# taz.de -- Stockholmer Restaurant „Brutalisten“: Des Kaisers neue Teller | |
> Im Restaurant „Brutalisten“ in Stockholm ist pro Gericht nur eine Zutat | |
> erlaubt. Ist das nur ein interessantes Konzept oder schmeckt es auch? Ein | |
> Besuch. | |
Bild: Drei Farben Grün: Raps mit Saaten und Öl | |
Die Aufmerksamkeitsökonomie der Großstadtgastronomie ist brutal, und | |
glücklich kann sein, wer ein Konzept hat, das in einen Halbsatz passt. Das | |
Restaurant, wo man im Dunkeln isst. Das, wo [1][über offenem Feuer gekocht | |
wird]. Das mit den „deutschen Tapas“. Das [2][Zero-Waste-Restaurant]. Das | |
Insektenrestaurant. Das, wo man unter Wasser sitzt. Und so weiter. | |
In Stockholm gibt es nun seit gut einem Jahr das Restaurant „Brutalisten“, | |
und sein Konzept ist so klar, dass man sich fragt, warum da niemand vorher | |
drauf gekommen ist: Das, wo jedes Gericht nur aus exakt einer Zutat | |
bestehen darf. Diese Idee hatte allerdings kein Koch, sondern ein | |
Installationskünstler, der Deutsche Carsten Höller, 62. In die Tate Gallery | |
baute Höller einst große Rutschen, in der Fondazione Prada in Mailand | |
hängte er Fliegenpilzskulpturen von der Decke. 2010 brachte er [3][mehrere | |
Rentiere in die Hallen des Hamburger Bahnhofs] in Berlin, man konnte auch | |
bei den Tieren übernachten. In Naturwissenschaften promoviert hat Höller | |
ebenfalls, über Geruchskommunikation zwischen Insekten. | |
Den Ursprung fand das „Brutalisten“ während der Pandemie in Höllers | |
Winterdomizil in Ghana, [4][so erzählte er es] dem Guardian. Dort erdachte | |
er sein Manifest für brutalistisches Kochen, das mehr als nur ein wenig an | |
das dänische [5][Dogma-95-Regelwerk für Spielfilme] erinnert. Ein paar | |
Auszüge: Erlaubt sind für die Zubereitung ausschließlich Salz und Wasser, | |
in der orthodox-brutalistischen Küche nicht einmal das. Wir werden als | |
brutalische Esser geboren, denn Muttermilch ist in ihrer Essenz | |
brutalistisch. Die Portionen müssen eine angemessene Größe haben. | |
Tellerdekoration ist zu vermeiden. | |
## Offen für kulinarische Weiterbildung | |
Wen kriegt man mit sowas? Nun, mich zum Beispiel. Weil Restaurants besuchen | |
für mich auch mit Neugierde, mit kulinarischer Weiterbildung zu tun hat. | |
Weil ich nie ein Freund von überwürztem Essen war, und solchem, das nur | |
nach Soße schmeckt. Und ja, auch weil bei mir die fast schon plumpe | |
Anspielung [6][an brutalistische Architektur] verfängt; wie so viele gerade | |
bin ich fasziniert von den ungeschlachten Betonmaschinen aus einer Zeit, | |
als Urbanität noch Verheißung sein durfte. Als eine Reise nach Stockholm | |
ansteht, reserviere ich direkt einen Tisch für zwei. | |
Bei unserer Ankunft werden wir äußerst zuvorkommend, aber unaufdringlich | |
empfangen – sofort fühlen wir uns wohl. Man platziert uns im kleineren Bar- | |
und Vorraum, auf dem Metalltresen stehen mehrere Stiegen Eier zum | |
Direktverkauf, dahinter ist das kleine Küchenteam konzentriert bei der | |
Arbeit. Der Raum wird dominiert von einer Höller-Skulptur, sie hängt von | |
der Decke wie ein Heizstrahler, mit mehreren Neonröhrenringen, die immer | |
wieder in anderen Kombinationen leuchten: Eine Dezimaluhr ist das, sie | |
teilt die Zeit in Hunderterschritte. Auch die Lampen auf den Tischen sind | |
von Carsten Höller, sie erinnern an Knollenblätterpilze. Er hat sie extra | |
für das „Brutalisten“ entworfen. | |
Wir bekommen [7][ein Glas Naturwein] und eine hausgemachte, fantastisch | |
unsüße brutalistische Himbeerlimonade und studieren die Karte. Die beiden | |
einzigen orthodox-brutalistischen Gerichte sind Austern und Muscheln, das | |
können wir uns auch so vorstellen. Auch die semi-brutalistischen Gerichte, | |
bei denen „ein paar“ Zutaten erlaubt sind, ignorieren wir. Der Rest ist so | |
übersichtlich, dass wir beinahe alles bestellen. | |
Beim Warten schwingt ein wenig Zweifel mit: Wenn schon das Konzept die | |
Leute anlockt, muss es dann überhaupt noch die Ausführung? Wird es gutes | |
Essen geben oder ist das hier alles nur ein Hype? Denn ein Hype ist es | |
unbestritten; die Eröffnung im Mai 2022 wurde zu einem Society-Event, unter | |
anderem der Regisseur Jonas Åkerlund und die Modedesignerin Miuccia Prada | |
waren dabei. Die Sängerin Lykke Li nennt das „Brutalisten“ einen ihrer | |
Lieblingsorte. | |
Die Vorspeisen zerstreuen meine Zweifel. Es gibt hervorragend Eingelegtes, | |
Lauch, Rhabarber, Gurke; auch eine Pflaume, die beinahe alkoholisch | |
schmeckt, so vergoren ist sie. Außerdem Kartoffelchips, aber was für | |
welche: Kartoffelteig wurde extrem dünn ausgerollt, mit geraspelten Schalen | |
paniert und dann gebacken. Das Ergebnis hat den Crunch und die Textur eines | |
Finncrisp-Knäckebrots. Und schließlich eine klare Pilzbrühe, so dicht und | |
voll im Geschmack, als würde man Waldboden trinken. | |
Ein kurzer Gang auf die Toilette, von der man dank halbverspiegelter | |
Scheiben direkt in den eigentlichen Gastraum gucken kann. Der ist wärmer, | |
mit mehr Textil eingerichtet als unser Vorraum. Aus extrem hohen Fenstern | |
blickt man auf eine zweistöckige Straßenkreuzung im Geschäfts- und | |
Bankenviertel Norrmalm. Nirgends ist Stockholm so urban wie hier. Am Platz | |
warten die weiteren Gänge. Raps, die Blätter leicht frittiert, dazu Saaten | |
und Öl. Bei der „Milchkuh“ wird das brutalistische Konzept durchaus kreativ | |
ausgelegt: neben zartem Fleisch gibt es auch Kleckse von Sahne und Butter. | |
Das alles essen wir zusammen – das ist ausdrücklich im Manifest so | |
vorgesehen, die Gäste entscheiden über die Kombinationen, nicht der | |
Chefkoch –, und auch das schmeckt richtig gut. | |
Oder will ich das nur glauben, um mir nicht einzugestehen, das ich dem Hype | |
erlegen bin? Wie bei Kunstausstellungen von großen Namen, wo alle | |
herumstehen und sich gegenseitig bestätigen: Dieser Künstler – Halleluja, | |
ein Teufelskerl! Diese Radikalität! Hier sei ihm ja mal wieder was gelungen | |
… Und niemand traut sich zu sagen, dass der Kaiser nackt ist. | |
## Ein bisschen mehr Texturen wären schön | |
Nun kommen Rind, dry-aged, gebraten und leider recht salzig. Und Wachtel, | |
Flügel, Schlegel und Kopf gegrillt auf einer Jus, dazu ein Herz und ein | |
Mini-Spiegelei. Alles davon schmeckt gut, aber so viel reines Fleisch ist | |
selbst mir zu viel. Tatsächlich hätte es hier ein Teller weniger auch | |
getan, um uns satt zu bekommen. Auf ein Dessert verzichten wir daher. | |
Das Finale lässt mich ein wenig underwhelmed zurück. So gut alles schmeckt, | |
hatte ich mir vom Konzept doch etwas mehr erwartet. Mehr Überraschungen wie | |
die Kartoffelchips, mehr Kombinationen, mehr Spielereien mit Texturen. Wie | |
das Gericht, das in einigen Kritiken beschrieben wurde, aus einem Pilz, der | |
geviertelt und dann jeweils fermentiert, geräuchert, gedämpft oder schonend | |
gegart wurde, serviert in einer Pilzessenz. Meine Begleitung wendet ein, | |
dass es doch vielleicht genau darauf ankommen kann: das perfekt gebratene | |
Stück Fleisch. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist natürlich sehr | |
brutalistisch gedacht. | |
Doch war der Kaiser deshalb jetzt nackt? Nein. Es hat geschmeckt, und war, | |
für Stockholmer Verhältnisse, nicht mal besonders teuer. Die Atmosphäre, | |
die Gastlichkeit, die Räume sind großartig. Wir hatten einen guten Abend. | |
Und die Zweifel und die daraus resultierende Beschäftigung mit den Zutaten, | |
den Zubereitungsweisen, mit Essen an sich, sind ja sogar ein Grund, | |
weswegen man Restaurants wie das „Brutalisten“ besucht. Für eine | |
Bewusstseinserweiterung im Mund. | |
25 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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