# taz.de -- Verfahren gegen ehemaligen KZ-Wachmann: „Gejagt und erschossen“ | |
> Im Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Wachmann Bruno D. sagen Überlebende | |
> aus. Das Vergegenwärtigen der Greultaten fällt keinem der Zeugen leicht. | |
Bild: Verhandlung in Corona-Zeiten: Bruno D. wird am Mittwoch in den Gerichtssa… | |
HAMBURG taz | Sitzt der 93-jährige Bruno D. am 33. Verhandlungstag wieder | |
ohne sichtbare Regung im Rollstuhl vor der Anklagebank – wie bislang bei | |
allen aussagenden Ex-Häftlingen? Ob der ehemalige KZ-Wachmann auf die | |
Zeugenaussage des jüdischen Überlebenden David Ackermann reagiert, kann man | |
nicht beobachten. Wegen der Coronapandemie können Zuschauer*innen im | |
Landgericht Hamburg das Verfahren nur durch eine Audioübertragung in einem | |
anderen Saal verfolgen. Eine Etage tiefer, zum Schutz des Beklagten. Die | |
Staatsanwaltschaft wirft D. Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen im KZ | |
Stutthof zwischen August 1944 und April 1945 vor. | |
Aus Lautsprechern ist am Mittwochvormittag die Stimme von Ackermann zu | |
hören. Die Stimme des fast 90-Jährigen klingt kräftig. Aus einem Dorf bei | |
Tel Aviv ist er zugeschaltet. Es ist nicht die erste Videoschalte in diesem | |
Verfahren, um die hochbetagten Überlebenden sprechen zu lassen. | |
„Ich war nur noch ein Viertel Mensch“, sagte Ackermann. Bei seiner | |
Befreiung vor 75 Jahren wog er 25 Kilo. In den letzten Apriltagen 1945 | |
brachte die SS ihn mit weiteren 350 Menschen vom KZ Stutthof über die | |
Ostsee mit einen Binnenschiffboot an die Küste in Schleswig-Holstein. Eine | |
Todesfahrt. Durch die Enge starben Tag und Nacht Menschen. „Ich hatte | |
Glück“, berichtet Ackermann. Er und ein Freund hätten eine Art | |
Bohrmaschinenvorrichtung gefunden, in die sie und ein weiter Mithäftling | |
schlüpfen konnten und so mehr Platz hatten. | |
„Gab es Trinken und Essen?“, fragt die Vorsitzende Richterin Anne | |
Meier-Göring nach. „Nein, nichts.“ Meerwasser habe er getrunken. Kurz vor | |
der Küste wären sie beinahe gestorben und hatten wieder Glück, sagt | |
Ackermann. Mit seinem Freund habe er gerade gestanden, als ein SS-Offizier | |
Menschen, die saßen oder lagen, mit Genickschüssen hinrichtete. Sechs oder | |
sieben in seiner Nähe, „kaltblütig“, sagt Ackermann. Und erzählt weiter, | |
dass die SS auf dem Weg nach Neustadt alle hundert Meter die letzte Reihe | |
der Häftlinge ins Wasser gejagt und erschossen habe. „Sie wollten unsere | |
Zahl verringern“, sagt er. | |
## Leichen auf Haufen | |
Dieses Ziel sollte auch das KZ Stutthof erfüllen. Mit 14 Jahren war | |
Ackermann in das Lager gekommen, mit seinen Eltern und seiner Schwester. | |
Die Eltern überlebten nicht. Für ihn ist klar: Jeder Wachmann wusste was | |
geschah. „Die Wachleute“, sagte er bei einer ersten Aussage, „waren auf | |
ihren Türmen höchstens 40 oder 50 Meter entfernt. Sie konnten wie wir die | |
Leichen sehen, wie sie sich angehäuft haben, jeden Tag.“ | |
In dem Verfahren sprach Marek Dunin-Wasowicz als einer der ersten | |
Überlebenden des KZ Stutthof mit nüchternen Worten über die | |
menschenverachtenden Zustände. Auch er sagte: Jeder habe gewusst, dass sie | |
in dem Lager nahe Danzig sterben sollten. „Der Weg zur Freiheit führt durch | |
den Schornstein“, sagte Dunin-Wasowicz, der aus einer polnischen | |
Widerstandsfamilie kommt. Seit dem 17. Oktober läuft die Verhandlung, | |
Ackermann und Dunin-Wasowicz gehören zu den fünf Überlebenden der 41 | |
Nebenkläger*innen, die noch in der Lage sind auszusagen. Sie eint, nur noch | |
„Nummern gewesen zu sein“, wie sie aussagten. | |
Am 18. Verhandlungstag betonte Henri Zajdenwegier diese Entwürdigung nicht | |
bloß erneut. Der jüdische Rentner schilderte seine Angst vor den alltäglich | |
stattfindenden Misshandlungen. Die Wachmänner hätten mehr „Respekt vor den | |
Tieren“ gehabt „als vor uns“, sagte der 92-Jährige. Aus Paris war zur | |
Unterstützung ihres Freundes auch die Journalistin Beate Klarsfeld | |
angereist. Seit Jahrzehnten verfolgt sie Nazi-Verbrecher. | |
Am 17. Tag der Verhandlung berichtete Rosa Bloch ebenfalls, dass in | |
Stutthof „das Ziel war, unsere Zahl zu verkleinern“. Vor Ort habe sie die | |
Gaskammer gesehen. „Wir wusste alles“, sagte die 89-Jährige aus Israel. | |
Auch weil die Männer des Sonderkommandos, das die Leichen zu den Öfen | |
brachte, diese Information über die Zäune ins Lager riefen. „Gerade die | |
Wachleute konnten uns auf der Stelle töten, das war normal“, sagte sie aus. | |
Ihre Mutter hatte sie bei der Registrierung zwei Jahre älter gemacht, | |
sodass sie nicht gleich nach Auschwitz weiter deportiert wurde. Bloch | |
sagte: „Dem Angeklagten werde ich nie verzeihen. Ich will, dass er eine | |
Strafe bekommt.“ | |
## Erinnern ist Pflicht | |
Per Videoschaltung wurde am 16. Verhandlungstag Halina Strnad aus Melbourne | |
zugeschaltet. Die 92-Jährige schilderte Erhängungen und Selbstmorde der | |
Eingesperrten, die in den elektrischen Zaum liefen. „Wir wurden | |
Untermenschen genannt und sahen wie Untermenschen aus“, sagte sie und | |
berichtete, dass eine Frau ein fünf Monate altes Baby tot gebar. Mit einer | |
Glasscherbe trennten sie die Nabelschnur durch, die Frau starb am | |
Blutverlust. Das tote Baby versenkte Strnad in der Latrine. „Ein paar Tage | |
später schwamm der Körper des Babys oben auf. Dieses Bild habe ich in | |
meinen Albträumen jahrelang gesehen.“ | |
Das Erzählen, das Erinnern, keinem der Zeugen fiel das leicht: wieder | |
hervorzurufen, was zum Selbstschutz verdrängt, verschüttet war. Im Saal 300 | |
war nicht alleine Meier-Göring sichtlich berührt. Geschichte und | |
Geschichten wurden Menschen und Menschenleben. Strnad legte dar, warum sie | |
aussagte: „Im Lager haben wir gesagt: ,Wenn wir überleben – so fing dort | |
jeder Satz an –, müssen wir Zeugnis ablegen, bis wir sterben.' Es ist eine | |
Pflicht“. | |
Die Aussagen offenbaren, was der Angeklagte alles nicht wahrgenommen hatte, | |
nicht erinnern oder nicht sagen will. Im Juli soll ein Urteil fallen. | |
4 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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