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# taz.de -- Griechenlands Gesundheitswesen: Kein Piks, kein Job, kein Geld
> Im griechischen Gesundheitssystem herrscht Impfzwang. Für Angestellte,
> die sich nicht impfen lassen, hat das drastische Konsequenzen.
Bild: Protestaktion gegen die Suspendierung von Ungeimpften aus dem Gesundheits…
Athen taz | Es fängt allmählich an zu regnen, der Regen wird dann immer
heftiger. Wie nach dem Sirtaki-Prinzip. Doch Despina Tsaousidou, 40, bleibt
an diesem trüben Morgen im Oktober unbeirrt vor einem schmucken,
neoklassizistischen Gebäude im Athener Zentrum stehen. Mit ihr rund 2.000
Demonstranten, die skandieren: „Gestern Helden, heute suspendiert!“ Sie
halten Transparente, auf denen Parolen stehen wie „Wir sagen ‚Nein‘ zum
Zwang!“ oder „Ohne Freiheit keine Gesundheit“.
Despina Tsaousidou ist Krankenpflegerin, schon seit 18 Jahren. Seit sechs
Monaten arbeitet sie in der Notaufnahme im öffentlichen Großkrankenhaus im
südwestlichen Athener Arbeitervorort Nikäa. Normalerweise. Aber seit ein
paar Wochen darf sie das nicht mehr. Der Grund dafür: Sie ist nicht gegen
das Coronavirus geimpft.
Ihr Vorgesetzter habe sie am Arbeitsplatz aufgesucht, erzählt sie. „Er
sagte mir: ‚Despina, du wirst suspendiert, falls du dich jetzt nicht impfen
lässt.‘ Ich habe ihn sofort gefragt: ‚Erpressen Sie mich?‘ Er antwortete
mir: ‚Nein, natürlich nicht. Aber du musst dich impfen lassen, Despina.‘
Ich fragte ihn: ‚Können Sie mir garantieren, dass mir nichts passiert? Ich
bin eine alleinerziehende Mutter, habe ein Kind.‘ “
Für die Krankenpflegerin Despina Tsaousidou ist die Sache klar: Sie lässt
sich nicht impfen. „Über meinen Körper bestimme ich. Sonst niemand“, sagt
sie. „Das ist nicht verhandelbar.“ Das hat schwerwiegende Folgen für sie.
## Wer sich impfen lässt, darf sofort zurück
Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier [1][Kyriakos
Mitsotakis] geht als eines von mehreren europäischen Ländern hart gegen das
ungeimpfte Gesundheitspersonal in Griechenland vor. Sie beschloss im Juli
ein Gesetz, das die Impfung gegen das Coronavirus für die Ärzte,
Krankenpfleger, Verwaltungsangestellte sowie sonstiges Personal im
Gesundheitssektor „aus zwingenden Gründen des Schutzes der öffentlichen
Gesundheit [2][obligatorisch]“ macht. Ungeimpft dürfen sie seit dem
Stichtag 1. September nicht mehr arbeiten – obgleich sie Vollbeamte sind.
Zudem erhält das suspendierte Personal kein Gehalt mehr. Wer suspendiert
ist, kann sich nicht einmal arbeitslos melden, um in seiner Not
Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Solange die Suspendierung andauert,
zählt diese Zeit obendrein nicht für die Rente.
Wer sich impfen lässt, der darf sofort auf seinen Arbeitsplatz zurück. Nur
ein Piks reicht.
In Griechenland ist so ein Umgang einmalig. Griechischen Beamten, die vom
Dienst freigestellt werden, steht eigentlich per Gesetz die Hälfte ihrer
regulären Bezüge zu.
## Der Gesundheitsminister bleibt hart
Dennoch: Laut offiziellen Angaben beharrten per 1. September genau 6.412
Beschäftigte in Krankenhäusern und Gesundheitszentren sowie 500
Beschäftigte im Rettungsdienst EKAB darauf, sich nicht impfen zu lassen.
Das entspricht einem Anteil von etwa sechs Prozent aller Beschäftigten im
griechischen Gesundheitssektor.
Gesundheitsminister Thanos Plevris, ein strammer Rechtsaußen in der
Regierungspartei Nea Dimokratia (ND), bleibt jedenfalls hart. Er sagt: „So
wie ein Arzt in einer Krebsklinik das Recht hat, sich nicht impfen zu
lassen, so hat ein Patient das Recht darauf, sich nur von einem geimpften
Arzt behandeln zu lassen.“
Eine Kampfansage für die geschassten Gesundheitsangestellten. Fast täglich
finden in Athen, Thessaloniki, Larissa und anderswo in Griechenland
Demonstrationen statt. Wie just an jenem regnerischen Oktobertag vor
Griechenlands Oberstem Verwaltungsgericht. Gleich mehrere Anträge gegen den
Impfzwang verhandelt das Gericht, während Krankenpflegerin Despina
Tsaousidou vor dem Gebäude protestiert.
Im Regen steht auch Dimitris Efthymiadis, 58, ein suspendierter Chefarzt
vom Rettungsdienst EKAB. So hat er auf sein ohnehin nicht üppiges
Monatsgehalt in Höhe von genau 1.924,42 Euro netto zu verzichten. „Ich kann
meinen Patienten nicht mehr helfen. Wieso?“, fragt er.
## „Wir wollen keine Versuchskaninchen sein“
Zisis Delichas, 43, Nuklearmediziner von der renommierten Athener
Geburtsklinik „Alexandra“, muss fortan ohne sein Gehalt in Höhe von 1.200
Euro netto mit seiner Frau und einem Kind in der teuren Metropole Athen
über die Runden kommen. Doch auch er wolle sich dem Impfzwang nicht beugen,
beteuert er.
Die Ungeimpften im Kittel stellen klar, sie seien keine generellen
Impfgegner. Dimitris Efthymiadis, der EKAB-Chefarzt, sagt: „Wir sind
Mediziner, Wissenschaftler. Wie könnten wir gegen den wissenschaftlichen
Fortschritt sein?“
Die Corona-Impfstoffe sehen sie jedoch zumindest kritisch, erklären hier
alle. Das Argument, wonach die in der EU zugelassenen Impfstoffe seit deren
Markteinführung im Dezember 2020 bereits zigmillionenfach verabreicht und
so schon hinreichend erprobt worden seien, lassen sie so nicht gelten.
Ihr Gegenargument: Alle Corona-Impfstoffe in der EU hätten bisher nur eine
bedingte Zulassung, in der lediglich nachzuweisen sei, dass der Nutzen des
Impfstoffs die Risiken nach derzeitigem Kenntnisstand überwiege. Das reicht
den Impfunwilligen im weißen Kittel nicht. „Wir wollen keine
Versuchskaninchen sein!“, hört man von ihnen immer wieder.
## Die Krankenhäuser spüren den Wegfall der Mitarbeiter
Der Knackpunkt aus ihrer Sicht: Die Impfstoffe hätten ab der Verabreichung
nicht nur zeitnah wenigstens Verdachtsfälle von Nebenwirkungen, die in
Griechenland entweder gar nicht oder nur lückenhaft dokumentiert würden,
wie sie persönlich bestätigen könnten. Mögliche Langzeitfolgen der
Impfstoffe seien zudem noch gar nicht absehbar, da seit den ersten
Verabreichungen in der EU im Dezember 2020 noch nicht einmal ein Jahr
verstrichen sei.
In der Wissenschaft ist der Konsens aber ein anderer: „Was man bei
Impfungen unter Langzeitfolgen versteht, sind Nebenwirkungen, die zwar
innerhalb von wenigen Wochen nach der Impfung auftreten, die aber so selten
sind, dass es manchmal Jahre braucht, bis man sie mit der Impfung in
Zusammenhang gebracht hat“, sagte Carsten Watzl, Generalsekretär der
Deutschen Gesellschaft für Immunologie kürzlich der Deutschen
Presse-Agentur. Da die Covid-Impfstoffe inzwischen weltweit mehr als 6
Milliarden Mal verabreicht wurden, wisse man über seltene Nebenwirkungen
gut Bescheid.
Für die Protestierenden in Athen ist aber klar: Ob Impfung oder nicht, das
muss bei jedem Menschen einzeln abgewogen werden. Sie beteuern, sich
ständig testen lassen zu wollen, die Schutzmaßnahmen penibel einzuhalten.
So wie seit Ausbruch der Pandemie.
Auch wenn das ungeimpfte Personal eine Minderheit ist – für die
Krankenhäuser ist der Wegfall der Mitarbeiter spürbar. Das stellt Michalis
Jannakos fest, der Chefgewerkschafter für das Gesundheitspersonal an
Griechenlands öffentlichen Krankenhäusern. Jannakos ist ein erklärter
Impfbefürworter. Immer wieder betont er, er habe sich als einer der ersten
im Gesundheitssektor impfen lassen, um mit gutem Beispiel voranzugehen.
Erst kürzlich habe er sich auch die Booster-Impfung abgeholt.
## 64,8 Prozent der Griechen für die Impfpflicht
Dennoch ist er gegen den Impfzwang. Ein „akuter Personalmangel“ herrsche im
Gesundheitssektor nach dem chronischen Sparkurs, klagt Jannakos im Gespräch
mit der taz. Zehntausende Stellen seien unbesetzt. Er plädiert für
regelmäßige Tests, dazu Schutzmaßnahmen, damit das suspendierte Personal
zurückkomme.
Das sieht die Mehrheit der Griechen anders: Laut einer im Juni
veröffentlichten Umfrage des Athener Meinungsforschungsinstituts Marc
sprachen sich 64,8 Prozent der Befragten für eine Impfpflicht für bestimmte
Berufsgruppen aus, 32,6 Prozent waren dagegen.
Und wie geht es in der heiklen Sache weiter? Das entsprechende Gesetz sieht
im entscheidenden Artikel 206 auch vor, dass „dessen Anwendung bis zum 31.
Oktober 2021 überprüft“ werde. Nun steht fest: Minister Plevris rückt in
Sachen Impfpflicht für das Gesundheitspersonal nicht von seinem Kurs ab.
Er verlängere die Suspendierungen bis zum 31. Dezember, um weitere 60 Tage,
gab Plevris am Dienstag bekannt. Erst dann werde die Sache erneut geprüft.
Das suspendierte Gesundheitspersonal will sich nicht beugen: Tausende
demonstrierten wieder vor den Toren des Athener Gesundheitsministeriums.
Ihre Wut wächst.
7 Nov 2021
## LINKS
[1] /Nach-der-Parlamentswahl-in-Griechenland/!5610391
[2] /Aktuelle-Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5804058
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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