# taz.de -- Weltgrößte Hot-Pot-Restaurantkette: Werfen, garen, tunken | |
> Im Hai Di Lao gibt es chinesisches Fondue. Zum legendären Service der | |
> Hot-Pot-Kette gehört es, Einzelgästen ein Stofftier mit an den Tisch zu | |
> setzen. | |
Bild: Die Brühe simmert, das Fleisch steht bereit. Nicht im Bild: die Erdnuss-… | |
Peking taz | Die große Service-Experience beginnt in einem fensterlosen | |
Flur. Dort sitzen wir auf kleinen Hockern und müssen warten wie auf dem | |
Amt. Unsere Nummer: 161. Die Nummer auf dem Bildschirm über uns, der | |
gleichzeitig Webcam-Einblicke in den Küchenbereich gewährt: 117. Dabei | |
hatten wir sogar reserviert. | |
Um uns herum sitzt die Pekinger Mittelschicht und stört sich nicht weiter | |
an der Gesamtsituation. Im Gegenteil: Beim Warten fängt der Service an im | |
Hai Di Lao. Mitarbeiterinnen bringen Knabberkram, Gurken, Cocktailtomaten, | |
Wasser, sehr süßen Pflaumensaft und heiße Handtücher, immer und immer | |
wieder. Man kann sich Brettspiele nehmen und sich in einem Extraraum sogar | |
die Nägel machen lassen. | |
Das beste Hot-Pot-Restaurant Pekings sei das Hai Di Lao, hatte uns Ben | |
gesagt und uns gleich mitgenommen. Er ist hier Stammgast. Hot Pot oder eben | |
Huo guo – direkt übersetzt: Feuertopf – ist in China so traditionsreich wie | |
populär und quasi die chinesische Variante von Fondue. In einen Topf voll | |
heißer Brühe werden Fleischstreifen, Gemüse, Pilze … ach eigentlich alles | |
hineingeworfen, schnell gegart, wieder herausgeholt und verspeist. | |
Angeblich haben schon mongolische Reitersoldaten ihre Helme als Hot Pot | |
benutzt, die beliebteste Variante in China kommt allerdings aus der | |
südlichen Provinz Sichuan. Und von dort kommt auch Hai Di Lao. Denn Hai Di | |
Lao ist nicht bloß ein Restaurant. Es ist eine Hot-Pot-Kette. Ein | |
Hot-Pot-Riese. Der Hot-Pot-Riese. | |
Naiv-exotisierend hatte ich mir etwas „traditionell“ Eingerichtetes | |
vorgestellt, einen dampfgefüllten Raum mit Teppichen auf dem Boden und | |
Jurtenfeeling. Tatsächlich ist das Interieur unserer Filiale so steril und | |
cremefarben wie ein Raumschiff aus einem 70er-Jahre-Science-Fiction-Film. | |
Und als wir nach anderthalb Stunden endlich an unserem Tisch ankommen, | |
steht darauf auch kein verspielter Messingtopf. Die quadratische | |
Suppenschale ist pragmatisch-elegant in der Tischmitte eingelassen, und | |
unser Hot-Pot-Menü stellen wir auf einem Tablet-Computer zusammen. | |
## Mass Customization im chinesischen Turbokapitalismus | |
Dabei wählen wir zuerst die Brühe, bis zu vier Sorten lassen sich | |
kombinieren, klicken uns dann durch über 100 verschiedene Zutaten und | |
bestellen schließlich (unvollständige Aufzählung): Rind- und | |
Hammelstreifen, Lotosblume, Bambussprossen, Spinat, Champignons, Dumplings, | |
Fleischbällchen, vorgekochte Wachteleier, Chinakohl. Anschließend schickt | |
Ben uns an die Saucenbar. Die Signature-Sauce – Erdnuss-Sesam – nimmt man | |
als Basis und ergänzt sie individuell mit Toppings und Schärfe aus über 40 | |
kleineren Töpfen. Mass Customization im chinesischen Turbokapitalismus. | |
Eine Kellnerin bringt die Brühe. Und Schürzen. Und Plastiktüten für unsere | |
Smartphones, damit die Displays nicht dreckig werden. Vielleicht gibt es | |
den geschmacklich besten Hot Pot woanders, sagt Ben, aber hier gibt es den | |
besten Service. | |
Tatsächlich findet man keinen Artikel, keine Onlinerezension, keinen | |
Reiseführereintrag übers Hai Di Lao, der nicht den Service als | |
Alleinstellungsmerkmal betont. Es ist ein sich selbst verstärkendes | |
Narrativ, das der Realität standhält. Das Wasser mit Zitronenscheiben wird | |
natürlich stetig nachgeschenkt, auch die Brühe, sobald sie ein wenig unter | |
den anfänglichen Füllstand gesunken ist. Beschlagene Brillen werden | |
geputzt, leere Handyakkus aufgeladen, Geburtstags- und andere Kinder | |
umsorgt. | |
Als ich zur Toilette gehe, zeigen mir fünf verschiedene Personen den Weg, | |
und natürlich gibt es eine Handtuchanreicherin am Waschbecken. Die meisten | |
Filialen haben außerdem rund um die Uhr geöffnet. Und wer – für Hot Pot | |
eher untypisch – allein kommt, [1][bekommt ein großes Stofftier mit an den | |
Tisch gesetzt], um sich beim Essen nicht so einsam zu fühlen. | |
## Dippen, dippen, dippen | |
Nun geht es los. Ben gibt den stolzen Gastgeber und wirft erst mal eine | |
Menge Fleisch in die scharfe Brühe. Nach nur ein, zwei Minuten sind die | |
ersten Streifen gar. „Und jetzt so viel Sauce wie möglich damit dippen“, | |
sagt Ben. Ich bin etwas skeptisch, weil ich ungern den Geschmack von Essen | |
mit anderen Dingen zukleistere, aber probiere es. | |
Das Hai Di Lao – was wörtlich „Am Boden des Meeres fischen“ bedeutet, ab… | |
gleichzeitig auch so was wie „Glück“ im Sichuaner Mahjongg-Slang – ist e… | |
raketenhafte Erfolgsgeschichte. 1994 gründete Zhang Yong, Schulabbrecher | |
und einst Mitarbeiter einer Traktorenfabrik, in seiner Heimatstadt Jianyang | |
ein Restaurant mit vier Tischen. Schon damals glich er sein mangelndes | |
Essens-Know-how mit Extra-Service aus. Jeder Gast sollte wiederkommen | |
wollen. | |
Heute arbeiten für ihn mehr als 60.000 Menschen in etwa 400 Restaurants, es | |
gibt unter anderem Filialen in Singapur, Australien, Indonesien, Japan, den | |
USA und seit Kurzem auch in Europa, am Picadilly Circus. Hai Di Laos | |
Börsengang im Herbst 2018 brachte fast eine Milliarde US-Dollar ein. Zhang | |
Yong, dem inzwischen noch einige weitere Unternehmen gehören, wurde | |
anlässlich dessen [2][in einem Forbes-Porträt] als der „reichste | |
Restaurantunternehmer der Welt“ bezeichnet. | |
Unser Essen ist ein stetiger Fluss. Wir werfen Dinge in die Brühe, holen | |
Dinge aus der Brühe, tunken Dinge in Sauce, werfen neue Dinge in die Brühe | |
und essen, essen, essen und reden dabei. Über echte und falsche | |
Freundlichkeit in den USA, China, Deutschland und Indien, wo Ben gerade die | |
meiste Zeit arbeitet, und [3][über Schweizer Fondue], und dass man dort die | |
Dinge nicht in die Brühe wirft, sondern am Spieß hineinhält – so wie man in | |
vielen Ländern Europas ja auch nicht das Essen in die Mitte stellt, | |
sondern jeder seinen eigenen Teller hat. | |
## KI-Unterstützung und Roboterkellner | |
So futuristisch wie das Interieur des Hai Di Lao sind auch seine | |
Geschäftspraktiken: Laut Forbes wurde zusammen mit dem chinesischen | |
Internetkonzern Alibaba eine KI-Plattform für die Bestimmung von | |
Restaurantstandorten entwickelt, die Standortfaktoren wie | |
Bevölkerungsdichte und nahe gelegene Karaokebars berücksichtigt. Neue | |
Filialen sollen so nach nur drei Monaten bereits profitabel sein. | |
Auch die Warenlagerung wird angeblich von selbst lernenden Algorithmen | |
optimiert. Und im Herbst 2018 wurde an anderer Stelle in Peking in | |
Kooperation mit Panasonic eine Hai-Di-Lao-Filiale eröffnet, die wie ein | |
futuristisches Aquarium eingerichtet ist. Hier holen Roboterarme die | |
Zutaten aus dem Kühlschrank, und [4][niedliche Roboterkellner bringen sie | |
an die Tische]. | |
Nach gut einer Stunde sind unsere Platten immer noch nicht leer, dabei | |
haben wir, im Vergleich zu den voll beladenen Nachbartischen, recht | |
konservativ bestellt. Meine Entdeckung des Abends sind die kleinen | |
Wachteleier, sie sind innen butterweich und kochend heiß. Die größte | |
Sensation ist aber die Sauce. Ich verfeinere sie mir immer weiter am Buffet | |
und kriege schnell nicht mehr genug davon. Irgendwann, ich bin pappsatt, | |
hole ich nur noch Dinge aus der Brühe, um sie in die Sauce zu tunken. | |
Und dann kriegen wir die Rechnung. Und Wassermelonenstücke. Und | |
Pfefferminzbonbons. Und Sonnenblumenkerne. Und Zahnstocher. Beim Warten | |
fängt der Service an im Hai Di Lao, beim Bezahlen hört er noch lange nicht | |
auf. | |
16 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://qz.com/1402429/haidilao-ipo-weird-services-at-chinas-trendy-hotpot-… | |
[2] https://www.forbes.com/sites/pamelaambler/2018/09/12/meet-chinas-richest-re… | |
[3] /Das-Fondue---ein-Symbol-der-1970er/!5099290 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=sj7B0Y___c4 | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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