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> BLOCKBUSTER Carsten Höllers Ausstellung „Soma“ im Hamburger Bahnhof in | |
> Berlin ist spektakulär, unterhaltsam und epigonal | |
VON GESINE BORCHERDT | |
Berlin hat einen neuen Blockbuster: Carsten Höllers „Soma“ im Hamburger | |
Bahnhof. Die Ausstellung bietet für jeden etwas – weihnachtliche Rentiere | |
für Familien, Theoriejargon für die Kunstszene und ein über allem | |
thronendes Bett für gut Betuchte, die darin für 1.000 Euro übernachten | |
können. Eine Webseite [1][www.somainberlin.de] bewirbt das Paket. | |
Für sein Spektakel ließ der habilitierte Agrarwissenschaftler Carsten | |
Höller (geboren 1961 in Brüssel), der sich auch als Künstler international | |
einen Namen gemacht hat, die ehemalige Bahnhofshalle in zwei Hälften | |
teilen. Jeweils spiegelbildlich wurde ein elegantes Gehege für insgesamt 12 | |
Rentiere, zwei überdimensionale Käfige für 24 Kanarienvögel, zwei Vitrinen | |
für 8 Labormäuse sowie Kühltruhen mit Fliegenpilzen und abgezapftem | |
Rentierurin aufgestellt. Für einen Künstler, der in der Londoner Tate | |
Modern Rutschen gebaut und gerade ein riesiges LED-Lichtfeld in Oostende | |
neu installiert hat, eine ungewöhnlich organische, wenn auch nicht weniger | |
unterhaltsame Inszenierung. | |
## Rausch und Erkenntnis | |
Ausgangspunkt der Installation ist ein mythischer Trank namens „Soma“. Laut | |
der hinduistischen Gründungsschrift Rigveda nahm ihn ein sibirisches | |
Nomadenvolk im 2. Jahrtausend v. Chr. zu sich, um im Rausch Erkenntnis und | |
Zugang zur göttlichen Sphäre, Glück, Reichtum und Siegeskraft zu erlangen. | |
Im gänzlich durchtechnisierten und säkularisierten 20. Jahrhundert begaben | |
sich emsige Forscher auf die Suche nach der verlustig gegangenen | |
Zusammensetzung dieses Wunderwassers – bis Gordon R. Wasson, Bankier und | |
Hobbymykologe, 1968 einen Forschungsbericht vorlegte, der den Fliegenpilz | |
als entscheidende Basis von „Soma“ nannte. Wasson behauptete, dass dieser | |
durch Urin gefiltert konsumiert wurde – wahrscheinlich durch Urin von | |
Rentieren, die mit den Nomaden lebten. Carsten Höller nimmt nun ein | |
vergleichendes Kunstexperiment zwischen „normaler Welt“ und „dem Reich des | |
Soma“ vor: Auf der einen Seite seines „Tableau vivant“, so darf man | |
mutmaßen, werden Fliegenpilze an die Rentiere verfüttert, deren Urin den | |
anderen Tieren verabreicht wird. Auf der anderen Seite nicht. Indem Höller | |
die Soma-Forschung in die Sphäre der Kunst rücküberführt, will er die | |
Fantasie des Betrachters anregen, der über die halluzinogene Wirkung des | |
Tranks auf die Tiere rätseln und zugleich die Beweiskraft der Wissenschaft | |
hinterfragen soll. | |
## Ein abgegrastes Feld | |
Doch ist damit der gigantische Aufwand der Schau gerechtfertigt? Wohl kaum. | |
Denn Höller begibt sich mit seinen Rentieren auf ein reichlich abgegrastes | |
Feld, stellt er doch Fragen, die sich die Wissenschaft längst selbst | |
gestellt hat: Können Experimente den Irrationalismus widerlegen? Nein, | |
lautete schon 1927 die Antwort von Niels Bohr, der mit seiner „Kopenhagener | |
Deutung“ der Quantenmechanik die Grenzen der Wissenschaft skizziert und | |
zugleich ihr mythisches Potenzial aufgedeckt hatte: Wie sollte man mit | |
einer rationalen Sprache erläutern, dass Quanten Welle und Teilchen | |
zugleich sein können? Bohr forderte sogar den Rückgriff auf die Lyrik, um | |
diesen neuen, geheimnisvollen Raum zu umschreiben. | |
In der Folge bekam das Thema Mythos wieder Konjunktur: Claude Lévi-Strauss, | |
Kurt Hübner, Karlheinz Bohrer und Roland Barthes sind nur einige der | |
einschlägigen Autoren, die sich dem Mythos als „Regulator des | |
Verständnisses von Welt und Wirklichkeit“, wie es der kürzlich verstorbene | |
Kunsthistoriker Rolf Wedewer ausdrückte, widmeten. Auch in der Kunst ist | |
der Mythos als Gegenpol zur Aufklärung, die bis heute alles Irrationale | |
bekämpft, oft verarbeitet worden. Es war vor allem Joseph Beuys, der diese | |
Tradition der Modernekritik in eine neue Avantgarde überführte. Seine | |
Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus kulminierte in einer | |
Performance in der New Yorker Galerie René Block 1974, für die er sich mit | |
einem Koyoten – dem in der indianischen Mythologie zentralen Tier – | |
einsperren ließ: So radikal kann man den Verlust von Ganzheitlichkeit | |
deutlich machen. Künstler wie Anselm Kiefer und Matthew Barney führten den | |
Gedanken fort. | |
Der didaktisch ambitionierte Aufwand, den nun Höller betreibt, wirkt | |
dagegen antiquiert. Bei seinem Versuch, den Mythos mit künstlerischen | |
Verfahren zu analysieren, bleibt er in einer durchdesignten Laborästhetik | |
stecken, die sich modisch interaktiv gibt. Dadurch wirkt Höllers „Soma“ | |
eher wie die gleichnamige Droge aus Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ | |
von 1932, in dem die Menschen alles fröhlich mitmachen. Die Schau verhält | |
sich wie die Lightversion des archaischen Tranks, der Weisheit und | |
Erkenntnis brachte, was Kunst ja gleichfalls leisten will und kann – sofern | |
sie es denn kann. | |
■ Bis 6. Februar, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, Katalog | |
15 Euro | |
1 Dec 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://www.somainberlin.de | |
## AUTOREN | |
GESINE BORCHERDT | |
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