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# taz.de -- Die Entdeckung der Langsamkeit: Schildkröten tragen die Welt
> Unser Autor sucht in Peking nach dem Schildkrötenwesen Bíxí, findet aber
> noch ganz andere Dinge. Und ergründet dabei seine Fear of Missing Out.
Bild: Sie stehen hier schon seit vielen Jahren: Bíxís im Hof des Dong-Yue-Tem…
Der Dong-Yue-Tempel ist ein verwunschener Ort. Ein wenig rumpelig ist er,
nicht so clean und aufgeräumt wie andere Tempelanlagen und
Sehenswürdigkeiten in Peking.
In den Höfen der Anlage ist es ruhig, hier stehen alte Bäume, manche von
ihnen sind so krumm, dass sie von bunt verzierten Holzpflöcken gestützt
werden müssen. Die umlaufenden Wandelgänge bieten Einblick in Dutzende
Kammern, in denen bunte Statuen taoistische Versammlungen nachstellen,
Menschen und auch viele Fabelwesen: Wasser- und Berggötter,
Schweinemenschen, Schneckenfrauen und Dämonenfratzen ohne Rumpf, nur auf
einem Fuß stehend. Oft geht es um die Sünden der Menschen im Diesseits (das
Übliche) und ihre Konsequenzen (wer mehr böse als gute Taten verübt hat,
wird als Wasserbewohner wiedergeboren beispielsweise).
Ich bin hierhin gekommen, um nach Schildkröten zu suchen. Diesen Auftrag
hatte mir eine Kollegin mitgegeben, als ich im Sommer [1][für einen Monat
nach Peking] ging. Sie ist fasziniert von Schildkröten, [2][hatte Menschen
besucht, unter deren Dach mehr als 50 von ihnen leben], und einen
Schildkrötenforscher interviewt – „Isst, wer Schildkröten isst, in
Wirklichkeit die Zeit?“ war eine ihrer Fragen.
Und China ist ein Land, in dem die Schildkröte mythische Bedeutung erfährt,
schon seit Jahrtausenden. Da gibt es Áo, 鳌. Als in früher Vorzeit der
Wassergott Gonggong einen Kampf verloren hatte, zerschlug er vor Wut und
Verzweiflung mit seinem Kopf eine der Säulen des Himmels. Die
Schöpfungsgöttin Nüwa musste, einer Trümmerfrau gleich, das Schlamassel
reparieren. Sie tötete die riesige Schildkröte Áo, schnitt ihr alle vier
Beine ab und stützte damit Himmel und Erde.
## Die Schildkröte steht für den Norden und den Winter
Dann gibt es die Sì Ling, die vier glücksverheißenden Tiere. Das sind ein
Drache, ein Feuervogel, die Ochsen-Karpfen-Hirsch-Löwen-Chimäre Qilin, und
eben die Língguī, 灵龟, was so viel wie Geisterschildkröte bedeutet. Als
einziges der Sì Ling ist sie einem echten Tier nachempfunden. Auch unter
den Sì Xiàng, die in der chinesischen Astronomie die vier Himmelsrichtungen
symbolisieren, findet sich eine Schildkröte, eine schwarze: Xuán Wǔ, 玄武,
sie steht für den Norden und für den Winter.
Und schließlich gibt es Bìxì, 赑屃, einer der neun Söhne des Drachenköni…
ihn will ich finden. In und um Peking kann man ihm an mehreren Stellen
begegnen: im Konfuzius-Tempel beispielsweise, an der Marco-Polo-Brücke, bei
den Ming-Gräbern weit vor den Toren der Stadt. Doch ich wähle den
Dong-Yue-Tempel, denn er ist nur gut einen Kilometer von meiner Wohnung
entfernt und am Tag meiner Suche ist es 34 Grad warm. Eine trockene Hitze
ist es, die einen erdrückt, wenn nicht gerade ein leichter Wind weht.
Angemessen wäre es nun, in den Schildkrötenmodus zu wechseln: Gemächlich
zum Tempel spazieren, vielleicht noch eine Pause auf dem Weg einlegen, eine
kleine Flasche Nongfu-Spring-Wasser an einem Kiosk kaufen für zwei Yuan.
Doch ich fahre mit dem Fahrrad, mit einem dieser playmobilartigen
Leihräder, die millionenfach auf Pekings Straßen stehen. Denn ich habe es
eilig. Ich bin spät dran.
Ich habe es überhaupt oft eilig. Habe ich einmal viel Zeit, nehme ich mir
so viel vor, dass am Ende doch wenig von ihr übrig bleibt. Immer habe ich
Sorge etwas zu verpassen. Fear of Missing Out nennt man das auch. FOMO. Für
den Schildkrötenmodus reicht die Zeit dann nicht mehr.
## Von geduldiger Ungeduld und ungeduldiger Geduld
Als leicht gehetzter Mensch fiel mir schnell auf, welch erstaunlich
langsames Grundtempo Peking für eine Stadt ihrer Größe besitzt. Fast immer
ging ich schneller als alle anderen, selbst wenn ich es mal nicht eilig
hatte. Dabei sind die Menschen in Peking nicht ziellos. Sie sind nur sehr
effektiv. Sie nutzen jede Lücke beim Anstehen, schneiden jede Kurve,
schlüpfen über rote Ampeln, selbst an Kreuzungen achtspuriger Straßen. Eine
geduldige Ungeduld würde ich es nennen: Man will keine Zeit verlieren, aber
deswegen lässt man sich noch lange nicht hetzen. Wenn eine Rolltreppe
fährt, warum sollte man sie nicht benutzen?
Ich dagegen neige zu einer ungeduldigen Geduld: Selbst wenn ich es mal
nicht eilig habe, muss ich mich beherrschen, um mich von Verzögerungen
nicht reizen zu lassen. Lieber steige ich die leeren Treppen neben der
Rolltreppe hoch, als untätig herumzustehen.
Mein großes Glück bei alldem war, dass es ein langer und umständlicher Weg
war, bevor ich in Peking Leihfahrräder nutzen konnte. Die ersten beiden der
vier Wochen lief ich zu Fuß – viele, viele Schritte waren es, 253.714, sagt
meine Schrittzähler-App – und kam dem Schildkrötenmodus so ein wenig näher.
Und den braucht man, um von einer fremden Stadt auch die Details sehen zu
können.
## Die Krähe sieht nur, wer langsam geht
Nur wer langsam ist, bemerkt aus dem Augenwinkel, dass in der zur Straße
offenen Küche des Western-Mahua-Schnellrestaurant gerade Nudeln frisch
zubereitet werden, und bleibt stehen, um zu schauen. Ein Koch zieht einen
großen Klumpen Teig in immer längere, dünnere Stränge, legt sie immer
wieder aufeinander, zieht und zieht, bis am Ende nudeldünne Streifen
entstehen. Ein Wunder ist, dass es niemals reißt.
Nur wer langsam ist, hört die Krähe im Hutong neben dem Kohlenhügel
seltsame Geräusche machen und bleibt stehen, um ihr genauer zuzuhören. Ein
anderer Vogel, ein bläulich-brauner mit einem langen Schweif, kommt dazu,
streift die Krähe fast – will er die sie verscheuchen? – und lässt sich
über ihr im dichten Strang der oberirdischen Elektroleitungen nieder. Er
singt melodiöser und wechselt mehrfach die Etage. Die Krähe bleibt auf
ihrem Platz. Beide schauen in die gleiche Richtung. Was mögen sie nur
sehen?
Nur wer langsam ist, bemerkt die Besonderheiten im Pekinger Stadtmobiliar.
Die Reisigbesen etwa, die an den Wänden lehnen. Die besondere Beziehung der
Chinesen zu Feuerlöschern. Und dass die parkenden Autos oft Holzplatten vor
den Reifen stehen haben. Warum? Damit die Hunde nicht gegen die Radkappen
pinkeln.
Die Schildkröte geht auch nicht schnell. Sie ist ein langsames Tier.
Vielleicht ist sie entspannter, weil sie so lange lebt. FOMO ist letztlich
nur die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Dass man nicht ausreichend viel
sehen, machen, erfahren, erleben wird, bevor man stirbt.
## Der Körper einer Schildkröte, aber der Kopf eines Drachens
Nachdem ich mich im Dong-Yue-Tempel an den taoistischen Versammlungen satt
geguckt hatte, mache ich mich auf die Suche nach Bìxì. Zunächst finde ich
ihn dreifach nebeneinander stehend, von hinten auf eine Art Pinnwand
blickend, fast unwürdig versteckt, wie mir scheint. Der Panzer: eindeutig
eine Schildkröte, die gleichmäßige Struktur der Platten. Die Beine sind
muskulös und vom Körper abgewinkelt, wenig schildkrötenlike. Bìxìs Zähne
sind stets deutlich zu sehen, seine Nase ragt weiter vor als seine Stirn,
seine Augen sind stechend: Sein Kopf ist der eines Drachen.
Neun Söhne hat der Drachenkönig, so heißt es, alle sind halb Drachen, halb
ein anderes Wesen. Alle haben traditionell spezielle Plätze: An den Ecken
eines Dachfirsts, auf Glocken sitzend, am Griff eines Schwerts. Bìxì findet
man auf Gräbern. Er trägt meterhohe, beschriebene Stelen, die von
schlangenhaften Ornamenten gekrönt sind. Wie hier im Dong-Yue-Tempel. Aber
auch in Korea, Japan, Vietnam und der Mongolei findet man Schildkröten, die
Stelen tragen.
Es dauerte einige Zeit, um zu realisieren, woran mich das alles, diese Form
der Schnauze, die gefletschten Zähne, die tiefliegenden Augen in
Kombination mit dem massigen Panzer erinnern: An Bowser, den Oberbösewicht
der Super-Mario-Spiele, mit denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht
hatte.
## Es bleibt ein stetiges Ringen
Und es dauert noch ein wenig länger, um zu erkennen, dass das nur der
Anfang ist. Zwei ganze Höfe sind Bìxì gewidmet – offiziell natürlich den
Stelen, die er trägt. Beinahe hundert sind es, wobei manchmal die Tafel
fehlt, oder der Bìxì oder Teile von ihm. Alle schauen nach Süden, manche
grimmig, manche lächeln fast, und bilden einen verwitterten Marmorwald.
Im Dong-Yue-Tempel habe ich am Ende noch ein wenig mehr Zeit, weil ich mich
vorher gehetzt hatte. Denn das macht es für mich noch schwieriger, in
meinem ganzen FOMO-Schlamassel: Nicht nur will ich alles sehen – ich will
auch noch alles in Ruhe ansehen, den Ort wirken lassen, es genießen. Und
doch noch ganz viel anderes erleben. Vielleicht steckt in mir auch die
Mischung aus halb Schildkröte, halb Drachen. Die eine will verweilen, der
andere immer noch mehr. Es bleibt ein stetiges Ringen.
Als ich schon fast aus dem Tempel bin, es ist halb fünf, sie schließen
gleich, gehe ich doch noch einmal zurück, einen letzten Blick auf die
Schildkröten werfend. Da sehe ich erst, dass in einem Pavillon im Hof ein
weiterer Bìxì steht, der größte von allen. Sein Mund ist aufgerissen, die
Zahnreihe makellos und gerade. Fast wie die eines Menschen.
31 Oct 2019
## LINKS
[1] /Kolumne-Nullen-und-Einsen/!5606025
[2] /Schildkroeten-Rettungsstation-bei-Berlin/!5603424
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Peking
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Tierschutz
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