# taz.de -- Stutthof-Prozess in Hamburg: Einer der letzten NS-Prozesse | |
> Die Anklage beschuldigt Bruno D. der Beihilfe zum Mord in mindestens | |
> 5.230 Fällen. Der Staatsanwalt fordert drei Jahre Jugendhaft. | |
Bild: Versteckt sein Gesicht: der 93 Jahre alte Angeklagte Bruno D. im Landgeri… | |
HAMBURG taz | Oberstaatsanwalt Lars Mahnke spricht an diesen Montag einen | |
sehr einfachen Sachverhalt aus: „Mord verjährt nicht.“ Es ist diese | |
Tatsache, die dazu geführt hat, dass der 93-jährige Bruno D. im Saal 300 | |
des Hamburger Landgerichts vor einer Jugendstrafkammer steht. | |
Denn die Taten, die dem Rentner zur Last gelegt werden, liegen mehr als 75 | |
Jahre zurück. Vom August 1944 bis zum April 1945 hat D. [1][als SS-Wachmann | |
im Konzentrationslager Stutthof] bei Danzig Dienst getan, im Alter von | |
zunächst 17, später 18 Jahren. Diese Tatsache ist unstrittig, D. hat sie in | |
Vernehmungen und im Prozess selbst eingeräumt. Strittig ist dagegen, welche | |
Konsequenzen das vor Gericht haben soll. | |
Die Anklage wirft Bruno D. Beihilfe zum Mord in mindestens 5.230 Fällen | |
vor. Das ist wenig, kennt man die Todesbilanz von Stutthof mit seinen | |
Zehntausenden Ermordeten. Der Rentner dagegen hält sich selbst für | |
unschuldig. Er habe auf einem der Wachtürme in dem KZ nur seinen Dienst | |
geschoben, hat er im Verlauf des Prozesses gesagt. „Ich habe keine Schuld, | |
was damals passiert ist. Ich habe dazu nichts beigetragen, außer dass ich | |
Wache gestanden habe.“ Und: „Ich möchte vergessen und nicht weiter | |
aufarbeiten.“ | |
Diese Ausgangslage ist aus Verfahren gegen NS-Straftäter wohl bekannt. | |
[2][Manche Beschuldigte] haben ihre Taten rundweg geleugnet, behauptet, sie | |
seien niemals am Ort des Geschehens gewesen. Andere, wie Bruno D., haben | |
zugegeben, dabei gewesen zu sein. Aber niemals, so langjährige Beobachter | |
des Prozessgeschehens, hat ein Angeklagter die ihm zur Last gelegten | |
Verbrechen aus freien Stücken zugegeben. | |
## Brauner Hut, weiße Weste? | |
Im Saal 300 mit seinen angedeuteten korinthischen Säulen an den Wänden und | |
der stuckverzierten hohen Decke hebt der Vertreter der Anklage zu seinem | |
Pladoyer an. Er steht dazu infolge der Coronapandemie in einem Kasten aus | |
Plexiglas. Ihm gegenüber, in einem ebensolchen Kasten, sitzt der | |
Angeklagte, auf seinem Kopf einen braunen Hut. | |
Mahnkes Ausführungen ähneln bisweilen einem juristischem Proseminar, wenn | |
er herleitet, warum der ältere Herr ihm gegenüber der Beihilfe zum Mord | |
schuldig ist. Es könnte dies einer der letzten bundesdeutschen | |
Strafverfahren gegen einen NS-Täter werden, dessen scheint sich der | |
Staatsanwalt bewusst zu sein. Denn er beginnt sein Pladoyer mit einem | |
notwendigen Ausflug in die Rechtsgeschichte. | |
Mahnke erinnert daran, dass über Jahrzehnte das Verdikt des | |
Bundesgerichtshof aus der Frühzeit der Bundesrepublik Bestand hatte, das | |
den Nachweis einer ganz konkreten Tat des Beschuldigten verlangte, auch | |
wenn dieser in einem Konzentrationslager tätig gewesen war. „Verheerend“ | |
nennt Oberstaatsanwalt Mahnke die Folgen dieses Urteils, das dazu geführt | |
habe, dass viele Verfahren „zum Stillstand gekommen“ seien. Tatsächlich | |
sind deshalb die [3][allermeisten mutmaßlichen Täter niemals belangt] | |
worden. | |
Der Unwillen der bundesdeutschen Justiz, sich mit den Verbrechen der Nazis | |
zu beschäftigen war groß, ähnlich groß wie in der Gesellschaft, die von den | |
„alten Geschichten“ schon nichts mehr hören wollte, als diese noch gar | |
nicht alt waren. Mit Ausnahme weniger Großprozesse hat sich dies erst in | |
den letzten Jahren, als die letzten lebenden Täter längst Greise waren, | |
verändert. | |
## „Egal was der einzelne Wachmann tat“ | |
Und Mahnke erinnert an das [4][Verfahren gegen John Demjanjuk], der 2011 in | |
München verurteilt worden ist, obwohl man ihm keine konkrete Tat nachweisen | |
konnte. Doch der Tatort war das Vernichtungslager Sobibor, eingerichtet | |
allein zum Massenmord an den Juden. „Egal was der einzelne Wachmann tat, es | |
war immer Beihilfe zum Mord“, sagt Mahnke dazu. Er verweist auf die | |
folgenden Ermittlungen zum Tatkomplex Auschwitz, er erinnert an den Prozess | |
gegen [5][Oskar Gröning] 2015, als wieder etwas Neues geschah, nämlich dass | |
das Gericht damals in Detmold die „Wachmannschaften als Verbrecherbande“ | |
eingestuft habe. | |
Damit kehrt Mahnke zum aktuellen Prozess und dem angeklagten Bruno D. | |
zurück. Auch das KZ Stutthof sei ein Vernichtungslager gewesen, nur dass es | |
dort neben Gaskammern und Genickschussanlage auch um die „Vernichtung durch | |
Arbeit“ in einem „militärisch-industriellen Komplex“ gegangen sei. | |
Diejenigen aber, die den Betrieb dieses Lagers in Gang hielten, die | |
Mitglieder der Wachmannschaft so wie Bruno D., seien nicht anderes als | |
„eine Bande von Mördern und Verbrechern“ gewesen, die genau gewusst hätte… | |
was sie da taten. D. hätte sich aus dem KZ versetzen lassen können, ohne | |
eine Strafe befürchten zu müssen. Er hat es nicht getan. | |
Das Handeln des Angeklagten sei heimtückisch und grausam gewesen, der | |
Beschuldigte habe von seinem Wachturm aus gesehen, „wie Menschen ins | |
Krematorium geführt wurden und nicht mehr herauskamen“, er habe vom | |
Massenmord gewusst und er sei keineswegs so verblendet gewesen, diesen Mord | |
damals gutgeheißen zu haben. Bruno D. habe sich an einem „ungeheuerlichen | |
Verbrechen“ beteiligt. „ Mord verjährt nicht“, hebt der Staatsanwalt an. | |
„Das muss auch dann gelten, wenn eine Bande von Verbrechern einen staatlich | |
organisierten Massenmord veranstaltet.“ | |
Und dann beantragt Oberstaatsanwalt Lars Mahnke wegen Beihilfe zum Mord in | |
5.230 Fällen für den 93-jährigen Angeklagten eine dreijährige Jugendstrafe. | |
Drei Jahre Haft – das hört sich wenig an. Doch mehr als 75 Jahre nach dem | |
Ende der Naziverbrechen ist die Strafe von sekundärer Bedeutung. Wichtig | |
ist das Signal, das von ihr ausgeht: dass sich ein Gericht der historischen | |
Aufarbeitung der NS-Zeit annimmt, dass die deutsche Justiz sich dieser | |
Verantwortung stellt. Wer gehört hat, was die wenigen [6][Zeugen in dem | |
Hamburger Verfahren] an Leiden während ihrer Inhaftierung in Stutthof zu | |
erzählen wussten, weiß, dass diese Geschichte auch dann nicht enden wird, | |
wenn sie und die letzten Täter verstorben sind. | |
## NS-Verbrecher sterben aus | |
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diesem Plädoyer in einem Prozess wegen | |
während der Nazizeit begangenen Straftaten weitere folgen werden. Noch | |
arbeitet die Zentrale Stelle zur Ermittlung von NS-Verbrechern in | |
Ludwigsburg, noch sind knapp zwei Dutzend Verfahren bei unterschiedlichen | |
Staatsanwaltschaften in der ganzen Bundesrepublik anhängig. Doch die | |
Wahrscheinlichkeit, dass jedes einzelne Verfahren letztlich scheitert, wird | |
höher und höher. Viele der Beschuldigte gehen auf das 100. Lebensjahr zu, | |
keiner ist unter 90. Schon in den vergangenen Jahren waren Einstellungen | |
wegen Verhandlungsunfähigkeit oder wegen des Todes des Beschuldigten die | |
Regel, die drei, vier Prozesse seit 2011 die große Ausnahme. | |
Wenn also schon jetzt, noch vor dem für Ende Juli erwarteten Hamburger | |
Urteil, eine vorläufige Bilanz gezogen werden soll, dann diese: Die | |
bundesdeutsche Justiz hat gelernt. Unglücklicherweise setzte dieser | |
Lernprozess erst dann ein, als die meisten Täter längst verstorben waren. | |
Solange die Verdächtigen aber in der Nachkriegsgesellschaft in Amt und | |
Würden waren, so lange sind nur die wenigsten von ihnen zur Rechenschaft | |
gezogen worden. | |
Zehn Jahre lang, bis 1958, war die deutsche Schuld gar vollkommen unter | |
Aktenbergen und mitschuldigen Juristen praktisch begraben, bis im [7][Ulmer | |
Einsatzgruppenprozess] erstmals deutlich wurde, dass die Täter keine | |
Monster waren, sondern verdiente Mitglieder der Gesellschaft. Noch einmal | |
fünf Jahre mussten vergehen, bis im Frankfurter Auschwitzprozess der | |
breiten Öffentlichkeit klar gemacht werden konnte, was da in diesem | |
Vernichtungslager geschehen war. Und über 60 Jahre gingen ins Land, bis | |
auch diejenigen verfolgt wurden, die als „kleine Rädchen im Getriebe“ in | |
Konzentrations- und Vernichtungslagern den Massenmord erst möglich gemacht | |
haben. | |
Der Rentner Bruno D. aus Hamburg ist einer von ihnen. Nach Ende der | |
Ausführungen des Staatsanwalts nimmt er seinen braunen Hut und lässt sich | |
im Rollstuhl aus dem Saal 300 bringen. Nach Hause. | |
6 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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