# taz.de -- Prozess gegen KZ-Wächter: Eine SS ohne Nazis | |
> Ein SS-Wachmann, der wegen Beihilfe zu 5.230 Morden angeklagt ist, | |
> erinnert sich kaum. Überlebende haben die Grausamkeiten im KZ nicht | |
> vergessen. | |
Bild: Hat das KZ Stutthof überlebt: Abraham Koryski kam aus Israel zu dem Proz… | |
HAMBURG taz | Hut, Sonnenbrille und Aktenmappe vor dem Gesicht: An jedem | |
Prozesstag schiebt ein Justizbeamter Bruno D. mit diesem Schutz vor den | |
Fotografen in einem Rollstuhl in den Saal des Hamburger Landgerichts. Der | |
Rentner, ein Mann mit vollem grauen Haar und Schnauzer, möchte in der | |
Öffentlichkeit nicht erkannt werden. Als ehemaliger SS-Wachmann ist D. | |
angeklagt, im Konzentrationslager (KZ) Stutthof östlich von Danzig | |
[1][Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen] geleistet zu haben. | |
Elf nicht öffentliche Verhandlungstage gab es bisher. Die Jugendstrafkammer | |
verhandelt, da der heute 93-Jährige damals ein Jugendlicher war. Mit fester | |
Stimme betont er im Prozess mehrfach, dass er „nicht schuldig“ sei. Vom | |
„Herzen aus“ wäre er auch kein „SS-Mann gewesen“ – seine Kameraden e… | |
nicht. | |
Eigentlich sollte das Urteil bereits am 18. Dezember fallen. Der Prozess | |
zieht sich aber hin, denn der Angeklagte ist nur eingeschränkt | |
verhandlungsfähig. Pro Woche finden höchstens zwei Verhandlungstage statt, | |
die auf zwei Stunden mit längerer Pause beschränkt sind. | |
Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring befragt Bruno D. äußerst | |
geduldig. Der frühere SS-Mann, dessen Tochter zur Unterstützung neben ihm | |
auf der Anklagebank sitzt, redet auch, will aber viel vergessen oder gar | |
nicht wahrgenommen haben. Von August 1944 bis April 1945, so sagt er es | |
selbst, war er in dem KZ eingesetzt. Er hat auf einem Wachturm gleich neben | |
dem Krematorium Wache gehalten. Einen Posten, über den sich andere | |
SS-Wachmänner wegen des Geruchs der verbrannten Leichen beschwerten. | |
## Der Beschuldigte sah die nackten Frauen | |
Der Beschuldigte sah die nackten Frauen und hörte die Schreie aus der | |
Gaskammer. „Sie taten mir furchtbar leid“, sagt D. im Prozess. Er beruft | |
sich allerdings auf den vermeintlichen Befehlsnotstand. | |
Doch Richterin Meier-Göring fragt weiter nach: „Wie fanden Sie es, SS-Mann | |
zu sein? Fanden Sie das nicht auch schick?“ D. lacht. Er sei einfach | |
gezogen worden. Und: „Nee. Ich fand die Uniform nicht schick“. „Das hat | |
Ihnen nichts bedeutet?“ fragt Meier-Döring weiter. „Nein“, antwortet er. | |
An anderer Stelle verrät D. jedoch, er habe sich mit seinen Wachkameraden | |
verstanden: „Ich glaube nicht, dass da echte Nazis dabei waren, da war | |
keiner, der dafür in Verdacht kam.“ Sein Argument: Dann hätten sich die | |
Männer in der Wachkompanie doch früher selbst der SS angeschlossen. | |
Das im August 1944 bis Anfang 1945 etwa 44.000 Gefangene ins KZ Stutthof | |
kamen, will D. nicht bemerkt haben. „Ich kann das nicht glauben“, sagte | |
Meier-Göring. „Entweder Sie lügen uns an oder es sind Bilder, die so | |
schrecklich waren, dass Sie sie verdrängt haben.“ | |
Oder sei etwas anderes passiert, dass er verschweigen wolle? Ob sein Gewehr | |
womöglich doch zum Einsatz gekommen sei, fragt die Richterin. D. verneint | |
nun nicht mehr ganz so ruhig und scheint genervt. Er hätte das nicht „okay“ | |
gefunden. Aber: „Ich konnte das Leid nicht mindern.“ | |
Von diesem Leid berichten in dem Verfahren viele Zeug*innen. 33 Überlebende | |
und Angehörige von Opfern sind Nebenkläger*innen. Ihre Aussagen hört sich | |
D., meist mit Kopfhörern, um besser hören zu können, ohne sichtbare Regung | |
an. Im Saal 300 des Landgerichts schildert unter anderem Abraham Koryski | |
schwerste Misshandlungen durch die Wachen. | |
„Wir wurden ständig verprügelt, die ganze Zeit, auch während der Arbeit“, | |
berichtet der 91-Jährige. Mehrfach habe er sadistische „Shows“ der SS | |
erleben müssen. Ein SS-Offizier habe einen Vater und dessen Sohn vor allen | |
Inhaftierten dazu aufgefordert, sich zu entscheiden: Entweder er erschieße | |
einen von beiden oder einer prügele den anderen tot. Der Vater entschied, | |
dass der Sohn ihn erschlagen solle. „Er tat es“, sagt Koryski. „Danach | |
wurde der Sohn erschossen.“ | |
Die Menschen mussten nachts nackt bei Minustemperaturen duschen und zurück | |
zu den Baracken laufen. „Viele starben nach solchen Aktionen“, berichtet | |
Koryski, der die Leichen aufsammelte und zum Krematorium brachte. | |
Mehrere Stunden konnten die „Lager-Appelle“ laufen. Mütze auf, Mütze | |
runter, hieß es immer wieder. „Reiner Sadismus“ sagt Koryski, der heute mit | |
seiner Familie in Israel lebt. Auf dem Acker, auf dem Appelle stattgefunden | |
hätten, habe es keine Wachtürme gegeben. Doch bei vielen anderen Taten, so | |
der Überlebende, seien die Wachmannschaften überall dabei gewesen. | |
## „Niemandem etwas getan“ | |
Der Angeklagte D. hatte auf Nachfrage der Richterin ausgesagt, von | |
Appellen, Hinrichtungen, Toten im Zaun oder Menschen, die von Hunden | |
zerrissen wurden, nichts mitbekommen zu haben. Er habe „niemandem etwas | |
getan“, beteuerte er. | |
Koryski sagte aus, dass die Wachleute nicht bloß auf den Türmen gestanden | |
hätten. „Man hat nie Gesichter gesehen, man wollte keine Gesichter sehen. | |
Wir hatten Angst.“ | |
Zwischen seinen Sätzen wird es im Saal ganz still. Die Schilderungen | |
Koryskis hallen bei den zugelassenen Journalist*innen, | |
Nebenklageanwält*innen, Betroffenen und Historiker*innen, nach. | |
Als Richterin Meier-Göring den Überlebenden Koryski fragt, warum er | |
aussagen wollte, beginnt dieser zu weinen: „Ich hatte Angst vor dieser | |
Frage“, sagt er. Es sei nicht einfach. Er wolle nicht aus Rache berichten, | |
er wolle beschuldigen und nicht verzeihen. Seine persönliche Rache sei | |
seine Familie, seine Angehörigen, die im Saal seien. | |
## Koryski will nicht verzeihen | |
Dass Koryski betont, dass er nicht verzeihen wolle, könnte der früheren | |
Aussage von Moshe Peter Loth am siebten Verhandlungstag geschuldet sein. | |
Der 76-Jährige hatte betont, nicht bloß dem Beschuldigten nichts | |
nachzutragen. Ganz nüchtern hatte er D. gefragt, wie er sich „heute fühle? | |
Bedauern Sie etwas?“ „Ja, natürlich“ sagte D. und wiederholte „keine | |
Möglichkeit gehabt zu haben, etwas gegen das Leid“ zu tun. | |
Moshe Peter Loth bat D. daraufhin, ihm in die Augen zu sehen. „Würden Sie | |
mir vergeben? Für den Hass und die Wut, die ich zeitweise auf die Deutschen | |
hatte?“, fragte er. Und der Beschuldigte antwortete: „Sicher, ich habe | |
keinen Hass.“ Loth stand vom Zeug*innenplatz auf und sagte zu den | |
Zuschauer*innen: | |
„Passen Sie alle auf! Ich werde ihm vergeben.“ Dann umarmten sich die | |
beiden Männer fest. Loth wurde 1943 im KZ Stutthof geboren. Er und seine | |
Mutter überlebten, verloren sich jedoch. Erst in der 1950er-Jahren fand | |
Loth, der in den USA lebt, seine Mutter wieder. | |
Kurz vor ihrem 95. Geburtstag besucht auch die Überlebende Esther Bejarano | |
den Prozess. In Auschwitz gehörte sie zum sogenannten Mädchenchor. Sie | |
spielte Akkordeon und entging deswegen den Gaskammern. Als Besucherin ist | |
die Musikerin, die auch mit den Rappern der „Microphon Mafia“ unermüdlich | |
gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus singt, ins Landgericht gekommen. | |
## Bejerano spricht von einer Farce | |
„Ich war zum ersten und letzten Mal hier“, sagt Bejarano nach dem | |
Verhandlungstag. Sie könne es nicht ertragen, dass ein Mensch, der im KZ | |
dabei war, behaupte, er habe nichts gesehen. „Wer dabei war, hat alles | |
gewusst und damit ist er meiner Meinung nach auch schuldig.“ | |
Es sei eine „Farce“, über die Rolle des Beschuldigten so aufwendig zu | |
verhandeln, so Bejarano: „Ich erwarte, dass dieser Mann verurteilt wird.“ | |
Auch wegen der anhaltenden rechten Entwicklungen müsste das Verfahren | |
weitergeführt werden, selbst wenn der Angeklagte wegen seines Alters nicht | |
mehr ins Gefängnis müsse. | |
Am 26. Februar könnte das Urteil fallen. Zuvor sind zehn weitere | |
Verhandlungstage geplant. | |
27 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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