Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Prozess gegen KZ-Wachmann beginnt: Beihilfe zum Mord in 5.230 Fäll…
> 75 Jahre nach seinen Taten macht das Hamburger Landgericht einem
> Ex-SS-Wachmann den Prozess. Bruno D. steht ab Donnerstag vor Gericht.
Bild: Arbeitsplatz von Bruno D.: einer der Wachtürme des ehemaligen KZ Stuttho…
Berlin/Stutthof taz | Die Angelegenheit begann mit einem braunen Stück
Papier. Darin ist von einem SS-Mann die Rede, der den Empfang einer neuen
Uniform zu bestätigen hatte. Ermittler der Zentralen Stelle zu Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatten das Dokument aus
dem KZ Stutthof bei der Suche nach unerkannten NS-Tätern entdeckt. Die
meisten Einträge in dem Formular sind leer. Doch unter „Namen“ steht da ein
gewisser Bruno D.
Die Ludwigsburger Ermittler fanden heraus, dass ein Mann gleichen Namens
als Rentner in Hamburg lebt. Sie stellten sein Geburtsdatum fest. Am 4.
Juli 2016 sandten sie die Ergebnisse ihrer Vorermittlungen am die Hamburger
Staatsanwaltschaft.
Noch im August erließ die zuständige Hamburger Ermittlungsrichterin einen
Durchsuchungsbeschluss von D.s Wohnhaus. Bei der Durchsuchung im September
2016 räumte D. ein, vom Sommer 1944 bis zum April 1945 als SS-Wachmann in
Stutthof tätig gewesen zu sein.
Schließlich fand sich der Stabsbefehl vom Kommandeur des KZ, in dem D. mit
Wirkung vom 3. August 1944 zum 1. SS-Totenkopfsturmbann in Stutthof
versetzt worden war. Weil der Beschuldigte zwischenzeitlich erkrankte,
erfolgten weitere Vernehmungen erst 2018.
## Das Teilgeständnis des Beschuldigten
Der Verdächtige äußerte sich dabei ausführlich zu seiner Zeit als
[1][SS-Wachmann], wie aus den entsprechenden Vernehmungsprotokollen
hervorgeht, die der taz vorliegen. Er habe von seinem Wachturm aus viele
Leichen gesehen und beobachtet, wie diese im Krematorium eingeäschert
wurden. D. gab auch an, aus Berichten von Kameraden erfahren zu haben, dass
Frauen im KZ vergast wurden. Er selbst habe aber niemanden umgebracht.
Am Donnerstag beginnt vor dem Hamburger Landgericht der Prozess gegen den
mittlerweile 93 Jahre alten Rentner Bruno D. Die Anklage lautet auf
Beihilfe zum Mord in mindestens 5.230 Fällen. Die Verhandlung findet vor
einer Jugendstrafkammer statt, weil D. zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit in
Stutthof nicht volljährig war.
## Das KZ, die Türme, der Zaun
Die polnische Gedenkstätte des ehemaligen [2][Konzentrationslagers
Stutthof], in dem mindestens 65.000 Menschen ermordet wurden, befindet sich
rund 40 Kilometer östlich von Danzig. Der Weg führt von der Straße über die
Gleise einer Schmalspurbahn, auf der im Sommer Touristenzüge verkehren, am
früheren Wohnhaus des Kommandanten vorbei zum Eingangsposten, hinter dem
sich die Kommandantur befand – ein stattliches Gebäude, das heute das
Archiv beherbergt, auch der „Bekleidungsnachweis“ von Bruno D. findet sich
hier.
Hinter diesem Komplex erstrecken sich, abgegrenzt von einem
Stacheldrahtzaum, die ehemaligen Baracken des „Lagers I“: primitive
eingeschossigen Holzbauten, darin dreistöckige hölzerne Pritschen eng
beieinanderstehend, ohne Waschgelegenheit, ohne vernünftige Heizung, ohne
auch einen Funken Privatheit. Im Juni 1944 mussten in diesen Baracken etwa
37.600 Gefangene vegetieren. Danach wurden es immer mehr.
Direkt angrenzend an den Stacheldrahtzaun stehen in regelmäßigen Abständen
hölzerne Wachtürme. Eine Außentreppe mit Geländer führt hinauf in die
oberste Etage, dessen Aufenthaltsraum nach allen Seiten hin mit großen
Fenstern verglast ist.
## Der Todesblock
Auf einem dieser Türme stand, eigener Aussage zufolge, auch der SS-Schütze
Bruno D., der im Sommer 1944 18 Jahre alt wurde. Er war mit einem Karabiner
ausgestattet, um Flüchtende sofort niederschießen zu können. Seine
Dienstzeit betrug sieben Tage in der Woche und mindestens zehn Stunden
täglich, tags und nachts.
75 Jahre später wirft die 79-seitige Anklageschrift D. vor, den Massenmord
in Stutthof durch seine Tätigkeit als SS-Wachmann unterstützt zu haben und
dabei detaillierte Kenntnisse über diese Morde besessen zu haben. Die
Anklage geht davon aus, dass während seiner Dienstzeit 1944/45 mindestens
5.230 Menschen ermordet worden sind.
Tatsächlich verwandelte sich Stutthof im Herbst 1944 von einem
Konzentrations- zu einem Vernichtungslager. Schon zuvor waren inhaftierte
Menschen an den furchtbaren Haftbedingungen, der schweren Zwangsarbeit und
dem Fehlen hygienischer Mindeststandards zu Tausenden gestorben. Viele
wurden von der SS erschossen.
Doch im Sommer 1944 erhielt Lagerkommandant Paul Werner Hoppe die
Nachricht, dass Stuttof Teil der „Endlösung der Judenfrage“ werden würde,
der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Juni, da hatte
Bruno D. seinen Dienst als Wachmann noch nicht angetreten, brachten zwei
SS-Männer 50 Kilogramm des Giftgases Zyklon B nach Stutthof. Im Juli
erreichte ein Zug mit 2.502 ungarischen Jüdinnen das KZ. Das war erst der
Anfang von vielen Transporten. Zur selben Zeit wurde das Gelände um ein
Lager für Jüdinnen erweitert, deren Insassen von den anderen Gefangenen
strikt isoliert blieben.
Dort waren die Lebensbedingungen noch furchtbarer als im Rest des KZs, die
Baracken hoffnungslos überfüllt, vier Frauen mussten auf nur einer schmalen
Pritsche schlafen. Der Boden war von Exkrementen und Erbrochenem
verunreinigt. Die tägliche Essensration betrug etwa 170 Gramm Brot, nur am
Wochenende ergänzt durch winzige Portionen Marmelade.
Eine medizinische Versorgung gab es nicht. Im Todesblock des „Judenlagers“
ließ man die Frauen sterben, ohne ihnen auch nur einen Schluck Wasser zu
verabreichen. Es war das, was die Staatsanwälte in den jüngsten
NS-VerfahrenTötung durch Herbeiführung lebensfeindlicher Bedingungen
nennen.
Bruno D. erinnerte sich in seinen Vernehmungen an den Beginn der
Fleckfieberepedemie im Herbst 1944, die bis zur Auflösung des KZ anhielt
und der Tausende zum Opfer fielen. Er bekannte gesehen zu haben, wie Tote
zu Dutzenden in das Krematorium und auf einen Scheiterhaufen gebracht
wurden. Im ganzen Lager habe man die Verbrennungen riechen können.
## Die Vergasungen
Er gab auch an, über die Vergasungen informiert gewesen zu sein. Diese
hatten spätestens im Herbst 1944 in einer Kammer begonnen. Weil es, anders
als in Auschwitz, in Stutthof keine Selektion der Opfer beim Eintritt gab,
sprach sich unter den Gefangenen diese Mordmethode herum. Deshalb verlegte
die SS die Morde bald in einen Eisenbahnwaggon. Ein Güterwagen der
Schmalspurbahn wurde in die Nähe des Krematoriums rangiert und komplett
abgedichtet. Den Gefangenen wurde erzählt, sie gingen auf Transport – zwei
SS-Männer verkleideten sich dazu mit Reichsbahnuniformen – und die Opfer
wurden so in den Wagen gelockt. Ein SS-Mann warf das Zyklon B in eine der
Dachluken.
Weil die Temperaturen in dem Güterwaggon niedriger waren als in der
Gaskammer, dauerte es noch länger, bis alle Opfer tot waren.
Bruno D. meinte in den Vernehmungen, er habe damals aus der Ferne die
Schreie der Menschen gehört. Er habe wohl auch einmal gesehen, wie ein Mann
auf dem Dach herumgelaufen sei.
## Die Genickschussanlage
Undeutliche Erinnerungen äußerte D. zu der Genickschussanlage, die im
Krematorium installiert worden war. Dort wurden Gefangene von als
Sanitätern getarnten SS-Männern in weißen Kitteln in einen Raum geführt, wo
man angeblich ihre Größe vermessen wollte. Tatsächlich erfolgte dort durch
einen verborgenen Schlitz in einer Wand ein Schuss in den Hinterkopf. D.
erinnerte sich an weiß gekleidete Sanitäter oder Ärzte und Gefangene, die
von diesen ins Krematorium gebracht worden seien. Die Anklage bewertet die
Aussage als Beweis dafür, dass er auch über diese Mordmaschine informiert
war.
SS-Schütze Bruno D. ist nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe des
Massenmords gewesen. Die meisten Großen hat man in den 1950er und 1960er
Jahren laufen lassen. Doch Entschuldigungen vom Befehlsnotstand, der dazu
geführt habe, dass man mitmachen musste, weil sonst die eigene Einweisung
ins KZ gedroht hatte, werden von der bundesdeutschen Justiz heute, anders
als früher, nicht mehr akzeptiert. Tatsächlich ist kein einziger Fall
bekannt, bei dem ein SS-Mann, der sich aus einen KZ versetzen ließ, deshalb
von den Nazis inhaftiert worden wäre.
D. hätte sich versetzen lassen können. Er hat angegeben, dies nicht
beantragt zu haben.
Und, auch anders als früher, verlangt die Justiz heute für eine
Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht länger einen Nachweis für eine
individuelle Tat. Für eine Verurteilung kann es genügen, wenn der
Angeklagte in einem KZ oder Vernichtungslager durch seine Arbeit dafür
gesorgt hat, dass die Mordmaschine in Gang blieb.
D. hat das Glück, so lange leben zu dürfen. Er hat deshalb das Pech, dass
ihm der Prozess gemacht wird.
## Das Leben nach dem Krieg
Der gelernte Bäcker Bruno D. war 1945 vor der heranrückenden Roten Armee
mit einem Schiff nach Schleswig-Holstein evakuiert worden. Er kam in
Kriegsgefangenschaft, erst bei den Amerikanern, dann bei den Briten. D.
arbeitete in der Landwirtschaft und in einer Bäckerei, heiratete, bekam
zwei Kinder, fing bei einer Bank an und verzog Ende der 1950er Jahre nach
Hamburg, wo er später ein Haus für seine Familie baute. Ein typisches
deutsches Nachkriegsschicksal. Seit 1988 ist er in Rente.
Der Anwalt des Angeklagten, Stefan Waterkamp, hat angekündigt, dass sein
Mandant auch in der Hauptverhandlungen zu Aussagen bereit ist. Aufgrund
seines angegriffenen Gesundheitszustands ist die Verhandlungszeit auf
maximal zwei Stunden am Tag begrenzt. Bisher sind elf Verhandlungstage bis
Mitte Dezember angesetzt. Als Nebenkläger treten 28 Personen auf, teilweise
Überlebende des KZ Stutthof.
Bruno D. ist 93 Jahre alt. Teilgeständnisse, wie die des Angeklagten, sind
in NS-Prozessen eine höchst seltene Ausnahme. Die Regel ist, nur das
zuzugeben, was der Ankläger auch beweisen kann. Sollte das Gericht D.
verurteilen, dürfte sein Teilgeständnis im Strafmaß positiv berücksichtigt
werden.
16 Oct 2019
## LINKS
[1] /Prozess-gegen-mutmasslichen-NS-Taeter/!5590159
[2] /Prozesse-gegen-mutmassliche-KZ-Aufseher/!5556099
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
KZ Stutthof
Justiz
Holocaust
Lesestück Recherche und Reportage
Shoa
Kolumne Zwischen Menschen
KZ Stutthof
KZ Stutthof
St. Louis
KZ Stutthof
Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Verbrechen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pogromgedenken in Israel: Es geht um das Leben!
Juden mit deutschen Wurzeln heißen in Israel Jeckes. Im November trauern
sie um die Toten der Pogromnacht und feiern Lebenswillen und Tradition.
Prozess gegen ehemaligen KZ-Wachmann: Die letzten Zeugen
Der Prozess gegen den ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof geht über eine
individuelle Aufarbeitung hinaus. Er wird auch zu einer symbolischen.
Prozess gegen KZ-Wachmann Bruno D.: Ein Opfer erinnert sich
Der Überlebende Marek Dunin-Wasowicz berichtet im Prozess gegen den
KZ-Wachmann Bruno D. von den Grausamkeiten im KZ Stutthof.
Prozess gegen KZ-Wachmann: Angeklagter sagt aus
Der Angeklagte im Prozess um Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen
rechtfertigte sich am dritten Prozesstag. Er sei nicht freiwillig Wachmann
geworden.
Doku-Drama über NS-Flüchtlinge: Rekonstruktion einer Irrfahrt
Im Mai 1939 brach die „MS St. Louis“ mit 937 jüdischen Passagieren nach
Kuba auf. Die Odyssee und ihr Held waren in Deutschland lange fast
vergessen.
Prozess gegen mutmaßliche NS-Täter: Die Quadratur der Greise
Mutmaßliche NS-Verbrecher werden immer häufiger als verhandlungsunfähig
eingestuft. Jetzt ist der Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wächter
geplatzt.
Prozessauftakt gegen 94-jährigen Nazi: Der vergessliche KZ-Wächter
Der Angeklagte Johann R. will von den Nazi-Verbrechen im KZ Stutthof nichts
mitbekommen haben. Dabei war der SS-Mann dort selbst Wachmann.
Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord: Fünf KZ-Wachmänner beschuldigt
Die Männer sind heute 92 bis 96 Jahre alt. Ihr Dienst soll es möglich
gemacht haben, dass in Buchenwald systematisch gemordet wurde.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.