# taz.de -- Prozess gegen mutmaßliche NS-Täter: Die Quadratur der Greise | |
> Mutmaßliche NS-Verbrecher werden immer häufiger als verhandlungsunfähig | |
> eingestuft. Jetzt ist der Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wächter | |
> geplatzt. | |
Bild: Geht am Stock: Ob der angeklagte Johann R. Blut an den Händen hat, wird … | |
STUTTHOFF/MÜNSTER/BERLIN taz | Dr. Johann R. wird sich aller Voraussicht | |
nach vor keinem irdischen Gericht verantworten müssen. Das Landgericht | |
Münster gab am Montag bekannt, dass es beabsichtigt, das Verfahren | |
einzustellen. Ein medizinisches Gutachten käme zu dem Schluss, dass R. | |
„nicht mehr in der Lage ist, einem Strafprozess in angemessenem Maße zu | |
folgen“, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts. | |
Der 95-Jährige ist schwer herzkrank. Eine endgültige Entscheidung will das | |
Landgericht Mitte März fällen, nach dem alle Prozessbeteiligten Gelegenheit | |
zur Stellungsnahme erhalten haben. | |
Damit ist erstmal seit vielen Jahren ein Prozess gegen einen Beschuldigten | |
geplatzt, dem Verbrechen während der NS-Zeit zur Last gelegt worden waren. | |
Doch noch viel häufiger kommt es gar nicht erst zu einer Anklageerhebung, | |
weil die hoch betagten mutmaßlichen Täter als verhandlungsunfähig gelten | |
oder im Lauf der Ermittlungen sterben. Und das Tempo der Ermittlungen lässt | |
bisweilen arg zu wünschen übrig. | |
Eher selten legen die Ermittler eine Geschwindigkeit wie bei dem | |
Stutthof-Wachmann Johann R. vor. In Münster vergingen von der Anklage bis | |
zum Prozessbeginn im November 2018 trotzdem 12 Monate. | |
## Gaskammer? Welche Gaskammer? | |
Die Anklage hatte R. beschuldigt, er habe als junger Mann im | |
Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als SS-Wachmann Beihilfe zu mehr | |
als hundertfachem Mord begangen. R., das hat er in einer von seinem Anwalt | |
verlesenen Erklärung vor Gericht selbst eingestanden, tat Dienst am Eingang | |
des KZ wie auf den hölzernen Wachtürmen, von denen sich das Gelände gut | |
überblicken ließ. | |
Einer der Türme stand nahe am Krematorium, wo die Leichen der Häftlinge | |
verbrannt wurden und es furchtbar gestunken habe. Doch R. ließ auch | |
mitteilen: „Von systematischen Tötungen habe ich damals nichts mitbekommen. | |
Auch die Existenz einer Gaskammer war mir nicht bewusst.“ | |
Das KZ östlich von Danzig ist heute eine Gedenkstätte. Einige der aus | |
grobem Holz gebauten Schlafbaracken stehen dort in einer flachen | |
Landschaft, mit dreifach übereinander angeordneten Schlafkojen. | |
Stacheldraht umgibt das ehemalige Lager. Einige der Wachttürme haben sich | |
erhalten. Von dort aus ist der Blick ins Innere der Mordstätte nahezu | |
perfekt. | |
Der Personalbogen von Johann R. aus Stutthof hat sich erhalten und wird | |
heute im Archiv der Gedenkstätte verwahrt. „Versetzt am 7.6.1942“ in das | |
„K.L. Stutthof“ ist dort zu lesen, und in der nächsten Zeile „versetzt am | |
1.9.1944“ zum „SS-Kampfmarschverband Kurmark in Lieberitz“. Auf einem Foto | |
macht R. in SS-Uniform und kurzen dunklen Haaren einen fast noch kindlichen | |
Eindruck. Er war bei seiner Versetzung in das KZ 18 Jahre alt. | |
## Wie Schnee im August | |
Bis zum Kriegsende starben in Stutthof vermutlich etwa 27.000 Menschen. Sie | |
wurden mit Genickschüssen getötet und ab 1944 in einer Gaskammer getötet. | |
Sie verreckten infolge von Mangel- und Unterernährung, erfroren in ihren | |
hölzernen Baracken oder bei Außeneinsätzen, starben bei Epidemien oder | |
durch simple Erkältungen, weil eine medizinische Versorgung kaum vorhanden | |
war. | |
Die Schuld oder Unschuld von R. wird sich juristisch wohl nicht mehr klären | |
lassen. Doch geständige Nazi-Täter sind in deutschen Strafverfahren etwa so | |
selten wie Schnee im August. | |
Mord verjährt nicht. Deshalb ermittelt die Zentrale Stelle zur Aufklärung | |
nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg | |
auch 74 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft weiter gegen mutmaßlich | |
Tatbeteiligte. | |
Doch es scheint, als gingen der Behörde langsam die Täter aus. Die Frauen | |
und Männer, die heute noch am Leben sind, stehen in ihrem zehnten | |
Lebensjahrzehnt. „Keiner unserer Beschuldigten ist jünger als 92 Jahre“, | |
sagte der Leiter der Zentralen Stelle Jens Rommel der taz. Der derzeit | |
Älteste sei 99. | |
## Atteste am Laufband | |
Mit dem hohen Alter verbunden sind häufig Krankheiten und eine | |
eingeschränkte Wahrnehmung, die, so wie bei Johann R., in eine | |
Verhandlungsunfähigkeit münden. Wer seinem eigenen Prozess aus | |
gesundheitlichen Gründen nicht mehr folgen kann, der darf nicht vor Gericht | |
stehen und geht straffrei aus. | |
In den 1960er Jahren war die attestierte Verhandlungsunfähigkeit ein | |
beliebtes Mittel von SS-Tätern, sich ihrer Bestrafung zu entziehen. | |
Mediziner produzierten entsprechende Gutachten, die Gerichte agierten | |
langmütig. So mancher vermeintlich Schwerstkranke konnte sich nach der | |
Einstellung seines Verfahren noch Jahrzehnte lang seines Lebens erfreuen. | |
Solche bestellten Gutachten sind heute nicht mehr denkbar. | |
Die Zentrale Stelle hat in jüngster Zeit einige Erfolge bei der Ermittlung | |
mutmaßlicher NS-Verbrecher erzielt. Die Behörde übernimmt die | |
Vorermittlungen, die weitere Strafverfolgung ist Angelegenheit örtlicher | |
Staatsanwaltschaften und, sollte Anklage erhoben werden, der Gerichte. Doch | |
bisweilen sind die Verfahrenseinstellungen offenbar Ergebnis des | |
Schneckentempos, mit denen diese Ermittlungen vorangetrieben werden. | |
Beispiel KZ Buchenwald. Die Staatsanwaltschaft Erfurt übernahm im Jahr 2017 | |
insgesamt zehn Verfahren von der Zentralen Stelle. Vier der ehemaligen | |
Aufseher sind inzwischen verstorben, die anderen sechs wurden bisher noch | |
nicht einmal vernommen. „Die Vernehmungen stehen bevor“, erklärte dazu | |
Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen der taz. | |
## Zu langsam, zu spät | |
Majdanek: Geschlagene 14 Monate benötigte das Landgericht Frankfurt am | |
Main, um Ende Dezember die Verhandlungsunfähigkeit eines heute 97-Jährigen | |
Angeklagten festzustellen, der als Wachposten bei Massenerschießungen in | |
dem KZ eingesetzt worden sein soll. Das Gericht entschuldigte sich mit | |
Arbeitsüberlastung. | |
Auschwitz: Elf Monate brauchte das Landgericht Mannheim, um festzustellen, | |
ob es die Anklage gegen einen 95 Jahre alten Mann zulässt, der 1942/43 als | |
Wachmann im Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz Dienst getan | |
hat. In der letzten Woche folgte endlich die Entscheidung: Der Beschuldigte | |
ist nach einem medizinischen Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig. | |
Und auch im Fall von Ermittlungen gegen mutmaßliche Täterinnen im KZ | |
Ravensbrück hat sich bisher nicht viel bewegt – trotz des Engagements der | |
Staatsanwaltschaft Neuruppin. Diese ermittelt seit 2017 und 2018 gegen | |
insgesamt acht Beschuldigte. | |
Von diesen sind inzwischen drei verdächtige Frauen verstorben, eine weitere | |
gilt als verhandlungsunfähig. Die vier verbliebenen Verdächtigen seien bis | |
Ende Januar 2019 noch nicht befragt worden, sagte der zuständige | |
Oberstaatsanwalt Wilfried Lehmann der taz. | |
## Priorisierung nicht vorgesehen | |
Er hat im letzten Herbst ein Sonderdezernat gegründet, um die Ermittlungen | |
zu beschleunigen. Die Beschuldigten im Alter von 94 bis 96 Jahren leben in | |
Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bayern. „Wir stehen unter Zeitdruck“, | |
sagte Lehmann, der hofft, dass es bald endlich zu ersten Vernehmungen | |
kommt. | |
„Empörend“ nennt Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des | |
Internationalen Auschwitz-Komitees, die lange Verfahrensdauer. Auch | |
Holocaust-Überlebende würden sich darüber beklagen. „Man lässt die Leute | |
einfach sterben“, klagt Heubner gegenüber der taz und spricht von | |
„Desinteresse der Justiz“. | |
Staatsanwalt Rommel von der Zentralen Stelle mochte die offenkundige | |
Langsamkeit mancher Justizorgane nicht kommentieren. Eine Priorisierung von | |
Fällen aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Verdächtigen sei im | |
bundesdeutschen Recht nicht vorgesehen, sagte er. | |
Die Zentrale Stelle bemühe sich schon bei ihren Vorermittlungen darum, | |
herauszufinden, ob der Angeklagte erkrankt ist. Diese Hinweis werden an die | |
einzelnen Staatsanwaltschaften weitergegeben. | |
## Ein absehbares Ende | |
Nur in zwei Fällen konnten seit 2011 frühere SS-Männer verurteilt werden. | |
Der Auschwitz-Kassenwart Oskar Gröning erhielt 2015 vom Landgericht | |
Lüneburg eine vierjährige Haftstrafe. Reinhold Hanning, ein | |
Auschwitz-Wachmann, wurde im folgenden Jahr zu fünf Jahren Haft verurteilt. | |
Die Zentrale Stelle hat sich bei ihren Ermittlungen eine Altersgrenze von | |
99 Jahren auferlegt. Ältere Verdächtige werden nicht verfolgt, zumal vom | |
Ermittlungsbeginn bis zu einer Verurteilung und einer möglichen Revision | |
selbst im günstigsten Fall mehrere Jahre vergehen. | |
Da die Beschuldigten zum Tatzeitpunkt – spätestens 1945 – mindestens 18 | |
Jahre alt sein müssen, lässt sich ausrechnen, wann die Ludwigsburger | |
Ermittlungsstelle gegen NS-Verbrecher ihre Pforten schließen muss: | |
Spätestens im Jahr 2026 ist Schluss mit der juristischen Aufarbeitung der | |
NS-Verbrechen. | |
26 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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