# taz.de -- Streit in der Union: Merkels strategische Fehler | |
> Die Kanzlerin hat auf die Provokation von Seehofer falsch reagiert – und | |
> sich damit selbst unnötig in eine hoch anfällige Lage gebracht. | |
Bild: Sie hätte ihn ins Leere laufen lassen können: Bundeskanzlerin Merkel un… | |
Angela Merkel ist in einer verdammt schwierigen Situation. Wenn sie bis zum | |
Wochenende keine Ergebnisse liefert, die der CSU genügen, könnte eine | |
gefährliche Kaskade in Gang kommen. Innenminister Seehofer würde an der | |
deutschen Grenze gegen ihren Willen Flüchtlinge zurückweisen, die bereits | |
in einem anderen EU-Staat registriert waren. Merkel würde ihn anweisen, das | |
zu unterlassen. Er würde sich weigern, sie würde ihn rauswerfen, die CSU | |
würde die Regierung verlassen. Das Chaos wäre perfekt. | |
Doch Merkel hat sich diese Lage zumindest teilweise selbst eingebrockt. Sie | |
hat die Provokation Seehofers äußerst ungeschickt angenommen und sich so in | |
eine Abhängigkeit von der CSU gebracht, auf deren Gutmütigkeit und | |
Kompromissfähigkeit derzeit niemand rechnen kann. Sie hätte anders | |
reagieren können und müssen, als Seehofer in seinen [1][Masterplan zur | |
Migration] die Zurückweisungen an der Grenze aufnahm. Die taz erläutert | |
Merkels sechs strategischen Fehler. | |
## Erster strategischer Fehler | |
Merkel hat Seehofer nicht an seine Pflichten erinnert. Eigentlich sollte | |
der Masterplan vor allem erläutern, wie die von der CSU im | |
Koalitionsvertrag durchgesetzten Ankerzentren funktionieren sollen. Diese | |
waren selbst bei von der Union regierten Ländern unbeliebt, weil die | |
Ansammlung von über tausend perspektivlosen Flüchtlingen in | |
Großeinrichtungen als Sicherheitsrisiko gilt. | |
Seehofer hatte wohl gemerkt, dass die CSU hier ein Eigentor geschossen | |
hatte und wollte deshalb mit den Zurückweisungen einen neuen Konflikt | |
auslösen. Das ist ihm gelungen. Von den Ankerzentren redet derzeit kaum | |
noch jemand. | |
Es wäre deshalb klüger gewesen, Seehofer den Masterplan veröffentlichen zu | |
lassen, damit seine Pläne zu den Ankerzentren breit diskutiert (und | |
verrissen) werden können. Merkel hätte dann Nachbesserungen einfordern | |
können, schließlich sind die Ankerzentren laut Koalitionsvertrag ein | |
zentraler Bestandteil der Regierungspolitik. Seehofer wäre erstmal in der | |
Defensive gewesen. | |
## Zweiter strategischer Fehler | |
Merkel hat die Zurückweisungspläne zu ernst genommen. Indem sie Wohl und | |
Wehe des Masterplans von diesem einen Punkt abhängig machte, hat sie ihm | |
eine Bedeutung verliehen, die ihm nicht zwingend zukommen musste. Nachdem | |
sie die Umsetzung der Pläne später auch noch zur Frage ihrer | |
Richtlinienkompetenz als Kanzlerin machte, hat sie sich endgültig in eine | |
Er-oder-ich-Position manövriert. | |
Warum hat Merkel nicht gelassener reagiert? Sie ist doch in einer starken | |
Position. Sie hätte Seehofer daran erinnern können, dass Zurückweisungen | |
gerade nicht Teil des Koalitionsvertrags sind und dass sie sogar gegen | |
EU-Recht verstoßen. Sie hätte dann hoffen können, dass die Einführung von | |
Zurückweisungen an den lediglich drei bestehenden festen Kontrollpunkten an | |
der deutsch-österreichischen Grenze wenig Auswirkungen hat, weil die | |
Flüchtlinge dann eben andere Übergänge oder die grüne Grenze nutzen. | |
Eventuell hätte es sogar schnell erste Eilbeschlüsse von | |
Verwaltungsgerichten gegeben, dass die Zurückweisungen rechtswidrig sind | |
und die Flüchtlinge vorerst einreisen können, um in Deutschland den für das | |
Asylverfahren zuständigen EU-Staat zu ermitteln. In diesem Rahmen wäre | |
Seehofers Zurückweisungspolitik nur ein neuer Rohrkrepierer geworden. | |
## Dritter strategischer Fehler | |
Merkel hätte Seehofers Ziele nicht übernehmen dürfen. Indem die Kanzlerin | |
Mitte Juni versprach, auch sie wolle „illegale Migration“ reduzieren, hat | |
sie das Szenario der CSU, wir hätten derzeit eine Systemkrise, die nur | |
durch radikale einseitige Maßnahmen beendet werden kann, völlig unnötig | |
bestätigt. | |
Die Flüchtlingslage ist längst nicht mehr so angespannt wie in der | |
Vorjahren. Es gab keinen Grund, dass Merkel nun faktisch [2][die | |
CSU-Parole] von der absolut notwendigen „Asylwende“ übernimmt. Schließlich | |
hat die CSU den Maßstab für das, was Deutschland leisten kann sogar in den | |
Koalitionsvertrag geschrieben: die Aufnahme von 180.000 bis 220.000 | |
Menschen pro Jahr. Nach den bisher vorliegenden Zahlen wird sich die Zahl | |
der Asylbewerber in Deutschland genau in diesem Korridor bewegen. | |
Es hätte völlig genügt, wenn Merkel hieran erinnert hätte. Verfehlt ist in | |
diesem Kontext übrigens auch der Terminus „illegale Migration“, den | |
Rechtsradikale für jede Form von Fluchtbewegung benutzen. Natürlich haben | |
Flüchtlinge in der Regel kein Visum zur Einreise. Wer sie aber darauf | |
reduziert, macht Opfer zu Tätern. Auch mit dieser inakzeptablen Wortwahl | |
hat Merkel unnötig das Setting der CSU übernommen. | |
## Vierter strategischer Fehler | |
Merkel setzte sich unnötig ein völlig unrealistisches Ziel. Wenn sie die | |
Zahl der Asylverfahren in Deutschland reduzieren will, heißt das im | |
Umkehrschluss, dass andere EU-Staaten mehr Asylverfahren durchführen | |
müssen. Sie müssten also bei Anerkennung mehr Flüchtlinge integrieren und | |
bei Ablehnung deren Abschiebung organisieren (was bekanntlich schwierig | |
ist, wenn die Herkunftsstaaten nicht kooperieren). | |
Nun kann man es für eine Fehlentwicklung halten, wenn fast alle, die nach | |
Deutschland einreisen (um den EU-Staat festzustellen, der fürs | |
Asylverfahren zuständig ist), am Ende ein Asylverfahren in Deutschland | |
erhalten. Von 200.000 Asylantragstellern wurden 2017 nur 7.000 an andere | |
EU-Staaten überstellt – obwohl fast alle durch einen anderen EU-Staat nach | |
Deutschland einreisten und zumindest 60.000 auch dort mit Fingerabdrücken | |
registriert wurden. | |
Wenn die CSU sagt, sie will europäisches Recht durchsetzen, dann meint sie | |
die Dublin-III-Verordnung. Bei deren strenger Anwendung fände am Ende aber | |
kaum ein Asylverfahren in Deutschland statt, sondern fast alle in den | |
Staaten der EU-Außengrenzen. | |
Dass diese Dublin-III-Verordnung zutiefst ungerecht ist, ist heute | |
allgemein anerkannt. Deshalb wird seit Jahren über einen anderen | |
Verteilungsmodus verhandelt, was aber daran scheitert, dass Staaten wie | |
Ungarn jede Quotenregelung ablehnen. Indem Deutschland relativ großzügig | |
Asylverfahren durchführt, für die es eigentlich nicht zuständig wäre, sorgt | |
es dafür, dass das Dublin-System übergangsweise weiter angewandt werden | |
kann. Die Migranten werden an den Außengrenzen – anders als 2015 – wieder | |
registriert und nicht einfach durchgewunken. | |
Derzeit finden knapp ein Drittel aller EU-Asylverfahren in Deutschland | |
statt. Das ist angesichts der Größe, Wirtschaftskraft und Akzeptanz in | |
Deutschland nicht unverhältnismäßig. Etwas anderes käme wohl auch bei einer | |
Quotenregelung in einer neuen Dublin-Verordnung nicht heraus. | |
Dagegen setzt eine Reduzierung dieses Anteils voraus, dass Staaten an der | |
EU-Außengrenze, die sich durch das Dublin-System ohnehin übervorteilt | |
fühlen, mehr Asylverfahren übernehmen. Dazu werden sie aber nicht bereit | |
sein und die geplante Reform des Dublin-Systems wird durch eine solche | |
deutsche Haltung auch unnötig belastet. Merkel behindert also selbst eine | |
europäische Lösung, indem sie die CSU-Ziele übernimmt. | |
## Fünfter strategischer Fehler | |
Neue Rückübernahmeabkommen mit anderen EU-Staaten sind nicht erforderlich. | |
Merkels Ankündigung, sie wolle [3][bilaterale Abkommen mit Staaten wie | |
Italien] abschließen, ist nur schwer nachvollziehbar. Italien muss der | |
Rücknahme von Flüchtlingen, für deren Asylverfahren es zuständig ist, nicht | |
erst in neuen Abkommen zustimmen. Vielmehr ist dies bereits zentraler | |
Gegenstand der Dublin-III-Verordnung. Und zumindest auf dem Papier scheint | |
Italien dazu auch bereit. | |
2017 hat Deutschland 22.706 Dublin-Übernahmeersuchen an Italien gestellt, | |
davon hat Italien in 21.264 Fällen zugestimmt, also fast immer. Trotzdem | |
kam es nur 2.110 Fällen tatsächlich zur Überstellung. Möglicherweise hat | |
Deutschland Fristen nicht eingehalten, möglicherweise haben Gerichte | |
interveniert, weil die Zustände für Flüchtlinge in Italien | |
besorgniserregend sind. Die Regierungs-Statistik lässt dies offen. | |
Ein separates Verwaltungsabkommen mit Italien ist nach der | |
Dublin-III-Verordnung zwar möglich, aber nur um „die Vereinfachung der | |
Verfahren und die Verkürzung der Fristen“ festzulegen. Eine Verkürzung der | |
Fristen ist aber eher nicht im deutschen Interesse, wenn man schon mit | |
einer Sechs-Monats-Frist organisatorisch überfordert ist. | |
Der Verweis auf entsprechende Abkommen zwischen Frankreich und Italien geht | |
ebenso fehl. Erstens haben diese beiden Staaten eine gemeinsame Grenze, da | |
ist manches einfacher, weil für die Überstellung kein Flug organisiert | |
werden muss. Außerdem sind auch diese Abkommen rechtlich hoch umstritten, | |
weil die vorgesehenen Schnell-Überstellungen den Betroffenen keine Chance | |
auf Rechtschutz lassen. | |
## Sechster strategischer Fehler | |
Merkel verweist Seehofer nicht auf seine Möglichkeiten. Selbst wenn man | |
findet, dass etwas mehr Flüchtlinge nach Italien überstellt werden müssten, | |
um die Akzeptanz der europäischen Zusammenarbeit in Deutschland zu erhöhen, | |
dann hätte Seehofer als Innenminister genügend Möglichkeiten, selbst dafür | |
zu sorgen. | |
Schließlich werden die Dublin-Verfahren, bei denen der zuständige EU-Staat | |
festgestellt wird, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) | |
durchgeführt. Und für das BAMF ist Seehofer zuständig. Wenn die Verfahren | |
dort zu langsam und nachlässig geführt werden, dann könnte Seehofer dafür | |
sorgen, dass sie beschleunigt werden. | |
Für die eigentliche Überstellung (Abschiebung) nach Italien sind dann zwar | |
die Länder zuständig. Aber der Bund hat schon oft seine Hilfe angeboten. | |
Faktisch werden Abschiebeflüge auch vom Bund koordiniert. Auch hier ist | |
also Seehofer der Zuständige, nicht Merkel. Soweit Überstellungen an | |
gerichtlichen Interventionen wegen der Zustände in Italien scheitern, | |
könnte Seehofer ja seinen Innenminister-Kollegen Matteo Salvini, mit dem er | |
eine [4][„Achse der Willigen“] bilden will, von der Einhaltung europäischer | |
Standards überzeugen. Merkel hätte Seehofer auf seine eigenen Optionen | |
hinweisen können – statt sich selbst unerfüllbare Aufgaben zu setzen. | |
26 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Geheim-Papier-Masterplan-Migration/!5514377 | |
[2] /Rechte-Kampfbegriffe-zu-Migration/!5513699 | |
[3] /EU-Sondergipfel-zur-Asylpolitik/!5515431 | |
[4] /Fluechtlingsstreit-in-Union/!5510594 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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