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# taz.de -- Prozesse gegen mutmaßliche KZ-Aufseher: Die Täter sterben aus
> Der Prozess gegen einen Ex-SS-Mann steht auf der Kippe: Der 95-Jährige
> ist schwer erkrankt. Das ist symptomatisch auch für andere Verfahren.
Bild: Der Angeklagte im November vor dem Landgericht Münster
Stutthof/Münster taz | Die Wachtürme stehen am Rande des mit Stacheldraht
gesicherten Geländes. Sie sind aus dunklem Holz. Eine Leiter führt zur Tür
im Obergeschoss, hinter der sich ein Raum befindet, der nach allen Seiten
einen guten Blick auf das Gelände bietet – die Baracken, den Draht und das
umliegende Gelände.
In diesen Türmen tat auch Johann R. seinen Dienst, von 1942 bis 1944 im
Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig. R. konnte auf die
ausgemergelten Gefangenen blicken, er roch die Ausdünstungen des
Krematoriums in der Nähe der Türme, und er nahm an den geselligen Abenden
für das Personal teil, die im Gasthof Gerber im nahen Dorf Stutthof
stattfanden, so etwa an der Heldengedenkfeier am 12. März 1944. „Noch mehr
zusammenhalten, niemals untreu werden, noch mehr arbeiten und vor allem
niemals feige werden“, gab der KZ-Kommandant die Parole für seine SS-Männer
aus.
Johann R. will keinen einzigen Toten während seiner Dienstzeit im KZ
erblickt haben. In Stutthof aber starben bis zum Kriegsende etwa 65.000
Gefangene.
Als Johann R. seinen Dienst beim SS-Totenkopfsturmbann antrat, war er 18
Jahre alt. Heute steht er in seinem 96. Lebensjahr und muss sich vor dem
Landgericht Münster der Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen
verantworten. Seine Tätigkeit als Wachmann habe dazu beigetragen, das
systematische Morden in dem KZ zu ermöglichen, so lautet die Anklage.
## Herzkrank und verhandlungsunfähig
Doch es könnte sein, dass der Angeklagte straffrei bleibt. Nicht, weil ihm
eine Beihilfe zum Mord nicht nachgewiesen werden kann, sondern weil Johann
R. seinem Verfahren nicht mehr folgen kann. Am Donnertag beschloss das
Gericht, dass der Prozess vorläufig ausgesetzt wird. Johann R. liegt wegen
einer schweren Herz- und Nierenerkrankung in einer Klinik und gilt deshalb
als verhandlungsunfähig.
Ein medizinischer Gutachter soll ihn im Januar erneut untersuchen. Die
Chancen für eine Genesung stehen nicht gut: Ein Gutachter sagte am
Donnerstag, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass sich der Mann erhole.
Es wäre der erste Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher seit
vielen Jahren, der wegen der Verhandlungsunfähigkeit vorzeitig endet. Doch
die Umstände des Münsteraner Verfahrens sind symptomatisch für die Versuche
der deutschen Justiz, jetzt endlich die Verantwortlichen für den
millionenfachen Mord in Lagern des Nazi-Regimes zu belangen. Den Ermittlern
sterben ihre Beschuldigten weg.
## Fälle in Hanau, Erfurt und München
Im hessischen Hanau war vor gut zwei Jahren schon alles vorbereitet für das
Verfahren gegen einen 93-Jährigen, der als Wachmann in Auschwitz Dienst
getan haben soll. Doch wenige Tage vor dem geplanten Prozessbeginn starb
der Angeklagte eines natürlichen Todes. In Erfurt ermittelt die
Staatsanwaltschaft derzeit gegen ehemalige SS-Angehörige, die in Buchenwald
Dienst getan haben sollen. Die Recherchen gegen einen Teil der
Beschuldigten mussten inzwischen eingestellt werden – sie gelten als nicht
mehr verhandlungsfähig. In München musste die Staatsanwaltschaft vor einem
Jahr ein Verfahren gegen Christel R. einstellen, die als Telefonistin in
Stutthof gearbeitet hatte. Die 92-Jährige war verstorben.
Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im
baden-württembergischen Ludwigsburg hat vor wenigen Tagen ihr 60-Jähriges
Jubiläum begangen. Dort werden die Vorermittlungen vorgenommen. Anhand von
Listen mit KZ-Personal überprüfen die Ermittler, ob Beschuldigte überhaupt
noch am Leben sind und was während ihres Einsatzzeitraums im
Konzentrationslager geschehen ist.
Die Ermittler müssen klären, ob sich eine „systematische Ermordung
nachweisen lässt“, sagt dazu der Leiter der Ludwigsburger Behörde,
Oberstaatsanwalt Jens Rommel. „Im 95 Prozent der Fälle sind die mutmaßlich
Beschuldigten verstorben“, sagt er.
## Je älter desto kränker
Bei einem Anfangsverdacht gehen die Informationen an die örtlichen
Staatsanwaltschaften, die ihrerseits eine Anklageerhebung prüfen. Doch in
den allermeisten Fällen kommt es gar nicht erst zur Anklage – die
mutmaßlichen Mörder sind zu hinfällig. „Dieses Risiko erhöht sich mit
wachsendem Alter dramatisch“, sagt Rommel.
Die reichlich späte Ermittlungswelle gegen KZ-Greise ist Ergebnis einer
veränderten Rechtsauffassung. Jahrzehntelang galt der Grundsatz, dass nur
verurteilt wird, wem ein individueller Mord nachgewiesen werden kann. So
entkamen Tausende SS-Männer einer Verurteilung. Erst im Prozess gegen den
Sobibor-Mann Iwan Demjanjuk urteilte das Münchner Landgericht vor sieben
Jahren, dass die Anwesenheit in einem Todeslager zu einer Verurteilung
ausreichen kann. Der Bundesgerichtshof billigte diese Entscheidung in einem
ähnlich gelagerten Fall.
Noch werden weitere Prozesse vorbereitet. Derzeit gibt es nach Rommels
Angaben neben den Verfahren gegen Johann R. in Münster bundesweit vier
Anklagen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Doch das endgültige Ende der
juristischen Auseinandersetzung mit den Nazi-Morden ist absehbar. Die
biologische Uhr tickt.
Vielleicht 2025, vielleicht ein Jahr später dürfte die Zentrale Stelle in
Ludwigsburg ihre Ermittlungen einstellen, das geht aus Äußerungen aus dem
baden-württembergischen Justizministerium hervor. Die
Nazi-Ermittlungsbehörde soll zu einer Archiv- und Gedenkstätte umgewandelt
werden. Die letzten Täter wären dann mindestens 100 Jahre alt.
13 Dec 2018
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
KZ Stutthof
Prozess
SS
Nazis
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Auschwitz
John Demjanjuk
KZ Stutthof
KZ Stutthof
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Auschwitz-Prozess
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