die Pandemie hat eine weitgehende Aussetzung der klassischen | |
Auseinandersetzungs- und Kommunikationsformen von Politik zur Folge gehabt. | |
Der Linken wurde der Sauerstoff entzogen, es gab keine Gelegenheit mehr, | |
bei Veranstaltungen oder in Cafés zu diskutieren. Die Menschen haben | |
verständlicherweise Angst, sie machen sich Sorgen um ihre Gesundheit. In | |
einer solchen Lage gibt es die allgemeine Tendenz, diejenigen zu | |
unterstützen, die an der Macht sind. Das ist in Griechenland nicht anders | |
als in anderen Ländern. Aber das ist ein Zustand, der sich wieder | |
verändert. | |
Glauben Sie, dass es für Ihre Partei eine zweite Chance geben wird, an die | |
Regierung zu kommen? | |
Der Sauerstoff für die Linke kehrt langsam zurück. Ja, wir liegen hinter | |
der Nea Dimokratia, aber unsere Ausgangsposition ist trotzdem keine | |
schlechte. Wenn ich mit Linken aus anderen europäischen Ländern spreche, | |
sind sie erstaunt, wie hoch Syriza in den Umfragen steht, nämlich bei knapp | |
unter 30 Prozent. Wir haben eine starke Verankerung in der Bevölkerung. | |
Mein Gefühl ist, dass die Anerkennung für das, was Syriza trotz aller | |
Probleme an der Regierung gemacht hat, wächst. Dazu zählt die Verbesserung | |
des öffentlichen Gesundheitssystems, auch wenn das noch weit stärker | |
ausgebaut werden muss. Auch ist uns gelungen, die Armut und die Kinderarmut | |
um drei Prozentpunkte zu senken. Wir haben in einem schmerzhaften Prozess | |
den griechischen Staat überhaupt erst wieder ökonomisch handlungsfähig | |
gemacht. Um nur drei Beispiele zu nennen. Unsere Bilanz ist besser, als es | |
[5][so mancher Linker in Europa hat wahrnehmen wollen]. | |
Dann war also in der Syriza-Regierungszeit alles super? | |
Nein, überhaupt nicht. Wir hatten bekanntermaßen mit großen Schwierigkeiten | |
zu kämpfen. Denken Sie nur daran, dass der damalige deutsche Finanzminister | |
Wolfgang Schäuble Griechenland mit aller Macht aus dem Euro drängen wollte. | |
[6][Und sicherlich haben wir auch nicht alles richtig gemacht.] Bevor | |
Syriza an die Regierung kam, waren wir eine Protestpartei. Das war ein | |
großer Sprung. Selbstverständlich müssen wir unsere Regierungsgeschichte | |
aufarbeiten: was wir getan haben, was wir nicht getan haben, was uns | |
aufgezwungen wurde und was wir jetzt tun können. Das ist gar keine Frage. | |
Was folgt daraus? | |
Syriza befindet sich gerade in einem Programmprozess. Am ersten | |
Juli-Wochenende haben wir einen ersten Kongress dazu veranstaltet. Wenn | |
nicht mehr die Pandemie in den Köpfen der Menschen an erster Stelle steht, | |
werden wieder soziale Ungleichheiten in den Vordergrund rücken. Wir | |
brauchen eine überzeugende Agenda, die realistisch, aber auch weiterhin | |
radikal ist. Dabei sollten wir uns auf klare Botschaften zur Verbesserung | |
der Lebenssituation der Menschen konzentrieren. | |
Für eine Partei links der Sozialdemokratie steht Syriza immer noch ziemlich | |
gut da. Ob in Italien, Frankreich, Spanien oder den Niederlanden: [7][In | |
anderen europäischen Ländern sieht es für linke Parteien wesentlich | |
schlechter aus]. Die deutsche [8][Linkspartei muss um den Einzug in den | |
Bundestag fürchten]. Wie erklären Sie sich das? | |
Es gibt in Europa einen konservativen, autoritären und neoliberalen Trend. | |
Die interessante Frage ist, was in der nächsten Zeit geschehen wird, wenn | |
die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sichtbar werden. Ich hoffe, dass | |
die linken Parteien daraus neue Kraft schöpfen können. Dass sie sich in | |
einer Krise befinden, ist unübersehbar. Ich kann nicht auf die Situation | |
einzelner Parteien eingehen. Aber generell gilt aus meiner Sicht, dass eine | |
positive linke Erzählung eminent wichtig ist, die die Menschen überzeugen | |
und mitnehmen kann. Nach meinem Eindruck fehlt es daran. | |
Was meinen Sie damit? | |
Rechte Parteien setzen auf einen Kulturkampf, machen Stimmung gegen | |
gesellschaftliche Minderheiten, Flüchtlinge oder auch die | |
Gleichberechtigung der Frau. Ihre Antwort auf Ungleichheit und | |
Ungerechtigkeit ist die Beförderung von Nationalismus und Rassismus. Das | |
ist ein gefährliches Scheinangebot, das leider auch in der Arbeiterklasse | |
auf fruchtbaren Boden fällt. Der Grund liegt darin, dass Teile der | |
Arbeiterklasse traditionell kulturell eher konservativ eingestellt sind. Es | |
hilft allerdings nichts, das einfach nur zu beklagen. | |
Noch fataler wäre es, sich diesem kulturellen Konservatismus anzupassen. | |
Unsere Solidarität mit denen, die von Diskriminierung betroffen sind, | |
dürfen wir nicht aufgeben. Die Frage ist vielmehr, was ist für abhängig | |
Beschäftigte prioritär: die kulturelle oder die ökonomische Frage? Das gibt | |
den Ausschlag für ihre Wahlentscheidung. Die Linke muss es schaffen, dass | |
die Menschen den Glauben an die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse | |
zurückgewinnen. Ich glaube, der frühere Linkspartei-Vorsitzende [9][Bernd | |
Riexinger hat das „verbindende Klassenpolitik“ genannt]. Das trifft es | |
schon nicht schlecht. | |
Was ist Ihre Hoffnung für Europa? | |
Erstens war ich schon immer ein glühender Proeuropäer, zweitens bin ich | |
Optimist. Manche Dinge, die heute als unrealistisch gelten, können sich mit | |
dem politischen Kräfteverhältnis ändern. Meine Vision wäre eine | |
rot-rot-grüne Allianz in Europa, die ein neues Gleichgewicht zwischen Natur | |
und Wirtschaft schaffen kann, zwischen Entwicklung und demokratischer | |
Gleichberechtigung. | |
Ich hoffe, dass es der Sozialdemokratie endlich gelingt, ihre neoliberale | |
Orientierung aus den Zeiten Tony Blairs und Gerhard Schröders zu | |
überwinden, um mit den anderen beiden progressiven Parteienfamilien, also | |
den Grünen und der Linken, an einem gemeinsamen europäischen Projekt zu | |
arbeiten: einem Left-New-Green-Deal, der Ökonomie und Ökologie verbindet. | |
Der Zugang zu guten Jobs, zu Bildung, zu Kultur und der Kampf für | |
demokratische Rechte sowie gegen den menschengemachten Klimawandel gehören | |
zusammen. Das ist die Herausforderung unserer Zeit. | |
Was erwarten Sie sich von der Bundestagswahl im September? | |
Es dürfte Sie wenig verwundern, dass ich mich über eine rot-rot-grüne | |
Koalition sehr freuen würde. Ich habe jetzt keine Illusionen, dass SPD, | |
Linkspartei und Grüne ein unglaublich radikales Programm umsetzen würden. | |
Aber wenn sie gemeinsam gesellschaftliche Ungleichheit angehen, die | |
Einwanderung humaner gestalten und den Klimawandel entschlossener bekämpfen | |
würden, wäre das für ganz Europa ein wichtiges positives Zeichen. | |
Was halten Sie eigentlich von Olaf Scholz? | |
Er ist ein netter Mensch. Als Finanzminister habe ich mit ihm | |
zusammengearbeitet. Aber er hat keine Vision. Es wäre großartig, wenn es | |
einen deutschen Bernie Sanders gäbe. | |
26 Jul 2021 | |
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