| # taz.de -- Spielfilm „Past Lives“ über Migration: Träumen auf Koreanisch | |
| > Celine Songs Spielfilmdebüt „Past Lives“ erzählt mit genau gezeichneten | |
| > Figuren von Migration. Die Hauptfigur meistert dabei ihr versäumtes | |
| > Leben. | |
| Bild: Die Kindheitsfreunde Nora und Hae Sung treffen sich nach 24 Jahren wied… | |
| Die Geschichte beginnt mit neugierigen Blicken und einer Frage. Im | |
| schummrigen Licht einer mondänen Bar im New Yorker Stadtteil East Village | |
| sitzen drei Menschen am Tresen. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, | |
| beide mit ostasiatischem Hintergrund, unterhalten sich intensiv, während | |
| der Dritte, ein weißer Mann, daneben sitzt und schweigend in sein Glas | |
| schaut. | |
| Die Kamera beobachtet das Trio distanziert von einem der Tische gegenüber. | |
| Aus dem Off sind zwei Stimmen zu hören. Sie rätseln, wie die drei Personen | |
| wohl zueinander stehen. Sind die beiden asiatisch gelesenen Personen ein | |
| Paar oder doch Geschwister? Oder ist vielleicht der andere Mann mit der | |
| Frau zusammen? | |
| Ein Rätsel, das erst im Lauf des Films beantwortet wird. Die Anfangsszene | |
| von Celine Songs beeindruckendem, semiautobiografischen Debütfilm „Past | |
| Lives“ ist eigentlich Teil des Endes. Als Ausgangspunkt ihrer Geschichte | |
| hat die Regisseurin nach eigenem Bekunden eine Szene aus ihrem Leben | |
| genommen. Vor fünf Jahren sei sie selbst in einer Bar in East Village | |
| zwischen ihrem US-amerikanischen Ehemann und ihrer Kindheitsliebe aus | |
| Südkorea gesessen. Sie habe dabei gespürt, wie die Leute sie beobachteten | |
| und grübelten, wie die drei wohl zusammengehören. | |
| Als Song zwölf Jahre alt war, zog ihre Familie von Südkorea nach Kanada. | |
| Anfang zwanzig ging sie für ihr Theaterstudium nach New York. Dort lernte | |
| sie ihren Partner, den Autor Justin Kuritzkes, kennen. Wo in den Details | |
| die eigene Biografie aufhört und die Fiktion beginnt, sei dahingestellt. | |
| Die wahre Geschichte sei jedenfalls weniger romantisch gewesen als der | |
| Film, erzählte Song in einem Interview. „Past Lives“ darf durchaus mit dem | |
| Label „Romanze“ versehen werden. | |
| Doch der Film ist weit mehr als das. Im Grunde ist er eine bedachte und | |
| unaufgeregte Reflexion darüber, wie eigene Lebensentscheidungen und äußere | |
| Umstände die Liebe zwischen zwei Menschen ermöglichen oder auch verhindern. | |
| Geradezu beiläufig ergründet der Film auch die innere Zerrissenheit, die | |
| Menschen mit Migrationserfahrung oft in sich tragen. | |
| ## Fragen nach der eigenen Identität | |
| Celine Songs Biografie ist die Geschichte einer asiatischen | |
| Einwandererfamilie, wie sie derzeit häufiger im US-amerikanischen Kino zu | |
| sehen ist. Vor allem das Produktionsstudio A24, das für seine originellen | |
| Independent-Filme bekannt ist und auch hinter „Past Lives“ steckt, feierte | |
| mit Filmen wie „The Farewell“, [1][„Minari“] oder auch dem | |
| [2][diesjährigen Oscar-Abräumer „Everything Everywhere All at Once“] gro�… | |
| Erfolge. So unterschiedlich die Filme auch sein mögen, im Zentrum stehen | |
| immer Fragen nach der eigenen Identität als Asian Americans oder kulturelle | |
| Konflikte zwischen den Eltern und ihren in den USA geborenen Kindern. | |
| „Past Lives“ erzählt in drei Kapiteln und im Abstand von jeweils zwölf | |
| Jahren die Geschichte von Na Young und Hae Sung. Beide wachsen als | |
| unzertrennliche Schulfreund:innen in Seoul auf. Auch wenn sie mit zwölf | |
| Jahren so etwas wie romantische Liebe noch nicht kennen, spüren sie eine | |
| tiefe Verbundenheit zueinander. Doch sie werden jäh auseinandergerissen, | |
| als Na Young mit ihrer Familie nach Kanada auswandert. | |
| Zwölf Jahre später lebt Na Young (Greta Lee) als Dramatikerin in New York. | |
| Ihren koreanischen Namen hat sie inzwischen gegen den westlichen Nora | |
| eingetauscht. Auf Facebook entdeckt sie zufällig, dass Hae Sung (Teo Yoo) | |
| auf der Suche nach ihr ist. Er konnte sie wegen ihres neuen Namens nicht | |
| finden. Als sie sich in einem Videocall wiedersehen, ist die alte | |
| Verbundenheit schnell wieder da. „Ich habe dich vermisst. Das ergibt keinen | |
| Sinn“, versucht Hae Sung sein Gefühlschaos zu sortieren. | |
| Trotz Zeitverschiebung werden ihre langen, intensiven Gespräche fester | |
| Bestandteil des Alltags. Eines Tages bricht Nora den Kontakt abrupt ab. Sie | |
| möchte sich auf ihr Leben in New York konzentrieren, anstatt sich mit dem | |
| über 10.000 Kilometer entfernten Hae Sung in Träumereien zu verlieren. | |
| Weitere zwölf Jahre vergehen, bis Hae Sung immer noch angetrieben von einer | |
| diffusen Sehnsucht, die mittlerweile verheiratete Nora in New York besucht | |
| und es zu jener Szene in der Bar kommt. | |
| ## Klischees geschickt umschifft | |
| Celine Song, die auch das Drehbuch schrieb, hätte sich auf ausgetretene | |
| Romantikpfade begeben können, indem ihre Hauptfigur aus einer | |
| festgefahrenen Ehe ausbricht und sich auf ein Abenteuer mit dem einstigen | |
| Schulfreund einlässt. Sie entzieht sich jedoch geschickt diesem Klischee. | |
| Nora ist glücklich verheiratet, möchte dennoch ihre seltsame Verbundenheit | |
| mit Hae Sung verstehen. Einmal fragt ihr Partner Arthur (John Magaro), ob | |
| sie sich immer noch von ihm angezogen fühle. „Ich glaube nicht“, antwortet | |
| sie. „Aber er war in meinem Kopf so lange dieses Kind. Ich glaube ich | |
| vermisse einfach Seoul.“ | |
| Als sie Jahre zuvor in einer Artist Residency in Montauk Arthur kennenlernt | |
| und sich in ihn verliebt, erzählt sie vom In-Yun, dem koreanischen Begriff | |
| für Schicksal, demzufolge zwei Menschen, die sich über den Weg laufen, | |
| Seelenverwandte aus vergangenen Leben seien. Das würden aber Koreaner nur | |
| erzählen, um jemanden zu verführen. | |
| Auch Nora und Hae Sung könnten Seelenverwandte aus früheren Leben sein. | |
| Einzig ihre Lebensumstände verhinderten mehr. Denn was wäre, wenn Nora in | |
| Südkorea geblieben wäre, fragt Hae Sung sie in New York: „Hätte ich nach | |
| dir gesucht? Hätten wir ein Date gehabt? Uns getrennt? Geheiratet? Hätten | |
| wir Kinder bekommen?“ Fragen, auf die beide keine Antwort wissen. | |
| ## Drehbuch mit aufrichtigen Dialogen | |
| „Past Lives“ ist ein Film ohne Ecken und Kanten. Auch wenn sich der Film | |
| vor Kitsch bewahrt und nie in Rührseligkeit abrutscht, wirkt die | |
| Konstellation doch zu abgegriffen. Hier das erfolgreiche Autorenpaar in | |
| ihrer New Yorker Stadtwohnung, dort der adrette Bauingenieur aus Seoul, der | |
| aus einer Sehnsucht heraus schnell für ein paar Tage in die USA fliegt. | |
| Die Geschichte mag auf dem Leben der Regisseurin basieren, dennoch fragt | |
| man sich auch hier, wo im Kino die Liebesgeschichten derjenigen erzählt | |
| werden, die kein Geld für teure Restaurants und schicke Hotels haben. Über | |
| die werden in der Regel andere Geschichten erzählt. Dass der Film trotzdem | |
| so gut funktioniert, liegt vor allem an der grandiosen Figurenzeichnung und | |
| den tiefsinnigen und ebenso aufrichtigen Dialogen. | |
| So ist sich Arthur der für eine Romanze perfekten Dreieckskonstellation | |
| durchaus bewusst: „Was für eine gute Geschichte das ist. Eine Jugendliebe, | |
| die sich 20 Jahre später wiederfindet und erkennt, dass sie füreinander | |
| bestimmt sind. In der Geschichte wäre ich der böse weiße amerikanische | |
| Ehemann, der sich dem Schicksal in den Weg stellt.“ | |
| Auch verspürt er keinerlei Eifersucht, als Hae Sung zu Besuch ist. Vielmehr | |
| begegnet er der Verbundenheit zwischen seiner Frau und Hae Sung mit sanftem | |
| Verständnis. „Du träumst nur auf Koreanisch. Du träumst in einer Sprache, | |
| die ich nicht verstehe“, offenbart er Nora einmal wohlwissend, dass es | |
| einen Bereich in ihr gibt, zu dem er keinen Zugang hat. | |
| Nora stellt sich den eigenen Fragen über ihr (versäumtes) Leben bis zum | |
| Schluss mit aufrechter Standhaftigkeit. Nur am Ende, als sie sich von Hae | |
| Sung nach ihrem Wiedersehen verabschiedet – eine der traurigsten und | |
| zugleich schönsten Szenen des ganzen Films –, brechen sich ihre Gefühle | |
| Bahn. Es ist die zwischen Glück und Unglück gleichermaßen mäandernde | |
| Gewissheit darüber, dass sich in ihr die Wege einer verpassten und | |
| erfüllten Liebe gleichermaßen kreuzen. | |
| 16 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Obermeier | |
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