| # taz.de -- Prozess gegen ehemaligen KZ-Wachmann: Die letzten Zeugen | |
| > Der Prozess gegen den ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof geht über eine | |
| > individuelle Aufarbeitung hinaus. Er wird auch zu einer symbolischen. | |
| Bild: Der 93-Jährige Angeklagte und sein Anwalt (links) sitzen im Landgericht … | |
| Ich sitze vor Gericht und denke an die Lücke. Wachmann Bruno D., 93 Jahre | |
| alt, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen im | |
| Konzentrationslager Stutthof, erzählt von seinen Erinnerungen. Er ist als | |
| Täter angeklagt – und gleichzeitig ein Zeuge. | |
| Zeuge einer Zeit, die jetzt zur Lücke wird. So benennt Jan Assmann in „Das | |
| kulturelle Gedächtnis“ die Zeit, in der eine Generation von Zeitzeugen | |
| stirbt, die persönlich von einem Ereignis erzählen kann. Wir befinden uns | |
| gerade in diesem Stadium der Lücke. Die letzten Zeitzeugen des Krieges und | |
| des Holocausts sterben, die Opfer und die Täter. | |
| Die Lücke ist eine sensible Zeit, weil wir nicht mehr unmittelbar durch | |
| Menschen von Vergangenem berührt werden. Ich spüre Angst, dass sich dadurch | |
| eher etwas wiederholt, was bereits geschah. Das Handeln von Bruno D. und | |
| der Umgang in diesem Prozess damit steht somit auch für einen Umgang mit | |
| dieser Zeit. Daher geht der Prozess über eine individuelle Aufarbeitung | |
| hinaus, er wird auch zu einer symbolischen. | |
| Im Landgericht Hamburg wird deutlich: Erinnerung ist ein komplexer Prozess. | |
| Im Fall von Bruno D. ist es im doppelten Sinn ein Erinnerungs-Prozess. Zum | |
| einen gilt es, einem therapeutischen Prozess gleich, seine möglichen | |
| Verdrängungen aufzudecken, das Vergessen, seinen etwaigen Widerstand, das | |
| Vergangene hervorzuholen. Und zugleich wird mit diesem Erinnern auch seine | |
| Schuld oder Unschuld festgestellt. Was hat Bruno D. gesehen? Wusste er von | |
| den Morden? Machte er sich schuldig? | |
| Ich schaue auf die Richterin, die etwa fünf Meter schräg von dem | |
| Angeklagten entfernt sitzt, vom Pult oben zu ihm hinunter schaut. Ihn | |
| fragt, was er fühlte, was er dachte, was er roch. Und ich frage mich, ob es | |
| so in diesem Raum gelingen kann, verborgene Erinnerungen von vor 76 Jahren | |
| hervorzuholen. „Welche Bilder haben Sie denn im Kopf“, fragt die Richterin. | |
| „Was sind Erinnerungen, die Sie berichten wollen?“ „Ich habe angefangen zu | |
| verdrängen. Aber die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf“, sagt Bruno D. | |
| „Ich habe viele Leichen gesehen.“ | |
| Bruno D. kann sich sehr genau erinnern, wie er den Wehrdienst umgangen | |
| hatte, wie er gemustert wurde. Die Erinnerungen an das Konzentrationslager | |
| sind jedoch weitgehend verschwommen. Bruno D. stand auf einem Turm. Um ihn | |
| gab es eine Gaskammer, ein Krematorium, Öfen, eine Genickschussanlage, | |
| einen Galgen, einen Scheiterhaufen. „Das ist oft so“, flüstert eine | |
| Prozessbesucherin neben mir. „Die Täter können sich an vieles andere | |
| erinnern, aber nicht an das KZ.“ | |
| Bruno D. sagt, dass er froh war, dass er die Bilder verdrängen konnte, | |
| bevor dieses Verfahren begann. Die Grausamkeiten würden nun erneut | |
| wachgerüttelt werden. „So habe ich mir mein Alter nicht vorgestellt“, sagt | |
| er. | |
| „Haben Sie auch gehört, dass Menschen deportiert wurden?“, fragt die | |
| Richterin. Dass es für die Angehörigen und Opfer wichtig sei, dass die | |
| Vergangenheit nicht vergessen werde. „Können Sie das verstehen?“, fragt | |
| sie. „Es ist schon so viel darüber gesprochen und verhandelt worden“, sagt | |
| Bruno D. | |
| Der Anwalt der Nebenklage verliest zu Beginn einen Antrag, das Gericht | |
| müsse sich ein besseres Bild machen vom Lager als mit den Bildern der | |
| Powerpoint-Präsentation, die am Prozesstag zuvor gezeigt wurde. Ein Antrag | |
| auf eine Begehung in Stutthof wird gestellt. Die Erinnerung soll vor Ort | |
| für das Gericht erfahrbarer werden. | |
| Es ist komplex, aus der Gegenwart über die Vergangenheit zu urteilen. Sich | |
| eine Meinung über einen 17-Jährigen zu bilden, der sich 76 Jahre später | |
| erinnern soll. | |
| Manche fragen, was es bringe, einen 93-Jährigen vor Gericht zu stellen. So | |
| wichtig es ist, dass dieses Verfahren nicht symbolisch aufgeladen wird, ist | |
| es notwendig, dass es stattfindet. Es ist bedeutsam, dass der Angeklagte, | |
| so sehr er verdrängt hat und es ihn schmerzt, von seinen Erinnerungen | |
| berichtet. Dass das Geschehene sortiert und aufgearbeitet wird. Denn jedes | |
| einzelne Handeln dieser Zeit ist wichtig und nicht weniger relevant, nur | |
| weil die Zeit vergeht. | |
| 1 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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