# taz.de -- Schildkröten-Rettungsstation bei Berlin: Opfer der Globalisierung | |
> Claudia Schulze und Oliver Hoffmann leben in einem Haus am Stadtrand von | |
> Berlin – zusammen mit über fünfzig Schildkröten in Not. | |
Bild: Frisches Gras ist eine Delikatesse für Schildkröten | |
PANKETAL taz | Ach, die Kosenamen, die im Wintergarten gerufen werden: Na, | |
Dicker? Und du erst, feiner Mann. Meine Nelli, hübsche Maus, bist ’n janz | |
schönet Mädchen. Komm, zeig dich, mein Schatz. Zärtlich umhüllen die Worte. | |
Nur: Die Tiere reagieren nicht. Wie sollten sie auch, es sind Schildkröten. | |
Dass die Tiere nicht aufschauen, nicht mit dem Schwanz wedeln wie die zwei | |
Hunde und die Katze, die hier ebenfalls leben, ist Claudia Schulze und | |
Oliver Hoffmann klar. Ihr Haus, ihr kleiner Garten mit Teich, ihr | |
angebauter Wintergarten, der Verschlag im Arbeitszimmer, wo fünf 20 bis 30 | |
Kilo schwere, 50 Zentimeter große Spornschildkröten aus der Sahelzone den | |
Winter überstehen, das ganze einfache Ensemble am Stadtrand von Berlin | |
nennen Schulze und Hoffmann ihren „Schildipark“. | |
Über 50 Schildkröten leben in diesem Einfamilienhaus in der | |
Einfamilienhaussiedling am Berliner Stadtrand, bis auf drei alle gefunden, | |
angeschleppt, abgegeben. Abgeliefert mit Sätzen wie: Kannste mal; uns war | |
nicht klar, dass die so groß werden; wir wissen nicht mehr, wohin damit; | |
die wird uns zu teuer. Schulze und Hoffmann können das Repertoire, das sie | |
zu hören bekommen, aus dem Effeff herunterbeten. Auch das haben Sie schon | |
zu hören gekriegt: „Wenn Sie sie nicht nehmen, setz ich sie aus.“ Das sei | |
dann schon wie eine Drohung, sagt Hoffmann. | |
Im Schildipark, wo alle Tiere Namen haben, landen asiatische | |
Scheidungs-Schildkröten, amerikanische im See entsorgte Schildkröten, | |
russische Nachlass-Schildkröten, griechische „Die Kinder sind aus dem | |
Haus“-Schildkröten, Tiere halt, die das ganze Elend des globalisierten | |
Kapitalismus und der ignoranten Zivilisation spiegeln, verbotenerweise | |
eingeführt, mitgebracht aus dem Urlaub, unter der Ladentheke gekauft – oder | |
ganz legal im Internet erworben, obwohl es verboten ist. | |
Und dann sind die Tiere mitunter nicht mal in Ansätzen artgerecht gehalten. | |
Sori zum Beispiel, das Schätzchen, eine südamerikanische | |
Rotkopf-Köhlerschildkröte, die Hoffmann und Schulze vor einem Jahr | |
angedient wurde, hat ihre ersten 35 Jahre in einem Schuhkarton verbracht. | |
Ihr Panzer verwachsen, ihre Muskulatur so schwach, dass sie sich nicht | |
fortbewegen konnte. „Aber es wird“, sagt Schulze. | |
Zum ersten Mal in ihrem Leben habe Sori diesen Winter einen Winterschlaf | |
gehalten, erzählt Schulze, sechs Wochen lang, seither müsse sie sich wieder | |
ans Gehen gewöhnen. Nach jedem mühsamen Schritt setzt sie ihren Panzer auf | |
dem Boden ab, stemmt ihn wieder hoch, bewegt ein Bein nach vorne, zieht den | |
Körper um den Bruchteil eines Zentimeters weiter. Sori bewegt sich | |
langsamer als langsam, aber sie bewegt sich. | |
## Die erste Schildkröte | |
Mit zweien der drei Tiere, die nicht als Notfälle ins Haus kamen, fing | |
Claudia Schulzes Schildkrötenliebe an. Sie hatte sie geschenkt bekommen, 14 | |
Jahre oder so soll das her gewesen sein, genau wissen sie es nicht mehr. | |
„Die Claudi war ja früher beim Zirkus jewesen, ist tierlieb, hat viel mit | |
Tieren jemacht“, sagt ihr Mann. Das ist Erklärung genug für das Geschenk. | |
Ostafrikanische Pantherschildkröten sind es, zwei Weibchen einer Spezies, | |
die vom Aussterben bedroht ist. Ihren Lebensraum werde immer stärker | |
bedroht, Umweltzerstörung, Besiedlung, dazu der Klimawandel. Außerdem | |
werden die Tiere gehandelt, landen in Kochtöpfen, werden gejagt, ihre | |
Panzer sind Trophäen, Obstschalen oder Lampenschirme. „Es ist nicht zum | |
Aushalten“, sagt Claudia Schulze. | |
Eigentlich haben sie und ihr Mann sich nicht träumen lassen, dass sie | |
einmal in so großen Zusammenhängen denken müssen, wo Welt und Zeit, | |
Kapitalismus und Globalisierung, Gier und Unachtsamkeit, Egoismus und | |
Tierquälerei zusammenkommen. Im Grunde sei es doch genau umgekehrt: „Wer | |
mit Schildkröten lebt, wird demütig“, sagt sie, aber auch ein ganz klein | |
wenig besessen von ihnen. Sie: „Es gibt sie Millionen Jahre länger als den | |
Menschen.“ Und er: „Man sollte sowieso Demut vor der Natur haben; die Tiere | |
sind doch überall am Arsch.“ | |
Eines Tages, genaue Zeitangaben sind bei der Erzählung nur schwer zu | |
bestimmen, seien sie im Friedrichsfelder Tierpark gewesen und mit dem | |
Pfleger ins Gespräch gekommen, und, ja, eine ostafrikanische | |
Panterschildkröte hätten sie im Tierpark auch, sagt der, leider nur ein | |
Männchen, Weibchen seien nicht zu bekommen, ein Zuchtprogramm wäre toll. | |
Schulze und Hoffmann erzählten, dass sie zwei Weibchen hätten, aber | |
weggeben – nee, komme nicht infrage. So kam das Männchen in den Schildipark | |
– und seit Neuestem gibt es zwölf Junge dazu, im Dezember geschlüpft. | |
## Ein Ost-West-Paar | |
Schulze und Hoffmann sind beide 1968 geboren. Sie Westberlinerin, er aus | |
dem Osten. „Prenzlauer Berg, Pankow war meen Kiez“, sagt er. „Mein Vater | |
war Verkehrspolizist auf der Schönhauser Allee.“ Er selbst ist technischer | |
Leiter in einem Ärztehaus, „Sie können es ‚Hausmeister‘ nennen“. Sie | |
wiederum ist seit Jahren in der Gastronomie, arbeitet im Hecht, einer | |
Kneipe am Stuttgarter Platz, im Bermudadreieck Charlottenburgs im alten | |
Westberlin. „Seit 1976 war die Kneipe keine Stunde geschlossen“, sagt sie, | |
und dass der Zirkus nur eine kurze Episode gewesen sei in ihrem Leben, als | |
sie 18 war, sagt sie auch. | |
Das mit den Tieren habe sich so ergeben, es kamen immer mehr dazu, habe | |
sich rumgesprochen. Selbst das Amt – Welches? „Ach, Amt“ –, Ordnungsamt, | |
Veterinäramt, Feuerwehr hätten angefragt, wenn sie mal wieder eine | |
Schildkröte aus einem See gefischt hätten. „Es gibt keinen See, in dem | |
nicht nordamerikanische Rot- oder Gelbwangen ausgesetzt sind.“ Invasive | |
Arten, das. „Die verdrängen heimische Fische, Kröten, Molche“ sagt | |
Hoffmann. | |
Er steht jetzt vor dem Teich, es ist spätes Frühjahr, bald müsste Panki aus | |
dem Winterschlaf aufwachen, eine nordamerikanische | |
Missisippi-Höckerschildkröte, benannt nach der Panke, einem weiteren Fluss | |
neben Havel und Spree in Berlin, in dem sie gefunden wurde. Seine Frau | |
kommt dazu. „Da, da“, ruft sie plötzlich, „da, guck doch!“ Sie hat die | |
europäische Sumpfschildkröte gesehen, die ebenfalls im Teich überwintert. | |
In dem „Da“ ist so viel Freude wie in einem Freudensprung. | |
Weil Ämter Schildkröten bei ihnen abgeben und Schildkröten gefüttert und | |
gepflegt werden müssen – „Die Grundbedürfnisse kennt man ja, Wärme, | |
Futter“, 1.000 Euro im Monat schätzt Hoffmann, kosten sie die Tiere und | |
eher würde er aufhören zu rauchen, als auf sie zu verzichten –, fragten sie | |
um öffentliche Unterstützung nach. Da riet man ihnen, einen Verein zu | |
gründen. Das taten sie 2016. Einzige Reaktion: noch mehr Anfragen. | |
## Panketal im Schildkrötenfieber | |
Aber wo die öffentliche Hand nicht hilft, helfen Vereinsmitglieder und | |
Freunde, schließlich haben noch mehr Leute einen Gartenteich. „Beim Erich | |
kamen Gelbwangen rein.“ Das Gartencenter mache auch mit und haben Tiere | |
aufgenommen. „Die Julia hat zwei Mississippi-Höcker, und da kommen noch | |
welche dazu.“ Außerdem ist jemand dabei mit einem Gehege für Russische | |
Landschildkröten und eine Familie in Storkow „hat zwei, drei Griechen, | |
zwei, drei Russen aufgenommen.“ Schildkröten sind natürlich gemeint. Die | |
Begeisterung für Schildkröten sei wie ein ansteckendes Fieber, meint | |
Schulze. In Panketal jedenfalls grassiere es. Siebzehn Mitglieder hat der | |
Verein. Eines von ihnen, eine Frau, die mit Senioren arbeitet, bringt diese | |
ab und zu in den Schildipark, „dann grillen wir hier“, sagt Hoffmann. Ein | |
Erlebnisausflug, das. „Wenn ich im Sommer hier im Garten sitze, ist das wie | |
Kino. Man muss nicht fernsehen“, sagt Schulze. | |
Eigentlich sollte bei 50 Tieren Schluss sein, aber jetzt sind es schon | |
wieder ein paar mehr. Darunter ist eine riesige, 85 Kilo schwere | |
Spornschildkröte, erzählt sie zwei Monate nach dem Besuch im Frühjahr am | |
Telefon. Bei einer Wohnungsauflösung übrig geblieben. „Bei uns ändert sich | |
ständig was“, sagt sie. Ihr Mann plant ein weiteres Warmhaus. | |
Marco, ein Vereinsmitglied, ein Angesteckter – „Das ist wie ’ne große | |
Familie, wie ’ne Gemeinschaft“ –, ist vorbeigekommen. Aus dem Gespräch h… | |
er sich raus. Er will noch zu den Eseln. Denn „weil bekannt ist, dass wir | |
Tiere aufnehmen, wurden uns auch drei „Notesel“ angedient. Notesel, Esel, | |
die in Notsituationen geraten sind. Sie stehen auf einer Koppel im nahen | |
Naturschutzpark Barnim. Hoffmann träumt von Entschleunigungskursen für | |
Manager. „Versuchen Sie mal, einen Esel über einen Gullydeckel zu kriegen.“ | |
Esel sorgen für Entschleunigung und Schildkröten auch. „Sobald ich auf dem | |
Heimweg bin, geht es mir gut“, sagt Hoffmann. Und Urlaub? „Wo soll ich hin? | |
Nichts ist so schön wie zu Hause sein.“ Gut, zwei Tage Rom, das ginge, wenn | |
sein Sohn, aus einer früheren Beziehung, da ist. Weil die Tiere älter | |
werden als die Menschen, sei es gut, dass die Begeisterung in die | |
nachfolgende Generation übergeschwappt sei. Auch der Enkel sei schon mit | |
Freude dabei. Und das, obwohl es nach Stall riecht im Haus. „Und? Bei | |
anderen stinkt es nach Frittenfett“, sagt Hoffmann. | |
Obwohl die Erde noch kühl ist, holt er Sori und zwei weitere Tiere aus dem | |
Wintergarten, setzt sie ins Gras in die Sonne. Ein kurzer Moment der | |
Verwirrung, dann reißen sie ihre Mäuler auf und fressen das frische Gras, | |
nein, sie verschlingen es. Wie Weihnachten sei das für die Tiere, sagt | |
Hoffmann. | |
## Baggi wurde begattet | |
Manchmal allerdings ist das Leben im Schildipark doch aufregend. Letzten | |
Sommer nämlich, als das aus dem Tierpark geliehene Männchen tatsächlich zur | |
Tat geschritten war und Bakuba, Claudia Schulzes „Baggi“, begattet hatte. | |
Tag und Nacht mussten sie auf der Hut sein, wann sie die Eierlegen würde. | |
Wo, war klar, die Tiere hatten ja über Stunden ein Loch gebuddelt, da, wo | |
Sonne ist, wo Südseite ist, „die haben ’nen Kompass verschluckt“, sagt | |
Hoffmann. | |
Und wenn die Eier gelegt sind, schaufeln die Schildkröten das Loch wieder | |
zu. „Wir hin, graben das Loch wieder auf und holen die Eier raus, die | |
dürfen nicht gedreht werden“, erzählt Schulze. Rein in den Inkubator. Am | |
Ende mit Erfolg. Sechs Zentimeter sind die Kleinen inzwischen, 40 | |
Zentimeter können die Weibchen groß werden, die Männchen bleiben kleiner. | |
„Wir wissen noch nicht, wer was ist.“ Bis jetzt sind alle zwölf munter. Sie | |
hofft, dass sie sie durchbringt. | |
5 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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